Geschichte

Das Deutsche Kaiserreich und der Dschihad

Zehrensdorfer Ehrenfriedhof, auf dem im Kriegsgefangenenlager Wünsdorf Verstorbene Muslime, Hindus und Sikhs begraben wurden.
Zehrensdorfer Ehrenfriedhof © @Khaled Al-Boushi
Von Julia Tieke · 19.11.2014
Muslimische Kriegsfangene des Ersten Weltkrieges aus der englischen und französischen Armee sollten in eigenen Lagern auf die Seite der Deutschen gezogen werden. Es gab dort Imame, der Ramadan wurde eingehalten - und jede Menge politische Propaganda. Das "Halbmondlager" im brandenburgischen Wünsdorf sollte eine Art Vorzeige-Camp sein.
Silvio Fischer: "Das ist natürlich auch eine interessante Frage, die man sich stellt: Wie ist das, wenn man, sagen wir mal, heute in etwa am Bahnhof Wünsdorf stehen würde, von links die Kirchenglocken und von rechts der Ruf des Muezzin. Und das vor 100 Jahren, das regt die Phantasie durchaus an. Ja!"
Verabredung mit Silvio Fischer. Er ist Lokalhistoriker und leitet seit 1994 das "Museum des Teltow" in Wünsdorf, einem Ortsteil von Zossen, etwa 40 Kilometer südlich von Berlin. Thema des Gesprächs: Muslime in der Mark". So hieß eine Ausstellung, die Fischer in den 90er-Jahren gezeigt hatte.
"Das ist ja schon ein 'Hinhörer', würde ich sagen: 'Was? Muslime in der Mark? Wieso - Muslime in Berlin? Ja klar, kennen wir, wissen wir. Aber was haben die in der Mark gemacht? Und wieso in Wünsdorf? Und wieso stand hier die meines Wissens erste Moschee in Deutschland, die auch für religiöse Zwecke benutzt worden ist?' Da staunen die Leute schon, und dann fragen sie natürlich: 'Womit hängt denn das zusammen? Wie kommt denn das?'"
Die erste Moschee in Deutschland stand im "Halbmondlager", so wurde das Wünsdorfer Kriegsgefangenenlager damals genannt. Eingeweiht im Juli 1915, zu Beginn des Ramadan.
Cosima Götz hat in der Ausstellung "1914/1918" im Deutschen Historischen Museum Berlin einen Raum über Kriegsgefangenschaft kuratiert.
"Wir gehen heute aus von etwa acht Millionen Kriegsgefangenen in der Zeit des Ersten Weltkriegs, von denen die letzten erst 1922 in ihre Heimat zurückkehren konnten. Und festgehalten wurden diese Kriegsgefangenen überall auf der Welt. Da entstand tatsächlich das erste große Lagersystem des 20. Jahrhunderts.
Und um das zu zeigen, haben wir an der Kopfseite des Ausstellungsraumes eine Auswahl von Lagerorten angebracht, wo man also diese globale Dimension erahnen kann. Beispielsweise liest man da Tizi Ouzou, Chârtres, Prag, Sarajewo, Swakopmund, Osaka, Brünn oder Landau, Bautzen, Casablanca, Innsbruck, Mauthausen..."
Im Eingang zu dem Ausstellungsraum hängen Fotos, die Massen gefangen genommener Soldaten zeigen. Diese offiziellen Bilder inszenieren die Kriegsgefangenen als Kriegsbeute, signalisieren Erfolg, Sieg. Die Behandlung von Kriegsgefangenen ist seit 1907 völkerrechtlich geregelt, erläutert Cosima Götz:
"In diesen Kontext gehört auch, dass sich recht schnell eine riesige Propagandaschlacht entwickelt hat, um die Behandlung der Kriegsgefangenen - und alle Kriegsparteien den anderen vorgeworfen haben, die eigenen Gefangenen schlecht zu behandeln."
