Gerichtsstücke am Schauspiel Frankfurt

Anstiftung eines moralischen Diskurses

Nico Holonics (l.) als Bundeswehrsoldat Lars Koch und Max Mayer als sein Verteidiger Biegler während einer Probe am Schauspiel Frankfurt für das Stück "Terror" von Ferdinand von Schirach.
Nico Holonics (l.) als Bundeswehrsoldat Lars Koch und Max Mayer als sein Verteidiger Biegler während einer Probe am Schauspiel Frankfurt für das Stück "Terror" von Ferdinand von Schirach. © picture alliance / dpa / Schauspiel Frankfurt / Birgit Hupfeld
Von Natascha Pflaumbaum · 03.10.2015
Mit Heinrich von Kleists "Der Zerbrochene Krug" und Ferdinand von Schirachs "Terror" inszeniert Oliver Reese gleich zwei Gerichtsstücke am Schauspiel Frankfurt - und zeigt so, wie schwer es manchmal sein kann, moralische Urteile zu fällen.
Oliver Reese, Intendant des Schauspiel Frankfurt, inszeniert an seinem Haus mit Heinrich von Kleists "Der Zerbrochene Krug" und Ferdinand von Schirachs "Terror" an zwei Abenden zwei Gerichtsstücke. Er schafft so Gericht im Theater und zeigt, wie Theater wiederum im Gericht funktioniert. Sein Ziel: die Anstiftung eines moralischen Diskurses.
Heinrich von Kleists Tragikomödie "Der Zerbrochene Krug" über den Dorfrichter Adam, der sich einen erotischen Abend mit der jungen Eve erhofft und darüber selbst zu seinem eigenen "Fall" wird, ist ein vergnügliches Stück über ernste Themen: versuchten Missbrauch, holprige Wahrheiten, verquere Rechtsprechung. Es ist ein Gerichtsstück, in dem das Urteil so schwerfällt, weil sich alle Beteiligten an einer normativen Ethik entlang hangeln, die sich mal so, mal so auf so etwas bezieht, was wir diffus "Anstand" nennen.
Ferdinand von Schirachs Stück "Terror" zeigt die Gerichtsverhandlung des Kampfjetpiloten Lars Koch, dem zur Last gelegt wird, ein von Terroristen gekapertes Passagierflugzeug mit 164 Menschen an Bord abgeschossen zu haben, um so den geplanten Massenmord an 70.000 Zuschauern eines Länderspiels in der Münchner Allianz-Arena zu verhindern. Koch gibt vor, nach utilitaristischen Axiomen abgewogen zu haben: 164 Menschen seien nun mal weniger als 70.000.
Moralische Urteile in Dilemmata-Situationen
In seiner Gegenüberstellung dieser beiden Stücke zeigt Oliver Reese an zwei Abenden sehr eindrucksvoll, wie schwer es ist, moralische Urteile zu fällen, wenn es sich um klassische Dilemmata-Situationen handelt. Argumentieren wir wie im Falle von Dorfrichter Adam im Sinne einer normativen Pflichten-Ethik, ist am Ende zwar ein Urteil gesprochen, aber die Ordnung zerstört. Urteilen wir, wie im Falle von Lars Koch, rein hedonistisch utilitaristisch, kommen wir in Konflikt mit dem Würde-Paragraphen des Grundgesetzes. Auch hier ist Recht gesprochen, aber Unordnung entstanden.
Das ist überhaupt der größte Gewinn dieses fantastischen Doppelabends, dass Reese einen Diskurs entfacht, dass er an zwei Abenden Theater macht, das aus dem Alltag kommt, das das Leben berührt, und das uns beschäftigt, ohne dass man sich didaktisch penetriert fühlt. In Ferdinand von Schirachs "Terror" spricht am Ende das Frankfurter Publikum das Urteil: es entscheidet 240 zu 230 für den Freispruch. Der Utilitarismus hat gesiegt.
