Geschichte der Fliegerei

Wie der Mensch die Vögel überflügelte

Otto Lilienthal bei einem seiner zahlreichen Gleitflugversuche. Er steht mit einem Gleitschirm auf vor einem Abhang
Otto Lilienthal bei einem seiner zahlreichen Gleitflugversuche. © Picture Alliance / dpa
Von Gerhard Richter · 10.08.2016
Mitte des 19. Jahrhunderts entdeckte Otto Lilienthal die Gesetze des Auftriebs, sprang mit selbstgebauten Flügeln von Hügeln und starb dabei. Nur wenig später bauten die Gebrüder Wright das erste Motorflugzeug - eine Reise durch die Luftfahrtgeschichte.
Durchsage: "Meine Damen und Herren, wir begrüßen Sie an Bord des Sonderfluges 'Otto Lilienthal'. Eine Reise zurück zu den Anfängen eines Menschheitstraumes."
Bernd Lukasch: "Das Älteste, was man so finden kann, ist ein kleiner Siegelzylinder. (…) Und wenn man den in Ton abrollt, dann entsteht ein Relief, dann kann man den Hirten oder den König Etana auf einem Adler reitend sehen, wie er unterwegs ist zu den Göttern. Also die erste bildliche Darstellung der Idee, mit welchen Hilfsmitteln der Mensch denn fliegen könnte."
Die Macht des Verstandes, o, wend' sie nur an,
Es darf Dich nicht hindern ein ewiger Bann,
Sie wird auch im Fluge Dich tragen!
Otto Lilienthal, Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst. 1889
Es kann Deines Schöpfers Wille nicht sein,
Dich, Ersten der Schöpfung, dem Staube zu weih'n
Dir ewig den Flug zu versagen!
Der Mythos des Ikarus'
Der Mensch und Fliegen? Das ging Jahrtausende lang nur in der Phantasie. Rund 2.200 vor Christus ließen unbekannte sumerische Künstler den Menschen auf einem Adler reiten. Ein Bild dieses Reliefs befindet sich in Anklam, im Otto-Lilienthal-Museum. Hier sind alle frühen Träume dokumentiert, die den fliegenden Menschen zum Inhalt haben.
Berühmt ist der griechische Mythos von Dädalus und Ikarus. Vater und Sohn bauen sich Flügel aus Wachs und Federn und entfliehen so der Gefangenschaft. Doch Ikarus missachtet die Warnungen des Vaters, er fliegt zu hoch. Das Wachs schmilzt in der Sonne, Ikarus stürzt ins Meer.
"Da kommen ja schon die Vogelschwingen vor, also Vogelfedern mit Wachs zusammengehalten. Und erstaunlicherweise heißt sie ja immer Ikarus-Legende oder Ikariden-Traum. In Wirklichkeit war ja der Dädalus, der Vater, der erfolgreiche Flieger. Warum nennt man sie eigentlich nach dem nicht erfolgreichen Sohn Ikarus?"
In der europäischen Deutung steht die Figur des Ikarus für den Übermut, der von den Göttern bestraft wird.
In der nordischen Thidreks-Saga ist es Wieland der Schmied. Seine Kniesehnen werden durchtrennt, damit er den Hof von König Nidung nicht verlassen kann. Wie Dädalus und Ikarus baut sich auch Wieland Flügel aus Vogelfedern, um sich zu befreien.
"Und erstaunlicherweise mit denselben technischen Details, also was sich Lilienthal von den Vögeln abschauen musste, das Starten gegen den Wind, kommt bei Ikarus und bei Wieland vor. Allerdings sagt Wieland zu seinem Bruder Egil, gegen den Wind starten und mit dem Wind landen. Was falsch ist, und Egil legt sich dann auch auf die Nase und der Wieland sagt, hat er mit Absicht gemacht, damit er nicht übermütig wird und mit seinem Flugapparat türmt."
