Geschichte

Chinas Hölle auf Erden

Studenten halten Poträts von Mao Zedong während einer Erinnerungsfeier zum 120. Geburtstag von Mao Zedong.
Mao Zedong und seine Helfer führten die Chinesen in die größte Hungerkatastrophe der Geschichte. Trotzdem feiert das Land seinen ehemaligen Führer immer noch. © dpa picture alliance/ Chinafotopress
Von Martin Tschechne · 28.06.2014
Frank Dikötter untersucht die größte Hungerkatastrophe der Geschichte und ordnet sie gekonnt in größere Zusammenhänge ein. Er schafft ein zutiefst verstörendes Buch über Mao Zedong und die Folgen seiner Politik.
Die mit Abstand größte Hungerkatastrophe der Geschichte wurde ausgelöst durch Größenwahn und Dummheit, durch die Anmaßung, das komplexe Zusammenwirken der Natur durch Ideologie außer Kraft setzen zu können, und durch die groteske Bereitschaft eines ganzen Volkes, ihrem ach so weisen und verehrten Führer ins Verderben zu folgen.
Damit da keine Missverständnisse aufkommen, stellt der Autor Frank Dikötter gleich in seinem ersten Satz klar:
"Zwischen 1958 und 1962 verwandelte sich China in eine Hölle auf Erden."
"Maos großer Hunger" heißt das Buch, und der in Hongkong lehrende Historiker leistet darin zweierlei: Er schafft einen Überblick über ein nicht vorstellbares Maß an Zerstörung und Grausamkeit, und er liefert dazu die historische Begründung. Es ist in der Fülle seiner Fakten und in der Klarheit der Analyse ein zutiefst verstörendes Buch - eines, das zur Pflichtlektüre gehören sollte über die großen politischen Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts. Und über die gewaltigen Aufgaben des einundzwanzigsten.
"Der Hungersnot fielen mindestens 45 Millionen Menschen zum Opfer ( ... ). Einige Historiker vermuten eine Opferzahl zwischen 50 und 60 Millionen."
Die Menschen verhungerten, weil die Insekten sich ausbreiteten
Hunger, leichtfertig in Kauf genommen als Preis für das brutalste Experiment der Geschichte und systematisch herbeigeführt als Instrument der Gewalt. Und viele, die nicht verhungert waren, die sich nicht sich unter den Knüppeln ihrer Antreiber zu Tode geschuftet hatten oder als vermeintliche Volksfeinde hingerichtet worden waren, viele nahmen sich selbst das Leben. Aus Erschöpfung, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Für das ganze Volk, so Dikötter, gab es keinen Ausweg.
Was im Westen von all dem ankam, waren kleine, rote Büchlein mit den sülzigen Worten des Vorsitzenden Mao, waren niedliche Bilder von Kindern, die es nur gemeinsam schaffen, eine dicke Rübe aus dem Boden zu ziehen, und war eine Geschichte, die den Geist der Zeit illustriert.
Mao Zedong nämlich, der große Führer, hatte die Massen zu einem Krieg gegen die Spatzen aufgerufen: Die Vögel hatten am kostbaren Saatgut gepickt. Also ließen Arbeiter und Bauern ihr Tagwerk liegen, bewaffneten sich mit Trommeln und Knüppeln und zogen in einen absurden Feldzug gegen die Natur.
"Es kam zu Unfällen. Menschen fielen von Dächern, Masten und Leitern. In Nanking stieg ein Mann namens Li Haodong auf das Dach einer Schule, um ein Sperlingsnest zu zerstören, verlor jedoch den Halt und stürzte drei Stockwerke in die Tiefe ( ... ). Waffen wurden ausgegeben, um auf die Vögel zu schießen: In Nanking wurden an zwei Tagen 330 Kilogramm Schießpulver eingesetzt ( ... ). Die Leute schossen auf alle gefiederten Geschöpfe. Zusätzlichen Schaden richtete der wahllose Einsatz von Gift an: In Nanking wurden mit Giftködern Wölfe, Hasen, Schlangen, Lämmer, Hühner, Enten, Hunde und ungezählte Tauben getötet."
Die schlimmeren Konsequenzen zeigten sich in den folgenden Jahren. Wo Spatzen und andere Vögel praktisch ausgerottet waren, wuchsen sich Insekten zur Landplage aus. Schwärme von Heuschrecken fielen über die Felder her. In der Provinz Nanking waren zwei Drittel der Anbauflächen von Schädlingen befallen. Die Menschen verhungerten.
Was der Historiker Frank Dikötter nun leistet, ist die Einbettung der Katastrophe in größere politische Zusammenhänge: in die unheilige Allianz Mao Zedongs mit dem sowjetischen Diktator Stalin, in die groteske Rivalität mit dessen Nachfolger Chruschtschow und in den furchterregenden Traum, den Klassenfeind USA mit eigenen Atombomben in die Knie zu zwingen.
Dikötter zeigt den Zusammenhang zwischen Katastrophe und ideologischem System
Mit dem Programm des "Großen Sprungs nach vorn" zum Ende der 50er Jahre war der Wechsel in eine andere Dimension des Personenkults vollzogen. Staudämme und große Kombinate sollten die Bauern nun hochziehen, anstatt ihre Felder zu bestellen. Und wo die Ernte hinter den Vorgaben der Partei zurückbleib, da wurde trotzdem abgeliefert, was gefordert war - das Landvolk konnte sehen, wo es blieb. Hunde, Katzen, Ratten, Schweinefutter, Baumrinde und lehmige Erde: Alles sollte helfen, den Hunger zu stillen. Ein ganzes Kapitel in Dikötters Buch trägt den Titel "Kannibalismus".
"Während sich die Hungersnot ausbreitete, wuchs das Heer der Privilegierten. Trotz wiederkehrender Säuberungen stieg die Zahl der Parteimitglieder zwischen 1958 und 1961 um fast 50 Prozent ( ... ) auf 17,38 Millionen. Die Parteimitglieder wussten für ihr Wohl zu sorgen. Eine Möglichkeit, sich während der Hungersnot satt zu essen, bestand darin, häufig an Versammlungen teilzunehmen, denn die Besucher wurden vom Staat verköstigt. 1958 kamen rund 50.000 Parteifunktionäre zu Konferenzen nach Shanghai; bis 1960 verdoppelte sich die Teilnehmerzahl auf 100.000 ( ... ). Manche Konferenzen dauerten mehr als einen Monat."
Eine dieser Konferenzen trug den poetischen Titel "Hundert-Blumen-Kampagne". Maos Kritiker waren eingeladen, ihre Bedenken frei und offen zu äußern. Später wurde halbe Million von ihnen in die Arbeitslager entsorgt. Dass es Dikötter dennoch gelingt, die Katastrophe des "Großen Sprungs nach vorn" nicht zum Verbrechen eines einzelnen Mannes, seiner Maßlosigkeit, seines Jähzorns und seiner Heimtücke zu verkürzen, sondern sie in den Zusammenhang eines ideologischen Systems zu stellen, gehört zu den wichtigen Leistungen dieses Buches.
Im Januar 1962 wurde das Programm vor 7000 Parteifunktionären in der Großen Halle des Volkes in Peking als Fehler bezeichnet und revidiert. Maos Einfluss schien zu schwinden. Vier Jahre später rief der Diktator zur Kulturrevolution auf. Sie, so Dikötter, sollte zehn Jahre lang Partei und Land zerreißen.

Frank Dikötter: Maos großer Hunger. Massenmord und Menschenexperiment in China
Klett-Cotta, Stuttgart 2014
258 Seiten, 29,95 Euro, als E-book 23,99 Euro