Gerichtsreporterin über den NSU-Prozess

"Am Schluss war ein einziges Chaos"

08:59 Minuten
Die Reporterin Giesela Friedrichsen sitzt im blauen Kleid auf einem gelben Sessel.
Erfahrene Gerichtsreporterin: Giesela Friedrichsen hat den NSU-Prozess beobachtet und darüber ein Buch geschrieben. © imago images / Müller-Stauffenberg
Gisela Friedrichsen im Gespräch mit Christian Rabhansl · 13.07.2019
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Vor einem Jahr wurde die rechtsextreme Terroristin Beate Zschäpe zu lebenslanger Haft verurteilt. Viele Fragen blieben jedoch offen. Hat das Gericht versagt? Nein, sagt Gerichtsreporterin Gisela Friedrichsen, auch wenn es teilweise chaotische zuging.
Christian Rabhansl: Ein Jahr ist es her, dass Beate Zschäpe wegen Mittäterschaft an zehn Terrormorden zu lebenslanger Haft verurteilt worden ist. Fünf Jahre hatte der NSU-Prozess da schon gedauert. Was war das für ein Prozess: Fünf Angeklagte, 60 Nebenklagevertreter, 600 Zeugen und mehr als 400 Verhandlungstage. Was für ein Prozess also, aber auch was für eine Enttäuschung.
Die Verstrickungen der Geheimdienste: nicht aufgeklärt. Die Rolle der V-Leute: auch nicht richtig geklärt. Die Fehler der Polizei: ungesühnt. Die quälenden falschen Verdächtigungen, die aus den Opfern Täter gemacht hatten: auch nicht wiedergutgemacht.
In den Augen nicht nur vieler Angehöriger hat da der Rechtsstaat versagt. Die Gerichtsreporterin Gisela Friedrichsen, die sieht das ganz anders. Ihr Buch mit dem Titel "Der Prozess", dieses Buch ist gerade erschienen. Warum war dieser Prozess für Sie alles andere als eine Enttäuschung?
Gisela Friedrichsen: Er war deshalb für mich keine Enttäuschung, weil die Aufgaben, die ein Strafprozess zu erfüllen hat, hier bravourös gelöst worden sind. Die Dinge, über die nachher geklagt wurden, dass man über die V-Leute nicht genug erfahren hat, dass die Fehler der Polizei weniger zur Sprache gekommen sind und so weiter, dass die Opfer nicht ihre Fragen beantwortet bekommen haben, das war nicht Sache dieses Gerichts.
Solche Fragen sind an anderer Stelle zu klären, also meinetwegen in Untersuchungsausschüssen. Da ist die politische Verantwortung zu klären, da ist über die Führung von staatlichen Behörden zu diskutieren, aber nicht in einem Strafprozess. Da ging es um die Anklage, die der Generalbundesanwalt gegen diese Angeklagten erhoben hat, und da ging es darum, ein Urteil über diese Angeklagten zu finden, nicht über irgendwelche staatlichen Stellen.

Die Zusammenhänge wurden lange nicht gesehen

Rabhansl: Sie argumentieren in Ihrem Buch auch, dass Spekulationen eben nicht ausreichen, um zu ermitteln. Das Problem ist aber, dass die Angehörigen genau das erlebt haben, dass aufgrund von Spekulationen jahrelang gegen sie ermittelt worden ist. Wie sollen diese Menschen noch an diesen Rechtsstaat glauben?
Friedrichsen: Ich kann sehr gut verstehen, dass es für diese Menschen äußerst schwierig war. Sie wussten, sie haben nichts Böses getan, und dauernd stand ihnen die Polizei auf den Füßen. Nun ist es aber normalerweise schon so, dass wenn ein Mensch getötet wird, bei dem man nicht auf Anhieb gleich erkennt, aus welchen Motiven das geschehen ist und wer dafür infrage kommen könnte, dass dann erst mal im nächsten Umfeld dieser Personen ermittelt wird. Ist es vielleicht eine Familienangelegenheit, ist es vielleicht Rotlichtmilieu, hat er mit Drogen gehandelt und so weiter. Das sind aber eigentlich normale Fragen, die in jedem Fall gestellt werden, wenn man nicht weiß, woher der Täter gekommen ist.
Hier hatten wir nun eine ganz schwierige Situation, denn diese Verbrechen des NSU waren äußerst raffiniert angelegt, die Raubüberfälle sind alle im Osten verübt worden, die Mordtaten, bis auf eine, alle im Westen. Die Ermittler haben zunächst überhaupt nicht verstanden, was hat jetzt der Mord an dem Schlüsselladenbesitzer in München mit dem Gemüsehändler in Hamburg zu tun, und was hat der Blumenhändler in Nürnberg mit dem Internetcafébesitzer in Kassel zu tun.