Die Sonderlager in Zossen und Wünsdorf waren Teil dieser Propagandaschlacht. Dort Internierte wurden relativ gut behandelt – der Propaganda wegen. Sie konnten beispielsweise ihre Religion ausüben.
Wünsdorf: Die Moscheestraße erinnert an die einstige Moschee
Wünsdorf: Die Moscheestraße erinnert an die einstige Moschee© @Khaled Al-Boushi
Heike Liebau und ihre Kollegin Larissa Schmid arbeiten am "Zentrum Moderner Orient" und beschäftigen sich mit den beiden Sonderlagern. Heike Liebau speziell mit den indischen, Larissa Schmid mit den nordafrikanischen Gefangenen. Sie begreifen die Lager als soziale Räume, als Orte – wenn auch unfreiwilliger – kultureller Begegnung, und interessieren sich für die Geschichten einzelner Gefangener. Heike Liebau:
"Was hat den indischen Soldaten bewegt, der aus einem Dorf im Panjab in den Krieg ziehen musste, oder eben: Was hat nordafrikanische Kriegsgefangene bewegt, die in Wünsdorf gefangen gehalten wurden?"
Vorzeige-Camp Wünsdorfer Halbmondlager
Die Wissenschaftlerinnen versuchen, den Lageralltag zu rekonstruieren. Larissa Schmid:
"Wenn man sich mit dieser Frage des Lageralltags beschäftigt und sich die Quellen dazu anguckt - wie beispielsweise Postkarten, die damals verbreitet wurden, und die eben die Moschee in Wünsdorf abbilden -, muss man sich natürlich auch immer vor Augen halten, dass all dieses Material der Zensur unterlag, und auch darauf ausgelegt war, immer dieses positive Bild vom Lagerleben, von den Muslimen darzustellen."
Das Wünsdorfer Halbmondlager war ein "Vorzeige-Camp", wie Heike Liebau sagt. Hier waren außereuropäische Kriegsgefangene inhaftiert: Inder, die für die Briten in den Krieg gezogen waren, Marokkaner, Algerier, Tunesier für die Franzosen, Tataren für die Russen, Gefangene aus anderen Kolonialgebieten. Mehrheitlich Muslime.
Zitat: "In dem uns aufgedrängten Kampfe gegen England, den dieses bis aufs Messer führen will, wird der Islam eine unserer wichtigsten Waffen werden",
schrieb der Diplomat Max von Oppenheim 1914 in einer Denkschrift, die er dem Orientliebhaber Kaiser Wilhelm II. vorlegte. Die Schrift wurde zum Leitfaden dessen, was als deutsche "Dschihad-Strategie" in die Geschichte einging.
"Dschihad" bedeutet im Arabischen "Bemühen" oder "Kampf". Das kann ein innerer sein, oder sich - als so genannter "Heiliger Krieg" - gegen einen äußeren Feind richten. Im Ersten Weltkrieg wollte man die Idee des kriegerischen Dschihad nutzen, um muslimische Soldaten der gegnerischen Seite zum Überlaufen zu bewegen, so auch die Gefangenen in Wünsdorf und Zossen.
Geschmiedet wurde diese Strategie in der Berliner "Nachrichtenstelle für den Orient", die 1914 im Auswärtigen Amt geschaffen und zunächst von Max von Oppenheim geleitet wurde. Die Nachrichtenstelle organisierte die Propaganda für die arabische Welt, Indien und den Kaukasus, und war interkulturell aufgestellt: Neben deutschen wurden auch einheimische Mitarbeiter angestellt. Man kooperierte außerdem mit Organisationen wie dem "Indischen Unabhängigkeitskomitee" in Berlin, das von dort aus anti-koloniale Aufstände plante.
Heike Liebau: "In der 'Nachrichtenstelle für den Orient' wurden Propagandamaterialien produziert, sowohl für die Regionen selbst, für die Front, und eben auch für die beiden Lager in Wünsdorf und Zossen. Und wirklich speziell für diese beiden Lager, nicht für das gesamte Lagerwesen in Deutschland."