Luftfahrtpionier Leonardo da Vinci
Spinnereien, Mythen und Märchen. Wie die Modelle aus dem Mittelalter: Eine ganze Stadt konnte man sich da vorstellen, mit Kirche und Häusern, die von Vögeln getragen durch die Wolken schwebt. Oder Schiffe, die keine Segel haben, sondern Schaufelräder für die Luft und die durch die Höhe segeln.
Einer der ersten, der den Fliegewunsch mit technischen Überlegungen angeht, ist Leonardo da Vinci. Legendär und fast schon futuristisch sind seine Zeichnungen von Fluggeräten, die von breiten Propellern oder Luftschrauben in die Höhe gezogen werden.
"Das ist einmal der berühmte Hubschrauber oder die Archimedische Schraube, und dann sein Flügelschlag-Fluggerät. Wobei wir bei Da Vinci ja gar nicht so genau wissen, hat der überhaupt was erprobt? Er ist wahrscheinlich so der Enzyklopädist seiner Zeit gewesen, also der die Technik aufgeschrieben hat."
Auf alle Fälle hat Leonardo da Vinci fest daran geglaubt, dass die Menschen eines Tages fliegen werden. Und er hat auch eine Prognose gewagt, wie das funktionieren könnte. In seiner Vorstellung sind Mensch und Fluggerät zu einer Einheit verschmolzen, zum "großen Vogel".
"Vom Gipfel des Berges ins Tal wird sich der große Vogel erheben und er wird alle Chroniken mit seinem Werk füllen und ewiger Ruhm sei dem Orte, wo er geboren, der große Vogel. Und an dem Orte befinden wir uns. Das war der Lilienthal in Anklam."
1848 wird Otto Lilienthal geboren. Will man die Worte da Vincis benutzen, ist er der große Vogel. In den weiten luftigen Landschaften im Nordosten Deutschlands hat er den Vögeln im Pommerschen Wind die Fliegekunst abgeschaut. Aber hat sich da Vincis Prophezeiung erfüllt? Badet die 13.000 Einwohner-Stadt in ewigem Ruhm?
"Naja, wir arbeiten ja dran. Also ja, die Stadt Anklam nennt sich ja Lilienthal-Stadt. Macht auch schöne Projekte, neben dem Museum. Ist ja viel zerstört in Anklam von der ehemals würdigen Hansestadt Anklam. Und wir würden gern einen Tempel für diesen Menschheitstraum vom Fliegen machen, der hier in Anklam gut aufgehoben ist."
Otto Lilienthal - von Störchen fasziniert
Dieser geplante Tempel ist bislang eine Ruine – es ist die Nikolaikirche, mitten in der Stadt. Im Zweiten Weltkrieg bis auf die Außenmauern zerstört, Im Schatten dieser Kirche wächst Otto Lilienthal mit seinen Geschwistern auf. Die Störche faszinieren ihn.
"Ja, man weiß von Vogelbeobachtungen und auch von beschriebenen kindlichen Versuchen also den alten Ikariden-Traum. Also Bretter an die Arme gebunden, wo sie also hier vom Kugelfang am Schießplatz runterliefen. Das ist überliefert und so Experimente: Sich mal mit dem Fallschirm aus dem Fenster des ersten Stocks raus zu springen und ihre Storchen-Beobachtung und darüber haben sie gesprochen. Aber auch schon ganz komplizierte Flügelschlagapparate haben Sie versucht."
Otto Lilienthal ist Gymnasiast in Anklam, später besucht er die Gewerbeschule in Potsdam und sollte nach dem Willen seines Onkels Maschinenbauer werden. Aber die Faszination des Fliegens lässt ihn nie los. Der Schlüssel zum Flug liegt für ihn in der Funktion eines Flügels. Für Wolf Schöde von der Berlin-Brandenburg Aerospace Allianz ist Lilienthal denn auch zuallererst ein tüchtiger Ingenieur.
