Gerhard Roth: "Über den Menschen"

Wir sind viele Ich-Zustände

07:52 Minuten
Das Cover von Gerhard Roths „Über den Menschen” vor Deutschlandfunk Kultur Hintergrund.
"Wir sind nicht ein einziges Ich, sondern mehrere, vielleicht viele Ich-Zustände", schreibt Gerhard Roth. © Suhrkamp / Deutschlandradio
Von Volkart Wildermuth · 28.07.2021
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In seinem Alterswerk "Über den Menschen" zieht Gerhard Roth Bilanz. Eine These: Sein wahres Ich erkennen zu wollen, ist aussichtslos. Belege allerdings bleibt der Hirnforscher und Philosoph schuldig.
Es gibt kein "Ich", keinen "freien Willen", keine "Schuld": Das wollen zumindest manche Neurowissenschaftler aus bunten Bildern des Gehirns oder Mustern in den Nervenimpulsen ablesen. Mit fast 80 Jahren zieht der Hirnforscher und Philosoph Gerhard Roth Bilanz und fragt, ob wir wirklich unser Menschenbild aufgrund der neuen Erkenntnisse überdenken müssen.
In früheren Büchern ist Gerhard Roth von einem detaillierten Blick auf die neurowissenschaftlichen Befunde ausgegangen. In "Über den Menschen" setzt er bei den großen Fragen der Philosophie an: Was ist das Ich, ist sichere Erkenntnis möglich, können wir andere verstehen?

Veränderungsoptimismus wissenschaftlich nicht gerechtfertigt

Hier kann Hirnforschung weiterhelfen. Nach Schlaganfällen gehen manchmal einzelne Aspekte des Ichs verloren, etwa den Körper als den eigenen zu erleben. Daraus folgert Roth: "Wir sind nicht ein einziges Ich, sondern mehrere, vielleicht viele Ich-Zustände".
Sein wahres Ich erkennen zu wollen, ist von daher aussichtslos. Noch wichtiger: Handlungen werden primär von unbewussten Gehirnprozessen ausgelöst. "Aber davon weiß das Ich nichts", es muss sich oft im Nachhinein eine plausible Erklärung für das eigene Verhalten zusammenreimen.
Deshalb, so Roth, hilft ein bewusster Vorsatz wenig, wenn er nicht zu den unbewussten Motiven passt. "Der in unserer Gesellschaft und insbesondere im Coaching verbreitete Veränderungsoptimismus ist aus wissenschaftlicher Sicht nicht gerechtfertigt." Immer wieder zeigt sich, dass von der Hirnforschung angestoßene philosophische Überlegungen am Ende zu ganz lebensnahen Schlüssen führen.
Ausgerechnet dieser Ausgangspunkt, die Neurowissenschaft, bleibt in diesem Buch allerdings vage. Botenstoffen und Hirnregionen zitiert Gerhard Roth eher als Schlagworte, statt sie in verständliche Erklärungen einzubinden. Beispiel Gewaltneigung: Die kann auf "eine Schädigung oder Fehlentwicklung des ventromedialen und orbitofrontalen Cortex im Kleinkindalter" zurückgehen, muss aber nicht. Da ist der Leser oder die Leserin nicht wirklich klüger. Zudem fehlen oft konkrete Literaturbelege, überraschend bei einem Sachbuch.

Alterswerk mit Anregungen zum Nachdenken

Gerhard Roth geht es eben um die großen Fragen, zentral um die Beziehung von Gehirn und Geist. Da ist sein Standpunkt eindeutig: "Wir müssen Geist als einen physikalischen Zustand akzeptieren."
Das fällt vielen schwer und auch dafür gibt er eine neurowissenschaftliche Erklärung: Das Gehirn verarbeitet Körperempfinden, die Welt der Dinge und das geistige Erleben streng getrennt. Wir können denken, dass Bewusstsein auf Nervenimpulse zurückgeht, "aber es ist uns unmöglich, dies anschaulich und erlebnismäßig nachzuvollziehen, weil sich das Gehirn so etwas verbietet."
Gerhard Roth hat ein Alterswerk geschrieben. Wer tief ins Gehirn einsteigen will, muss andere Bücher lesen. Aber in "Über den Menschen" findet man Anregungen, über alte Fragen neu nachzudenken. Am Ende lautete sein Fazit:
"Ein Mensch ist nicht sein Gehirn, aber ohne sein individuelles und sozialisiertes Gehirn wäre er nicht der Mensch, der er ist. Das mag für viele ein neues Menschenbild darstellen."

Gerhard Roth: "Über den Menschen"
Suhrkamp, Berlin 2021
368 Seiten, 26 Euro

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