Drei Täter, kein Netzwerk

Rabhansl: Das hat lange gedauert, bis diese Zusammenhänge erkannt worden sind. Ich glaube, darauf beruht auch ein bisschen die Sorge, die bis heute im Raum steht, dass dieses NSU-Trio, also Uwe Mundlos, Uwe Bönhardt und Beate Zschäpe, dass die nicht alleine waren. Sie widersprechen dieser Theorie dieser Sorge und halten es mit dem Gericht: drei Täter, kein Netzwerk.
Friedrichsen: Dass es ein rechtes Netzwerk gibt, ist ja unbestritten. Nur innerhalb dieses Netzwerks haben sich diese drei Täter absolut abgekapselt. Die haben sich davon verabschiedet. Das war ihre Agenda, ihre Idee, wir machen etwas, was ganz außergewöhnlich ist, wir brauchen niemanden dazu, wir werden uns erst dann mitteilen, wenn wir unsere Aufgabe erfüllt haben oder wenn wir aus dem Leben scheiden.
Ich bin davon überzeugt, jeder Mitwisser oder gar Mittäter wäre ein zusätzliches Risiko gewesen. Das konnte nur so lange gutgehen, weil es nur diese drei aufeinander eingeschworenen Personen gewesen sind, die brauchten keine Mithilfe. Die waren 13 Jahre lang mit nichts anderem beschäftigt als nur potenzielle Anschlagsziele auszubaldowern, Fluchtwege herauszufinden und dergleichen und irgendwie ihr Leben in der Illegalität zu organisieren. Die brauchten da niemanden, der ihnen irgendwelche Hilfestellung leistet, und die ihnen geholfen haben, die saßen mit auf der Anklagebank.