"Für Lilienthal ging es um die Frage des Auftriebs. Wie hält sich etwas, das schwerer als Luft ist, in der Luft. Wie geht das eigentlich physikalisch? Und der Lilienthal wollte das rauskriegen. Er hat Experimente gemacht. Er hat ganz exquisite physikalische Experimente gemacht, er war ein wirklicher Forscher."
Dem Geheimnis des Auftriebs auf der Spur
Einer seiner Messapparate für den Auftrieb steht als Nachbau im Museum in Anklam. Ein einfaches, präzises Instrument. An einer drehbaren Achse befestigt Lilienthal zwei schräge Flächen, deren Winkel er beliebig verändern kann. Ein Gewicht an einem Seil versetzt diese Flügel in immer gleiche Bewegung, und so kann er exakt messen, welcher Anstellwinkel welchen Auftrieb ergibt.
"Der Lilienthal hatte schon als Gymnasiast mit seinem Bruder und seiner Schwester angefangen, die ersten Versuche zum Auftrieb zu machen. Die Schwester musste immer die Tabellen schreiben und die beiden Brüder haben die Versuche durchgeführt. Das zeigt, dass es nicht so eine geniale Blitzerfindung war, die man hatte und anschließend war die Welt wieder eine andere. Sondern da ist zwei Jahrzehnte daran gearbeitet worden."
Mit dem Traum vom Fliegen verbindet Lilienthal zwei große Visionen.
"Das erste ist der weltumspannende Luftverkehr. Etwas, das eintraf. Wahrscheinlich schneller als Lilienthal sich das hätte vorstellen können. Und das andere: Das Flugzeug wird das Mittel zur Erlangung des ewigen Friedens werden, weil: Wenn man frei wie der Vogel über jede Grenze hinweg fliegen kann, dann machen sich Armeen am Boden einfach lächerlich."
Otto Lilienthal schließt sein Studium ab und konstruiert eine Dampfmaschine, die nicht explodieren kann. Eine willkommene Kraftquelle für Handwerker und Mittelständler, die sich das vorgeschriebene Dampfkesselhaus nicht leisten können. In seiner Berliner Fabrik baut er einige tausend Stück davon und beteiligt seine Mitarbeiter am Gewinn. Lilienthal ist ein Sozialreformer, er engagiert sich für ein Volkstheater und veröffentlicht ein wissenschaftliches Werk: "Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst." Dieses wegweisende Buch beinhaltet seine umfangreichen Berechnungen, Tragflächenprofile, selbstgezeichnete Bilder von Vögeln und deren Flügeln und sogar ein Gedicht. Lilienthal lässt einen Storch zu den Menschen sprechen. Der Vogel ermuntert die Menschen, ihm in die Lüfte zu folgen.
Doch treibt Dich die Sehnsucht, im Fluge uns gleich
Dahinzuschweben, im Lüftebereich
Die Wonnen des Flug's zu genießen,
So sieh' unsern Flügelbau, miß unsere Kraft,Und such aus dem Luftdruck, der Hebung uns schafft,
Auf Wirkung der Flügel zu schließen.
Das Otto-Lilienthal-Museum in Anklam hat eine Sammlung von 195 Briefen aus dem Umfeld des Flugpioniers digitalisiert. Die Dokumente werfen ein Schlaglicht auf den erbittert geführten Patent-Streit um die Anker-Bausteine, als deren Erfinder Otto und Gustav Lilienthal gelten. Der in Anklam geborene Otto Lilienthal gilt als Erfinder des Gleitflugs.
Der Nachbau eines Lilienthal-Gleiters aus dem Jahr 1895 im Otto-Lilienthal-Museum Anklam (Mecklenburg-Vorpommern)© picture alliance / dpa / Stefan Sauer
Aus gewachster Baumwolle und Weidenholz baut Lilienthal Flugapparate. Mindestens 21 Modelle, darunter auch Doppeldecker oder Flügelschlagapparate. So erkundet er die Gesetze des Fluges, langsam und systematisch. Sein Motto: Vom Schritt zum Sprung, vom Sprung zum Flug. Tausende Male springt er von Erhebungen und Hügel, spürt den Wind unter den Tragflächen und gleitet tatsächlich durch die Luft.