Dschihad in einer für die Bündnisse im Ersten Weltkrieg passend gemachten Auslegung
Das Deutsche Kaiserreich war im Ersten Weltkrieg mit dem Osmanischen Reich verbündet und für die Ausrufung des Heiligen Kriegs auf den muslimischen Partner angewiesen. Im November 1914 begründete Kalif Mehmed Reschad, Sultan des Osmanischen Reiches, die Notwendigkeit dieses Dschihads mit einer Fatwa, einer islamischen Rechtsauskunft. Ein Auszug:
(Zitat) "Es ist festgestellt, dass Russland, England und Frankreich dem islamischen Kalifat feindlich sind und alle Anstrengungen machen – Allah verhüte es! -, das hohe Licht des Islams auszulöschen, indem sie auf solche Weise gegenwärtig die Hohe Stelle des islamischen Kalifats und die Kaiserlichen Länder mit ihren Kriegsschiffen und Landheeren angreifen; ist es da Pflicht sämtlicher Muslime, die sich unter der Verwaltung jener Regierungen befinden, auch gegen die erwähnten Regierungen den Glaubenskrieg zu erklären und zum tätlichen Überfall zu eilen? - Antwort: Ja!"
Eine bemerkenswerte Allianz in Zeiten, in denen der Islam noch nicht zu Deutschland gehörte: Mit den "ungläubigen Deutschen" gegen die "ungläubigen Kolonialmächte" – der Dschihad in einer für die Bündnisse im Ersten Weltkrieg passend gemachten Auslegung: Diese "islamische Rechtsauskunft" wurde auf verschiedenen Wegen verbreitet - in den Zossener Sonderlagern beispielsweise über Reden und Lagerzeitungen.
Heike Liebau: "Al Dschihad ist eine reine Propaganda-Zeitung gewesen, die von der Nachrichtenstelle für den Orient zu Propaganda-Zwecken konzipiert und produziert wurde. Sie begann Anfang 1915, ist offensichtlich 14-tägig – mal mit mehr oder weniger Abstand dazwischen – erschienen, sie ist in verschiedenen Sprachen erschienen – in Arabisch unter dem Titel 'Al Dschihad', sie ist erschienen in Turko-Tatarisch, es gab eine georgische Ausgabe, zwei Ausgaben in indischen Sprachen, in Hindi und in Urdu, wobei die indischen Ausgaben nicht den Titel 'Al Dschihad' tragen."
Auf Anraten des "Indischen Unabhängigkeitskomitees" in Berlin wurden die indischen Zeitungen "Hindustan" genannt. Die Gefühle der – ohnehin gemischt konfessionellen - indischen Gefangenen sollten darüber besser angesprochen werden. Die Zeitung für die Georgier hieß entsprechend "Kaukasien". Je nach politischer Einschätzung der Nachrichtenstelle überwogen in der Propaganda religiöse Argumente im Sinne des Heiligen Krieges, oder aber das Streben nach nationaler Unabhängigkeit.
Besonders erfolgreich war der Aufruf zum Dschihad nicht. Nur circa 1800 der insgesamt 16.000 Zossener und Wünsdorfer Kriegsgefangenen liefen über. Der Plan, im Namen des Islams zu mobilisieren, ging nicht so einfach auf. Offenbar spielte schon bei diesem Aufruf zu einem "Heiligen Krieg" nicht nur die Religion eine Rolle.
Die Propaganda hatte jedoch mehrere Ziele. Zu den kurzfristigen militärischen gehörte auch das Ziel, weltweit Aufstände gegen die Feinde anzustiften, nach dem Motto "Der Feind meines Feindes ist mein Freund". Die Vorstellung einer "Revolutionierung der islamischen Welt", das heißt die Förderung von Aufständen gegen Fremdherrschaft, war Teil einer umfassenden Revolutionierungsstrategie der militärischen und politischen Führung des Deutschen Reichs.
