Geschichte der NS-Aufarbeitung

Eine Dialektik der Aufklärung

Eine Frau mit buntem Hut steht am 09.12.2013 in Berlin im Nieselregen zwischen den Stelen des Holocaust-Mahnmals in Berlin.
Eine Frau steht zwischen den Stelen des Holocaust-Mahnmals in Berlin. © picture alliance / dpa / Teresa Fischer
Von Arno Orzessek  · 19.08.2015
In der Adenauer-Ära wurde geschwiegen, die Neunziger waren geprägt von einer regelrechten Holocaust-Fixierung, heute herrscht ein routiniertes Gedenken: Anmerkungen von Arno Orzessek zum Umgang der Deutschen mit den NS-Verbrechen.
"Was da konkret abgelaufen ist, das ist so grauenvoll, dass man es sich eigentlich nicht vorstellen kann", konstatierte Christian Raabe, ein Nebenkläger im Frankfurter Auschwitz-Prozess. Und setzte hinzu: "Vielleicht ist das auch eine Schutzfunktion des Menschen. Vielleicht sollte man es sich auch nicht vorstellen, sonst wird man seines Lebens nicht mehr froh."
Womit Raabe ausdrückte, dass die grelle Beleuchtung der Nazi-Verbrechen im Rahmen des Prozesses auch Risiken barg: Aufklärung kann überfordern und Verdrängung provozieren.
Eben diese Dialektik der Aufklärung kennzeichnet den Umgang der Deutschen mit den Verbrechen in den Konzentrations- und Vernichtungslagern von Anfang an.
Im April 1945, unmittelbar nach der Befreiung des KZ Buchenwald, beorderte US-General Patton viele Einwohner Weimars in das nahe Lager, in dem noch die Leichen ehemaliger Häftlinge aufgestapelt lagen. Es waren drastische und erschütternde Lektionen.
Der Holocaust wurde zum Leitbild deutscher Geschichtsbetrachtung
Als es jedoch nötig wurde, die ursprünglichen Stapel mit später Verstorbenen zu rekonstruieren, brach Patton die Aktion ab. Denn angesichts des nun aufgeräumten Lagers mit den künstlichen Leichenbergen äußerten viele Weimarer den Verdacht, es habe sich von Anfang an um bloße Inszenierung gehandelt.
Auch die schockierenden Filme, die in mehreren befreiten KZs gedreht wurden, bewirkten oft genau das: Dass die Betroffenheit der Zuschauer - sei es aus Trotz oder nicht - in Propagandaverdacht umschlug und schließlich zu Gleichgültigkeit führte.
Wer sich in den 1990er-Jahren mit der NS-Geschichte befasst hat, kennt die umgekehrte Dynamik: Bei manchen Experten wurde die Holocaust-Fixierung so dominant, dass man ihnen polemisch "Shoa-Business" vorwarf.
Der intellektuelle Extremismus hing zumindest mittelbar mit dem Historiker-Streit der späten 80er-Jahre zusammen. Namentlich Jürgen Habermas hatte Ernst Noltes Ansinnen abgewiesen, den industriellen Massenmord durch die Nazis als Reaktion auf das sowjetische Gulag-System zu verstehen. Und in der Folge wurde der Holocaust zum Leitbild deutscher Geschichtsbetrachtung überhaupt - zumal in der medialen Öffentlichkeit.
Ich selbst habe mich damals gefragt, wohin mich das wohl führt: NS-Konferenz um NS-Konferenz, immer neue Shoa-Literatur, Artikel um Artikel zum schieren Grauen - kurz: ein Autoren-Dasein im Kosmos KZ.
Ein monothematisches Geistesleben erschien mir zu asketisch
Ich erinnere mich an eine Doktorandin, die sich so leidenschaftlich mit Todesmärschen befasste, dass mir der Gedanke kam: Ergötzt sich da jemand regelrecht an seinem unerschöpflichen Mitleid mit dem Leiden anderer?
Irgendwann wandte ich mit ab. Ein monothematisches Geistesleben erschien mir zu asketisch.
Berühmt wurden die patzigen Reaktionen mancher Schwergewichte. Martin Walser beklagte 1998 den notorischen Gebrauch der "Auschwitz-Keule". Und Karl Heinz Bohrer motzte, die Deutschen hätten über die verordnete NS-Fixierung jedes Verhältnis zu ihrer ferneren Geschichte verloren.
Man könnte sagen: Wovon in der frühen Adenauer-Ära, in der jede Menge Ex-Nazis ihren Platz in Verwaltung, Politik, Polizei und Justiz fanden, zu viel geschwiegen wurde - bis der Ulmer Einsatzgruppen-Prozess 1958 den kollektiven Unschuldsschlummer beendete -, davon wurde in den 90ern zu viel geredet, nicht selten zur bloßen publizistischen Profilierung.
Heute scheint die Dialektik der Aufklärung über die NS-Verbrechen zu einer stabilen Synthese geronnen zu sein: Das gut informierte, routinierte Gedenken gehört zur Staatsräson. Und die Bilder der Menschen, die sich auf den Stelen des Holocaust-Mahnmals sonnen, suggerieren Zufriedenheit mit der geleisteten Aufarbeitung - und vielleicht auch mit der internationalen Anerkennung, die Deutschland dafür zuteil wird.
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