"Man konnte damit also vom Berg ins Tal gleiten. Also Lilienthal konnte 250 Meter, und sein Ziel war also: Erstens Aerodynamik, also über optimale Flügelprofile nachdenken. Das zweite Ziel war, größere Windstärken zu beherrschen."
Das Unglück am Gollenberg
Sein Erfolgsmodell, der sogenannte "Normalsegelapparat", geht 1894 in Serie. Das internationale Interesse ist enorm, die Fotografie noch ganz jung und Lilienthal ein erster Medienstar. In Zeitschriften und auf Messen wirbt Lilienthal für seinen Sport, der nichts anderes sein soll, als ein moderner Zweig des Turnens:
"Was ihn interessierte, ist der persönliche Kunstflug, wie er es auch nannte. Also die Möglichkeit, sich frei wie ein Vogel in der Luft zu bewegen. Nicht irgendwohin, sondern nach oben."
Vor den Kameras der Fotografie-Pioniere erprobt Lilienthal neue Modelle – vom 15 Meter hohen Fliegeberg in Lichterfelde bei Berlin oder am deutlich höheren Gollenberg beim brandenburgischen Stölln. Hier testet Lilienthal den sogenannten Sturmflügel, einen kompakten Flug-Apparat. Damit springt er in den warmen Sommerwind des 9. August 1896. Vor den Augen seines Monteurs und Helfers Paul Beylich.
"Und wie er ein Stück geflogen war, steht er oben in der Luft vollständig still. Und dann seh ich, wie er mit den Beinen so hin und her schlenkert, um den Apparat wieder in Bewegung zu bringen. Mit einmal kriegt der Apparat eine Neigung nach vorne, saust runter und schlägt auf. Unglück war passiert."
Lilienthal hat sich vermutlich den Halswirbel gebrochen, vielleicht ist es auch eine Hirnblutung. Er wird nach Berlin zurückgebracht und fällt unterwegs ins Koma.
Am nächsten Tag stirbt Otto Lilienthal im Alter von 48 Jahren. Er hinterlässt eine Frau, vier Kinder und ein robustes Grundlagenwerk über die Aerodynamik.
"Da waren erstmal alle geschockt. Lilienthal ist im Jahr 1896 abgestürzt und die Gebrüder Wright waren dann 1902/03 so weit, dass sie dann das Motor-Flugzeug entwickelt haben. Und dann haben sich alle da drauf gestürzt. Und das ist dann relativ schnell vorwärts gegangen. Und dann kam gleich der Erste Weltkrieg. Und da hat man natürlich das Motorfliegen benutzt, um damit den Feind zu bekämpfen."
Das Deutsche Reich verliert und darf nach 1918 keine Motorflugzeuge mehr bauen und aufsteigen lassen.
Die Flugverrückten fangen noch einmal von vorne an – mit Lilienthal'schem Pioniergeist: gleitend fliegen. Zwei lange Flügel und hinten ein Leitwerk, die Pioniere laufen damit gegen den Wind oder benutzen ein Gummiseil als Starthilfe.
"Das wurde also hinten so lange festgehalten, bis die Mannschaft vorne mit dem Gummiseil das gespannt hatte und dann auf Kommando losgelassen und dann wurde er quasi wie so eine Rakete in die Luft geschossen und musste dann gucken, dass er irgendwo im Tal einen Landeplatz fand. Das ging aber auch nur relativ kurz. Weil die dann gemerkt haben, wenn man an diesen Hängen bleibt und der Aufwind einen hochtreibt, dann kann man im Grunde im Hangwind an den Hängen so hin und her fliegen."
In den 1920-ern sind Deutsche führend im Segelflug
Durchsage: "Meine Damen und Herren, zur Linken sehen Sie die Wasserkuppe, die höchste Erhebung der Rhön, und zur Rechten – doch jetzt müssen wir leider schon landen. Entschuldigen Sie die Kürze des Fluges."