Das bekannteste Beispiel dieser Strategie war Lenin, dem freies Geleit aus seinem Schweizer Exil nach Russland gewährt wurde - mit dem strategischen Gedanken, dass er Russland durch Aufstände destabilisiert, dadurch militärisch schwächt und schließlich die russische Kriegsbeteiligung beendet. Ein Kalkül, das bekanntlich aufgegangen ist, mit den einschlägigen Folgen für das ganze Jahrhundert.
Im Fall Lenin ging das politische Kalkül auf. Bei der "Dschihad-Strategie" sah das anders aus.
Heike Liebau: "Insgesamt ist dann ja sehr schnell festgestellt worden, dass aus militärischer Sicht diese Strategie erfolglos ist, und man hat dann den Propagandaaspekt wahrscheinlich eher mit langfristigen Hoffnungen verbunden - und diesen Gedanken favorisiert, unter den Gefangenen eine möglichst deutschfreundliche Atmosphäre zu erzeugen, die sie dann mitnehmen würden. Weil man natürlich wusste: Nach dem Krieg werden Geschichten erzählt, und in den indischen Dörfern, in den nordafrikanischen Dörfern, werden Geschichten erzählt über die Kriegsgefangenschaft."
Das war der zweite Gedanke: Mittel- und langfristig sollten gute Beziehungen zu den Herkunftsregionen der Gefangenen auf- und ausgebaut und damit politische sowie wirtschaftliche Beziehungen enger geknüpft werden.
Moschee als "orientalische Fantasie"
So wurde das Wünsdorfer Halbmondlager das zentrale Propagandalager für muslimische Gefangene - der Ort, um Stoff für Geschichten zu liefern, um das Narrativ der "guten Deutschen" zu schaffen. Als wichtigen Teil der Erzählung kann man die Moschee betrachten, der erste Moscheebau, der in Deutschland zur religiösen Nutzung entstand. 1915 erbaut, 1929/30 abgerissen. Ein Gebäude, das die Phantasie beflügelt.
Martin Gussone: "Es ist einfach ein Bau mit einer großen Bildwirkung und Zeichenkraft, und das ist eben auch dadurch bedingt, dass es ein Propagandaobjekt war."
Martin Gussone arbeitet an der Technischen Universität Berlin und hat die Moschee bauhistorisch untersucht. Sie war ein Holzbau, in wenigen Wochen errichtet, mit einer Grundfläche von 240 Quadratmetern – für etliche tausend Kriegsgefangene.
"Da kann man sich schon denken: Die passen da nicht alle rein. Und die war zwar Tag und Nacht offen, aber die Fotos, die man aus dem Innenraum kennt, das sind eher Propaganda-Fotos, die ausgewählte Personen in inszenierten Szenen zeigen. Hauptsächlich hat man Fotos von außen, wo dann viele Menschen vor der Moschee beten, aber eben dann davor, es überwiegt also der Aspekt einer Kulissenarchitektur, es war sehr auf Außenwirkung ausgerichtet."
Die Deutschen behandeln die muslimischen Kriegsgefangenen gut: Das war die Botschaft einerseits an die Kriegsgegner, andererseits an den Bündnispartner, das Osmanische Reich. Die Adressaten des bildmächtigen Propagandaobjekts finden sich in Form von architektonischen Zitaten in der Moschee wieder.
Der Kernbau orientierte sich im Grundriss und Schnitt am Felsendom in Jerusalem, einer der heiligsten Orte des Islams.
"Hingegen dieses angebaute Minarett ist dann ein typisch osmanisches Minarett, es bezieht sich auf den türkischen Bündnispartner. Das ist sozusagen eine Art Referenz, und in der Wahrnehmung wurde es so auch als eine türkische Moschee aufgefasst, aber faktisch ist es eine Kompilation aus einer Vielzahl von Elementen."