Sein Ziel erreicht Reese, indem er sich auf seine besten Fähigkeiten konzentriert. Als Regisseur hat sich Oliver Reese in seiner Frankfurter Zeit häufig durch einen mitunter flapsigen Umgang mit Texten durch seine Produktionen gehangelt. Seine besten Arbeiten sind die, in denen er auf engsten Raum Menschen als extreme Typen in absurden Wortgefechten konfrontiert. Reese beherrscht die Groteske, und selbst wenn sie hier und da etwas danebengeht, klopft man sich immer noch sportlich auf die Schenkel im Dickicht seiner Kalauer.
Diese Doppelpremiere zeigt Reeses intelligenten Humor par excellence: sein Gespür, mit nur wenigen Betonungsverschiebungen absurde Brüche in Sprache, in Bedeutung zu bringen, seine Marotte, mit Floskeln, mit modernen Interjektionen alte Theatersprache zu aktualisieren, das wirkt im Kleist-Stück Wunder.
Vor kalter Sachlichkeit strotzende Wände
In seinen beiden neuen Produktionen nun lässt Reese wie schon in seiner "Phädra" 2009 direkt am Bühnenrand und teilweise im Publikum spielen. Er schließt die Bühne mit einer glatten hohen Wand und lässt den Darstellern allenfalls drei Meter Bühnentiefe – so eng, dass sie sich manchmal aneinander vorbeizwängen. Die Wände sind typische Holz-Wandverschalungen, wie man sie aus Gerichten der 60er-und 2000er-Jahre kennt: unverzeihliche, vor kalter Sachlichkeit strotzende Wände, die alles schlucken.
Mit wenigen ausgesuchten Requisiten (Leder-Konferenzstühle, Schwanenhals-Mikrophone, Tische und Wand-Aschenbecher) schafft Reese eine Gerichtssaal-Atmosphäre. Auf engstem Raum konzentriert sich nun alles auf das dichte Spiel der Schauspieler, die Reese sehr typisiert, stark klischiert überzeichnet.
Max Meyer spielt einen verklemmten, verschlagenen, linkischen Dorfrichter Adam, eine überengagierten Verteidiger. Nico Holonic einen hanswurstigen, neunmalklugen, Popper-smarten Emporkömmling als Schreiber Licht und einen jungen- wie heldenhaften Kampfjetpiloten. Bettina Hoppe ist neben Constanze Becker der Star der beiden Abende: Margot-Honecker-gleich gibt sie eine männlich-furiose Marte, sachlich-moralisch wie ein Ursula-von-der-Leyen-Verschnitt tags darauf die Staatsanwältin.
Ein großes Statement
Constanze Becker wird von Reese im Kleist-Spektakel zunächst als Audrey Hepburn-Verschnitt divenhaft auf die Bühne gestellt, wie sie dann in "Terror" versucht, eine unscheinbare Nebenklägerin zu spielen, verschlägt einem schier den Atem. Und nicht zuletzt ist da Martin Jentzsch, der als Gerichtsrat Walter und Vorsitzender den Intellektuellen im schwarzen Rollkragenpullover gibt. Er hat einen der schwierigsten Parts, weil er im und aus dem Publikum heraus spielt. Mit ihm steht und fällt die Publikumsinteraktion.
Nur weil man ihm in beiden Fällen den Richter tatsächlich abnimmt, weil er nämlich wie ein Richter aus dem Publikum wirkt, funktioniert überhaupt diese Spielsituation außerhalb der Bühne.
Carina Zichner, Lukas Rüppel, Viktor Tremmel, Anica Happich - eine vorzügliche Besetzung: alles große Individualisten, die im Ensemble-Spiel noch größer werden.
Beide Produktionen für sich genommen funktionieren als Solitär, im Doppelpack allerdings beschäftigen sie weit über das Theater hinaus. Oliver Reese hat zwei beeindruckende Arbeiten hinterlassen, aber auch ein großes Statement: das Theater ist das Gericht, in dem heute über Wahrheiten verhandelt wird.
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