"Und auch das ist nicht lange so geblieben, irgendwann hat jemand auch mitgekriegt, man kann auch Thermik fliegen. Das heißt, wenn ich an bestimmten Stellen, wo die Luft aufsteigt, wenn ich mich dort mit dem Flugzeug halte, dann steige ich mit auf."
Flüge über mehrere Hundert Kilometer sind keine Seltenheit. Die Deutschen sind damals führend im Segelflug und machen einen Exportartikel daraus,während sich in anderen Ländern der Motorflug rasant weiterentwickelt. Lindbergh fliegt 1927 über den Atlantik, 1929 werden im Warschauer Abkommen erstmals internationale Regeln des Passagierflugs beschlossen. Ein paar Jahre später gibt es mehrtägige Luftreisen mit Zwischenstopps von England nach Australien oder von San Francisco nach Manila. Alle mit Propellermaschinen, die von Kolbenmotoren angetrieben werden.
Deutschland setzt sich über das Verbot des Versailler Vertrages hinweg und beteiligt sich Mitte der Dreißigerjahre wieder an der Konstruktion motorgetriebener Flugzeuge. Mit einer entscheidenden Neuerung: dem Strahltriebwerk, dem Antrieb durch eine Gasturbine, wodurch das Düsenflugzeug ermöglicht wird.
Das gibt der Luftfahrt einen entscheidenden Schub.
Durchsage: "Bitte schnallen sie sich an, wir setzen unseren Flug fort, und zwar schneller, als unsere Vorfahren sich erträumen konnten. Aber am Horizont tauchen Flieger auf, die keine Passagiere transportieren."
Anklam, Otto Lilienthals Stadt. 1936 wird hier eine Zweigstelle der Arado-Werke eröffnet, in der – noch immer nach den Berechnungen Lilienthals – Tragflächen und Leitwerke gebaut werden. Nicht für den völkerverbindenden Transport von Menschen.
Im Ersten Weltkrieg hatten die Militärs noch mit der Kriegführung aus der Luft experimentiert. Die entscheidenden Schlachten fanden am Boden statt. Im Zweiten Weltkrieg machen Lilienthals Erben den Menschheitstraum zu einem Albtraum für die Zivilbevölkerung. Lilienthals Geburtsstadt wird viermal bombardiert.
Kirche in Anklam soll Tempel des Traums vom Fliegen werden
Tag des offenen Denkmals. Ein paar Besucher sitzen in der Kirche an Tischen, trinken Kaffee, essen Kuchen. Im weiträumigen Kirchenschiff hängt ein Nachbau eines Flugzeugs der Gebrüder Wright. Dorothea Manthey, eine der Besucherinnen, blickt skeptisch nach oben.
"Hiermit würde ich nicht gerne fliegen, aber ich bin schon geflogen. Mein Sohn hat ein Ultraleichtflugzeug, und die Peene und die Stadt sehen fantastisch aus von oben. Ein grünes Land mit der Peene, die sich da entlang schlängelt. also wunderschön."
"O, sieh', welche Wonne hier oben uns blüht,
Wenn kreisend wir schweben im blauen Zenith,
Und unter uns dehnt sich gebreitet
Die herrliche, sonnenbeschienene Welt,
Umspannt vom erhabenen Himmelszelt,
An dem nur Dein Blick uns begleitet!