Eine "orientalistische Fantasie" nennt Martin Gussone den Bau, der auch Formen aus indischer und nordafrikanischer Moschee-Architektur verwandte, bzw. das, was deutsche Architekten aus Bildbänden kannten.
Diese Fantasie war im Wünsdorfer Alltag kaum sichtbar, die Moschee stand schließlich mitten in einem eingezäunten Lager. Wichtig war, die Weltöffentlichkeit über die Moschee in Kenntnis zu setzen. Dies geschah über offizielle Fotografien, abgedruckt in verschiedenen Zeitungen, verschickt als beliebtes Postkartenmotiv.
Postkarten waren ein wichtiger Teil der Kriegs-Propaganda. Silvio Fischer hat im Museum des Teltow eine mehrere Ordner umfassende Postkartensammlung. Darunter befinden sich nicht nur kolorierte Fotos, sondern auch einige Karikaturen.
Silvio Fischer: "So 'ne Karikatur kann man sich halt zeichnen, wie man sie braucht, das ist natürlich noch besser."
Er weist auf eine besondere Karte hin:
"Hier ist 'ne Postkarte: 'Verdrossen nach Zossen' heißt die - und die ist zweifellos aus dem Ersten Weltkrieg und das ist eher in Form einer Karikatur und man sieht, wie hier ein zweifellos deutscher Soldat mit Pickelhaube, lässig das Gewehr über die Schulter, lächelnd, vier Gefangene, nicht vor, neben sich herführt, und der Gesichtsausdruck zeigt: Der Brite hier, der guckt so ein bisschen traurig entsetzt, der Franzose guckt noch trauriger, dann jemand aus den offenbar französisch–afrikanischen Kolonien, ein Farbiger, der grinst so ein bisschen vor sich hin, und ein Inder, der so ein bisschen teilnahmslos guckt."
Diese Karte wurde – wie viele andere Postkarten auch - als Feldpost verschickt, von deutschen Soldaten an ihre Familien.
"Wer so eine Karte nach Hause geschickt bekam, der wird sich gedacht haben: "Na toll, dat ist ja wunderbar, lächelnd ziehen wir in den Krieg, haben einen Haufen Gefangener aus aller Welt - das wird was."
Es gab viele, die zunächst glaubten, "das werde was". Mitarbeiter der "Nachrichtenstelle für den Orient" etwa, die sich auf zukünftig enge deutsch-arabische Beziehungen freuten.
Zum Beispiel Hans Stumme, Spezialist für arabische Dialekte und Berberisch und ein Mitarbeiter der "Nachrichtenstelle". 1915 veröffentlichte der Orientalist unter dem Pseudonym "Fritz Klopfer", der "berühmte deutsche Kriegsfreiwillige" - fünf "arabische Kriegslieder. "Tunisische Melodien mit arabischem und deutschem Text". Stumme hatte Texte und Melodien selbst geschrieben. "Lied über meinen Freund und Kameraden von den tunisischen Spahis, zur Zeit in Zossen". Oder auch:
"Lied eines deutschen Kriegers an seinen muhammedanischen Kameraden":
Kamerad, komm zu mir her nur,
Ich tu Dir nichts an!
Denk nur nicht im Kopfe, dass ich
Dich nicht leiden kann!
Ich bin Christ und Du bist Muslim,
Doch das schadet kaum!
Unser Sieg ist festbeschlossen,
Unser Glück kein Traum!
Wo da herrschet unser Kaiser,
Ist Sieg sein Panier;
Und wo Stambuls Kaiser waltet,
Flieht die Sorge schier.
Kamerad, komm! Sein wir Freunde!
Weg mit Angst und Not!
Iss mit mir hier die Kartoffeln
Und das Stückchen Brot!
Dieses Lied wurde im Januar 1915 in der Alberthalle in Leipzig von einem Kammersänger vorgetragen. Die Erlöse aus dem Konzert gingen an den türkischen Roten Halbmond.