Der NSU in Hessen

Rabhansl: Diese Sorge vor so einem rechten größeren Netzwerk ist auch die Sorge vor der Unterwanderung von Sicherheitsbehörden. Da gibt es immer wieder neue Grundlage. Zum Beispiel in Hessen, der V-Mann, der damals direkt am Tatort eines der NSU-Morde saß, reiner Zufall angeblich, dann ebenfalls in Hessen, wo ein paar Monate nach dem Urteil eine Nebenklageanwältin Morddrohungen bekommen hat von einem selbsternannten NSU 2.0, wieder Hessen, wo der Verfassungsschutz die Akten 120 Jahre sperren will, wieder Hessen, wo jetzt der Regierungspräsident Walter Lübcke erschossen worden ist – ist die Angst vor rechtsextremer Unterwanderung wirklich nichts anderes als Verschwörungstheorie?
Friedrichsen: Dass in Hessen so manches schiefläuft, vor allen Dingen im Verfassungsschutz, ich glaube, da brauchen wir gar nicht lange drüber zu diskutieren. Das Bild, das die Zeugen vom hessischen Verfassungsschutz vor Gericht abgegeben haben, war katastrophal. Aber irgendein Nachweis, dass dieser wirklich unsägliche Mensch, der da am Tatort gewesen ist und nichts gehört und nichts gesehen haben will, dass der irgendwie tatsächlich in den Mord verwickelt war, dieser Nachweis war nicht zu führen.
120 Jahre Akten sperren ist natürlich völlig unverständlich für den Normalbürger. Die Behörde argumentiert, wir können überhaupt nur unsere geheimdienstliche Tätigkeit damit ausüben, indem wir absolute Vertraulichkeit wahren, und zwar nicht nur für die Personen, mit denen wir jetzt zu tun haben, sondern auch für deren Kinder, und wenn wir das nicht einhalten, dann können wir den Laden zusperren.
Das ist eine Argumentation, über die kann man streiten, müssen vielleicht auch Politiker streiten. Das war aber nicht die Frage dieses Strafgerichts.
428. Verhandlungstag im NSU-Prozess Die Angeklagte Beate Zschäpe unterhält sich mit ihren Anwälten Hermann Borchert (l) und Mathias Grasel
428. Verhandlungstag im NSU-Prozess: Die Angeklagte Beate Zschäpe unterhält sich mit ihren Anwälten Hermann Borchert (l) und Mathias Grasel (r).© imago images / Sebastian Widmann
Rabhansl: Wenn wir zu diesem Prozess zurückkommen, Sie arbeiten nun wirklich schon ihr Reporterleben lang als Gerichtsreporterin, auch bei schwersten Straftaten. Waren Sie auf so einen Prozess vorbereitet?
Friedrichsen: Ich habe nicht damit gerechnet, dass er fünf Jahre dauern wird. Ich habe gedacht, das ist vielleicht anderthalb, zwei Jahre, dann ist die Sache durch. Wir haben alle nicht berücksichtigt, welchen Einfluss eine so große Beteiligung von Opfervertretern zum Beispiel für diesen Prozess bedeutet. Wir haben alle nicht gewusst, dass Frau Zschäpe eines Tages ihre Anwälte loswerden will und neue haben will, die überhaupt nicht eingearbeitet waren. Da kam so einiges zusammen.
Der Plan, den der Senat zunächst gemacht hatte, wir handeln einen Fall nach dem anderen schön sukzessive ab und laden jeweils die Zeugen dazu, der kam ganz schnell durcheinander, weil wenn 60 Anwälte das Recht haben, auch Fragen zu stellen und Anträge zu stellen und Erklärungen abzugeben. Dann kommt ein Plan, der für jeden Zeugen nur 30 Minuten vorsieht, natürlich ganz schnell durcheinander, und dann am Schluss war ein einziges Chaos. Da wurde ein Zeuge zu Fall eins und ein Sachverständiger zu einem ganz anderen Fall, Polizeibeamter zu wieder einem anderen Fall, alles an einem Tag verhandelt, sodass man größte Mühe hatte, da den Überblick zu behalten.

Öffentliches Interesse ließ nach

Rabhansl: Kann man sich nur drin verlaufen. Ist das der Grund, weshalb Sie Ihr Buch genannt haben "Der Prozess", was so richtig schön nach Kafka klingt?
Friedrichsen: Ja, ich habe halt gemerkt, dass das öffentliche Interesse sehr nachgelassen hat, weil man überhaupt nicht mehr durchblickte, was da vor Gericht geschieht. Dann kamen die Entwicklungen ab 2015. Es kamen ganz neue Probleme, die die Öffentlichkeit beschäftigt haben.
Diese ganzen juristischen Feinheiten, auf die dieser Senat aufzupassen hatte, damit nicht die ganze Geschichte platzt und man nicht nach ein paar Jahren Verhandlungsdauer wieder von vorne anfangen muss, das war doch sehr schwierig für den Bürger überhaupt zu begreifen. Am Schluss hat es nur noch geheißen, was, ist das immer noch nicht zu Ende, und warum werden die denn nicht fertig, und was das kostet, und dergleichen. Ich habe versucht, mal darzustellen, was in so einem Prozess überhaupt geschieht und warum er nötig war.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Gisela Friedrichsen: "Der Prozess. Der Staat gegen Beate Zschäpe u.a."
Penguin, München 2019
304 Seiten, 22 Euro

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