Die Kirche soll ein Ikareum werden, ein Tempel des Traums vom Fliegen. Der Turm soll wieder aufgebaut werden, und von der Spitze könnte man – gesichert an Seilen – mit einem Lilienthalschen Flugapparat aus der Höhe zur Erde hinuntergleiten. So der Plan von Bernd Lukasch:
"Man soll schon, was man nie konnte, in diesem Turm auch in den pommerschen Wind über der Stadt Anklam mal rein laufen können. Und dann vielleicht auch erleben, welcher Mut dazu gehörte, sich der Luft anzuvertrauen. "
Der Traum vom Fliegen. Die Welt aus der Vogelperspektive sehen. Mittlerweile ist das kein Abenteuer mehr, sondern Alltag für alle, die im Wohlstand leben. In einer A 380 von Airbus werden bis zu 800 Passagiere befördert. In jeder Minute sind hunderttausende Menschen in der Luft unterwegs,
Durchsage: "Besuchen sie vor dem Mittagessen noch unseren Bordshop! Es gibt zollfreie Zigaretten, Parfums und Spirituosen. Oder sehen Sie auf ihrem persönlichen Monitor die Dokumentation 'Lilienthals Träume'."
Lilienthal träumte vom "Gesellschaftsflug", vom Frieden auf Erden durch Grenzüberschreitung in der Luft. Was ist aus seinen Träumen geworden? Die Hamburger Kulturanthropologin Kerstin Schaefer beschäftigt sich damit.
"Ich habe mit einem Architekten gesprochen, als ich angefangen hab zu forschen, und der hat gesagt, dass für ihn die Flughäfen die einzigen Orte sind, an denen Weltfrieden möglich ist, weil dort so viele Nationen aufeinander treffen wie nirgendwo sonst, und es läuft friedlich ab – wo ich dann aber gedacht hab, wie ist das denn eigentlich erkauft? Das funktioniert ja nur, weil die vorher alle auf Sprengstoff durchleuchtet wurden und ihre Waffen abgeben mussten und das Flughafengebäude ein mit Kameras gespickter panoptischer Überwachungsbau ist."
Der Sprung zum Drachenflug
Traum und Wirklichkeit. Einst träumte der Mensch davon, aufzusteigen wie die Vögel und mit ihnen auf Augenhöhe zu sein.
Anklam heute. Unter der Decke der Nikolai-Kirche, ein wenig im Dunkeln, hängen Drachen.
"Wir haben, so denken wir, die größte auf der Welt existierende Hängegleiter-Sammlung. Wir haben, glaube ich, 200 Hängegleiter. Wir könnten ganz Anklam überdachen mit der Sammlung und da sind ein paar Exemplare da draus."
Dreieckige Tragflächen, manche ein wenig in Flügelform. Nicht so kunstvoll wie ein Lilienthalscher Normalsegelapparat. Aber dafür viel erfolgreicher. Drachenfliegen ist ein Trendsport geworden. Der entscheidende Entwicklungsschritt kam quasi aus dem Weltraum, erzählt Flughistoriker Claus Gerhard:
"Der entscheidende Sprung zum Drachen ist eigentlich durch einen NASA-Mitarbeiter gekommen. Diesen Francis Rogallo, der war damals bei der NASA beschäftigt und sollte ein System entwickeln, mit dem man Raumkapseln wieder zur Erde transportieren konnte. Und der ist auf diese Idee gekommen, diesen zusammenlegbaren Flügel zu machen. Lilienthal hat ja noch Weidenruten genommen, er hat Aluminiumrohre genommen und hat der also ein Kunststoffsegel drüber gespannt."
Der ganze Drache war zusammenklappbar, ähnlich einer Teppichrolle, und nachdem die Raum-Kapsel abgesprengt war, sollte sich der Flügel zu einem Dreieck öffnen und selbstständig zur Erde gleiten. Die NASA hat dieses System verworfen, aber Francis Rogallo hat sich in den 60er-Jahren daran erinnert und selbst Versuche damit gemacht. Er ließ sich mit Booten über Wasser schleppen, wegen der Sturzgefahr.