Aus dem Lied spricht ein naiv anmutender, vielleicht sogar echter Wunsch nach deutsch-arabischer Freundschaft, vor allem aber ein noch ungebrochener Optimismus um die Jahreswende 1914/15, dass der Krieg gewonnen würde.
Die Geschichte der Sonderlager ist gut dokumentiert
Besuch mit Silvio Fischer auf dem Zehrensdorfer Ehrenfriedhof, nahe Wünsdorf. Hier wurden verstorbene Kriegsgefangene aus den Sonderlagern bestattet. Seit 2005 ist der Friedhof restauriert und öffentlich zugänglich.
Auf einer großen gepflegten Rasenfläche stehen einige Reihen gleich aussehender weißer Grabsteine. Nach historischem Vorbild kopiert trägt jede der über 200 neuen Tafeln den Namen eines gefallenen indischen Soldaten, sowie eine religiöse Inschrift. Muslime, Hindus, Sikhs liegen hier begraben. Es gibt Gedenksteine für die verstorbenen arabischen Kriegsgefangenen, und die tatarischen. In zentraler Position befindet sich ein massiver, weißer Gedenkstein.
Silvio Fischer: "Ja, das ist der Gedenkstein für die indischen - (liest Inschrift vor) 'In Memory of the brave Hindus, Sikhs and Mohammedans, who sacrified their lives in the great war for their king and country.' Für welchen König?"
Auf dem 100 Jahre alten multikonfessionellen Friedhof mitten im protestantischen Brandenburg fand am 1. August 2014 eine Friedensandacht statt, gemeinsam durchgeführt von der örtlichen Pfarrerin und einem Hindu-Priester.
Silvio Fischer: "Diese Menschen sind hier ja nicht freiwillig beerdigt worden, die kamen ja aus Indien, aus Nordafrika, Westafrika, Kasantataren; die wären garantiert nicht in jungen Jahren gestorben, wenn es nach ihnen gegangen wäre und die wären auch viel lieber in heimischer Erde besetzt, beigesetzt worden als hier im märkischen Sand."
Die Geschichte der Sonderlager ist von offizieller Seite gut dokumentiert - nicht zuletzt dank der aufwändigen Propaganda. In Wünsdorf gibt es einen Verein, der sich der Militärgeschichte des Ortes widmet und mit seinem Garnisonsmuseum die lokale Erinnerungskultur fördert.
In zwei Berliner Archiven befinden sich ganz besondere Dokumente, ungewöhnlich lebendige Zeugnisse: über 2.600 Tonaufnahmen von Kriegsgefangenen. Musik, Erzählungen, Lieder. Ein Teil befindet sich heute im Phonogrammarchiv des ethnologischen Museums, der andere im Lautarchiv an der Humboldt-Universität.
1915 hatte der Sprachwissenschaftler Wilhelm Doegen beantragt, Tonaufnahmen von den vielfältigen Sprachen der Kriegsgefangenen anzufertigen. Daraufhin wurde eine "Königliche Preussische Phonographische Kommission" eingesetzt.
Archivaufnahme:
Moderator: "Sie haben nämlich als erster in Deutschland, vielleicht auch als erster in Europa, an der Staatsbibliothek ein eigenes Lautarchiv errichtet."
Doegen: "Ja, also, ich bin stolz darauf, dass nun, auf der Grundlage dieses, meines ersten Unterrichtswerkes, ich die erste Lautbibliothek der Erde schaffen konnte."
1959 ist Wilhelm Doegen zu Gast beim West-Berliner Rundfunksender RIAS, in der Sendung "Berlin am Morgen":
Archivaufnahme:
Moderator: "Sprechplatte Nummer 626, arabisch, gesprochen von einem Tartaren aus Tobolsk."
Doegen: "Also, genauso, wie Sie diese Klänge jetzt hören, sind die natürlich lautschriftlich auch festgehalten."
Moderator: "Ja."
(Knistern, Anfang der Aufnahme des Gebetsrufs)
Moderator: "Ja, das heißt also 'Allah ist groß, Allah ist groß, ich bezeuge, dass es keinen Gott gibt, außer Allah'. In dieser Lautbibliothek gab es also 250 verschiedene Sprachen und Dialekte – ein unschätzbarer Wert für die Wissenschaft."
Lied über Grausamkeiten wurde zum Sprachlernmaterial
Abseits der offiziellen Propaganda um das Halbmondlager wurden Kriegsgefangene auf ganz unterschiedliche Weise zu Forschungsobjekten. Nicht nur sprachwissenschaftlich, sondern auch ethnologisch und künstlerisch. Selten erwähnten Wissenschaftler, woher sie ihr Wissen, ihre Quellen, hatten. Wilhelm Doegen etwa stellte seine Lautbibliothek immer wieder öffentlich vor, ohne die Herkunft der Aufnahmen zu thematisieren oder auch nur zu erwähnen. Die Kriegsgefangenen waren und blieben die Objekte seiner Untersuchungen.
Zu jeder Aufnahme wurde ein Personalbogen für das Lautarchiv angefertigt. Daher wissen wir, dass die gerade gehörte Aufnahme eines Gebetsrufs im Dezember 1916 entstand und der Sänger Nur Muhammed Hisameddin hieß.
Mit den unter Zwang und in Gefangenschaft entstandenen Ton-Aufnahmen beschäftigt sich die Kulturwissenschaftlerin Britta Lange. Sie sucht in den Aufnahmen nach Subjektivem, Persönlichem – und findet es auch.
"Die Überraschung an diesem Tonmaterial, bei allem, was man also über diese rigide Organisation weiß, ist, dass eben doch recht persönliche Texte und auch biographische Texte drin sind. Das heißt, es gibt sozusagen so Einsprengsel von – ja, vielleicht Subjektivität oder Widerstand, oder Humor, oder Irreführen der Wissenschaftler, das gibt es alles auf der inhaltlichen Ebene, und das gibt es aber auch auf der performativen Ebene. Also, es gibt Aufnahmen, bei denen man das Gefühl hat, dass die Kriegsgefangenen fast bewusst absetzen und eine Weile schweigen und dann wieder ansetzen, also tatsächlich auch merken, dass sich dieser Aufnahmeprozess stören lässt."
Unter den arabischsprachigen Aufnahmen im Lautarchiv befindet sich ein auffällig eindringlicher Gesang.
Archivaufnahme:
Eine sonderbare Kunde kam zu uns im Ramadan,
Und mit ihrem Gerede machten sie uns wirr.
Sie zogen Papiere und Schreibrohre hervor
Und riefen uns mit Namen auf.
Sie schleppten uns bis zu den Deutschen
Und ließen uns durch deren Blei verwundet werden.
Wenn Gott uns Kraft geben wollte,
Fragten wir nicht nach der Regierung.
Ich wurde zwischen zwei Bergen verwundet
Und begann zu weinen und zu klagen.
Mein Blut floss in Strömen,
mein ganzer Körper war besudelt.
Ich freute mich, dass mich die Deutschen fortholten,
Und dachte, ich käme nun nach Hause.
Sie schlossen mich aber mit Schlössern ein, -
Nun sitze ich verlassen hier!
Britta Lange: "Es ist einfach wirklich im allerbuchstäblichsten Sinne ein Hilferuf, und es ist nicht nur so, dass dieser Hilferuf höchstwahrscheinlich ungehört verhallt ist, obwohl so viele Leute bei der Tonaufnahme zugehört haben, sondern tatsächlich wurde diese Aufnahme dann 1928 ja in der Lautbibliothek veröffentlicht, ohne dass dazu gesagt wurde, dass das eine Tonaufnahme eines Kriegsgefangenen ist, die unter bestimmten Umständen gemacht wurde, und ohne dass offensichtlich der Inhalt irgendwie von Interesse war. Also der Inhalt hat offenbar gar nichts mit dem didaktischen Zweck zu tun."