"Und von den Wassersportlern ist dann auch die entscheidende zweite Entwicklung gekommen, nämlich das so genannte Trapez. Nämlich, muss man wissen, Lilienthal hatte eigentlich große Mühe, seine Gleiter zu steuern, weil er praktisch in der Ebene der Flügel sich bewegt. Das heißt, wenn er nach links oder rechts fliegen wollte, musste er seinen Körper wie so ein Klappmesser nach der einen Seite oder auch nach vorne oder nach hinten bewegen. Das war also ziemlich eine artistische Leistung, die man auch nicht so lange überhaupt schaffen konnte. Und die neue Entwicklung, die jetzt kam, war die: dass man den Piloten unter den Flügel brachte."
Die Entschärfung des Drachenflugs
Von Australien über die Küsten Kaliforniens verbreitet sich der neue Sport. So wie Lilienthal ihn sich erträumt hat. Kunstflug mit eigener Kraft. Das Rogallo-Segel und das Trapez machen es einfach, Hänge weit hinunter zu gleiten oder im Aufwind an Steilküsten hin und her zufliegen. Mit so einem Delta-Segler steigt der Kalifornier Mike Harker 1973 auf die Zugspitze. Von dutzenden Fernsehkameras verfolgt fliegt er zwölf Minuten lang ins Tal. Die Welt staunt. Ein einfaches Segel ermöglicht ein sensationelles Flugerlebnis. Drachenfliegen wird Trendsport. Einer der ersten Schüler von Mike Harker ist Michael Schönherr:
"Ich hatte mal einen Schulungskurs, in St. Moritz gemacht mit dem Mike Harker. Und der hat abends dann auch eine Veranstaltung gehalten und sagte: Haja, das kann passieren, dass man einen Drachen in den Sturzflug bringt und nicht mehr herausbringt. Das hat er so ganz nebenbei gesagt und das hat mich schon ein bisschen erschüttert."
Tatsächlich sterben immer wieder Drachenflieger, nachdem sie mit laut flatterndem Segel ungebremst auf die Erde prallen. Michael Schönherr war damals Ingenieur für Luft und Raumfahrttechnik in Stuttgart. Über die Flugeigenschaften von Drachen gab es keine einzige Vorlesung.
Michael Schönherr nimmt den Drachen unter die Lupe, macht Fotos, Zeichnungen, fertigt Kegelmodelle, schreibt Computerprogramme. Wie Lilienthal der Vogelschwinge, so entlockt Schönherr dem Rogallo-Segel seine physikalischen Regeln für das variable Kräftespiel zwischen Windströmung, Anstellwinkel und der Kraft des Piloten.
"Und habe damit ein neues Verfahren entwickelt, das heißt: Körperverschiebungsdiagramm. Und man konnte anhand dieses Diagramms alles ablesen, was der Pilot spürt."
Über 80 Piloten aus dem In- und Ausland sind für die internationalen Deutschen Meisterschaft im Drachenfliegen vom 16.05. bis 20.05. angemeldet. Aufgabe ist es, eine bei optimalen Wetterbedingungen 100 Kilometer lange Strecke in möglichst kurzer Zeit zu bewältigen.
Ein Drachenflieger beim Start von einer Rampe auf dem Tegelberg bei Schwangau in Schwaben.© picture alliance / dpa / Karl-Josef Hildenbrand
Mit Daten aus dem Windkanal und einem selbstkonstruierten Messwagen kann Michael Schönherr die gefürchteten Flatterstürze enträtseln und das Rogallo-Segel auf einfache Art verbessern.
"Also wir machen einen Stab drunter und wenn das Segel zu weit einfällt, dann liegt es auf dem Stab auf und da kann nichts passieren. Und das war dann schon die Lösung. Diesen Stab diesen Schränkungsanschlag, habe ich erfunden und dann veröffentlicht. Es heißt heute 'Sprock' und wird bis heute eingesetzt. Das hat jeder Drachen, ausnahmslos."
Drachenfliegen in Ost und West
1976 gehören fliegende Drachen in der Bundesrepublik bereits zum Alltagsbild, vor allem in den hangreichen Regionen. Sogar in Westberlin am Teufelsberg schweben die Drachen die wenigen Meter ins Tal. Aber auch in der DDR gibt es einzelne Enthusiasten, die sich Ende der 70er-Jahre mit selbstgebauten Drachen in die Lüfte stürzen.