Eine Gürtelschnalle aus dem Ersten Weltkrieg mit der Aufschrift "Gott mit uns" ist am 27.06.2014 in der Ausstellung "Kriegs(er)leben im Rheinland - Zwischen Begeisterung und Verzweiflung" im LVR-Freilichtmuseum Kommern auf einem Gürtel mit Köchern an einem Armeemantel von 1915 zu sehen.
Eine Gürtelschnalle aus dem Ersten Weltkrieg mit der Aufschrift "Gott mit uns" © picture-alliance / dpa / Matthias Balk
Wie konnte es sein, dass man ein Lied über die Grausamkeiten des Ersten Weltkriegs zehn Jahre nach dessen Ende als Sprachlernmaterial veröffentlichte? Ein Lied, das auch über die Gefangenschaft in Deutschland klagt. Das also dem Narrativ der guten Behandlung muslimischer Gefangener so offensichtlich widersprach?
Britta Lange: "Weil das nicht zusammen gedacht worden ist. Es ist ja das erreicht worden, was man wollte: Man hatte ein Sprachbeispiel von so genanntem 'tunisischem Arabisch', und das war offenbar so gut gelungen, oder so exemplarisch, dass man das dann publiziert hat."
Die in der Lautbibliothek als "dreistrophiges tunisisches Kriegslied" bezeichnete Aufnahme entstand am 30. Mai 1916 in der Ehrenbaracke im Wünsdorfer Halbmondlager. Der Sänger ist der Tunesier Sadak Berreshid, geboren in Monastir, zum Zeitpunkt der Aufnahme 37 Jahre alt. Er war Analphabet und gab als Beruf "Landarbeiter und Volksdichter" an. Die Aufnahme war von Wilhelm Doegen und Hans Stumme betreut worden.
Jener Hans Stumme, der unter dem Pseudonym Fritz Klopfer seine ganz eigenen "tunesischen Kriegslieder" geschrieben hatte. Der Kontrast zwischen Stummes optimistischem Text von der Jahreswende 1914/15 und dem verzweifelten Gesang Sadak Bereshids in Kriegsgefangenschaft 1916 könnte kaum größer ausfallen.
Britta Lange: "Ich hab' mich tatsächlich schon gefragt, ob es eigentlich legitim ist, diese Aufnahme zu spielen, denn ihn kann man nicht mehr fragen, wir haben uns nicht darum bemüht, seine Nachkommen, wenn er denn überhaupt welche hatte, haben durfte, zu fragen, oder Menschen aus seiner Herkunftsregion, die vielleicht sagen würden: Wir haben Interesse an dieser Aufnahme, weil es Kulturgut möglicherweise ist, und wir möchten das auch vertreten, wir haben niemanden um Erlaubnis gefragt."
In Belgien haben sie mich gequält,
Und die Ärzte haben mir bös zugesetzt.
Sie wollten mir den Fuß amputieren, -
Sogar der Arzt gab mich auf.
Mein Blut floss in Strömen, -
O mein Gott, hilf mir!
Britta Lange: "Und da es ja ein Klagelied ist, was ja sozusagen um Hilfe ruft und dafür bestimmt ist, Hilfe zu rufen, oder kund zu geben über die eigene Situation, würde ich denken, oder hoffen, dass es in seinem Sinne ist, wenn das damals schon nicht gehört worden ist, dass es jetzt heute gehört wird. Dass es nicht mehr nur als Beispiel von tunesischem Arabisch im Archiv liegt oder im Radio gespielt wird, sondern als ein Beispiel eines quasi unwillkürlichen Zeitzeugnisses aus dem Ersten Weltkrieg, was aber zu ganz anderen Zwecken aufgenommen wurde."
In diesen Zeugnissen wird der Widerspruch des Wünsdorfer Lagers offenbar - zwischen dem schönen Schein der Moschee und der gefühllosen Verwendung der Gefangenen als Propaganda- und Forschungsmaterial.
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