"Und zwar in der Rhön sind die geflogen, man glaubt es gar nicht, es waren 10 Kilometer bis zur Grenze. So etwa 15 Leute haben sich da regelmäßig getroffen und die Polizei hat da zugeschaut und alle im Dorf wussten, dass die Fliegen gehen. Und dann gab es leider einen Unfall. Ein Gerät, das war nicht richtig zusammengebaut, da sind in der Luft die Nähte auseinandergerissen. Der ist runtergefallen, der hat sich drei Rippen gebrochen, war wohl kurz bewusstlos. Und das ist dann auch den Behörden in Berlin bekannt geworden."
Die DDR Führung reagiert 1980 mit einem Verbot, weil einigen Segelfliegern die Flucht in den Westen gelungen ist. Viele Anhänger Lilienthals müssen zähneknirschend am Boden bleiben. Die Drachenflieger aus der DDR weichen hauptsächlich nach Böhmen aus, dort ist Drachenfliegen wie im übrigen Ostblock erlaubt. Allerdings muss man die Fluggeräte über die Grenze schmuggeln oder bei Freunden dort deponieren.
"Also die Fluggeräte sind bis auf ganz wenige Ausnahmen alle selbst gebaut worden. Einer hat es zum Beispiel aus der Sowjetunion mitgebracht, aber das war auch die Zeit, wo man die auch die noch selber baute. Also es gab da einen offiziellen Bauplan und da konnte jeder sich ein Gerät bauen, wenn er es schaffte, das Material zusammenzukriegen."
Die Stasi überwacht fast jeden Drachenflieger, mancher Fluchtgedanke wird erst durch diese Bedrängnis geweckt. Durch die jahrelangen, standhaften Eingaben mutiger Drachenflieger gedrängt, plant die DDR-Führung den Drachenflug zu genehmigen. Aber das ist 1989, kurz bevor die Grenze fällt.
Hobbyfliegerin mahnt zu Respekt
Durchsage: "Meine Damen und Herren, wir landen nun in der Gegenwart. In Niedergörsdorf, auf dem früheren Militärflugplatz 'Altes Lager'. Hier fliegt man noch mit Muskelkraft – Lilienthal hätte seine Freude an den heutigen Apparaten."
Mit geübten Griffen baut Katharina Dressel ihren Drachen auf, ein paar Alustangen, dünne Drahtseile und ein breite rote Kunststoffschwingen mit Segellatten. Ein solides Sportgerät für stundenlanges Gleiten in der Luft.
"Ich fliege viel und ich fliege in den Bergen und ich fliege im Flachland. Es gibt immer wieder Situationen, wo man auch Angst hat. Und man auch immer wieder seine Angst bekämpfen muss. Ich sage immer, das ist eine gesunde Angst, weil die schafft auch Respekt. Und man darf den Respekt nie verlieren."
Katharina Dressel zieht ihren blauen Overall an, die Handschuhe, den Helm. Drüben über den Wipfeln der Kiefern kreisen ein paar Vögel.
"Wir fliegen oft mit Vögeln. Weil gerade hier am Platz haben wir ganz viele Gabelweihen. Wir schauen oft, wo die Vögel gerade aufdrehen, da fliegen wir hin, weil wir wissen, dass dort Thermik ist."
Uns trägt das Gefieder; gehoben vom Wind
Die breiten, gewölbten Fittige sind,
Der Flug macht uns keine Beschwerde
"Also ich bin mal mit Geiern geflogen, in Spanien und da hat man das Gefühl, die fliegen mit einem gemeinsam. Ein eigenartiges Empfinden von Natur. Als ob Tier und Mensch irgendwie gemeinsam fliegen."
Kein Flügelschlag stört die erhabene Ruh'.
O, Mensch, dort im Staube, wann fliegest auch Du?
Wann löst sich Dein Fuß von der Erde?
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