Gerechtigkeit fällt nicht vom Himmel
"Gerechtigkeit vor Gottes Angesicht" lautet das Motto des diesjährigen Katholikenta-ges. Unter dem gleichlautenden Titel legt Reinhard Marx, der gastgebende Bischof aus Trier, eine Sammlung von nahezu 30 kurzen Texten vor. Darin umkreisen Politiker und Professoren, Künstler und Priester das Thema einer gerechten Gesellschaft und erin-nern an dessen theologische und spirituelle Dimension.
Ist Gerechtigkeit möglich? Und wie wird sie erfahrbar? Im Vorwort erinnert der Trierer Bi-schof an eine bekannte Praxis:
"Zwei Kinder sollen sich ein Stück Kuchen teilen. Wie geht das gerecht zu? Die Lösung ist einfach und bekannt: Das eine Kind schneidet, das andere Kind wählt zuerst. So einfach kann Gerechtigkeit sein!"
So einfach? Mitunter mag das angehen, doch beschleicht den Leser Skepsis. Angesichts grö-ßerer Konflikte und gegensätzlicher Interessen scheint das Modell selten hilfreich. Der Weg von der Theorie zur Praxis, vom Wissen - "Eigentlich müsste man ..." - zur konkreten Umset-zung, ja, zu gelebtem Glauben ist oft schwer. Dessen ist sich auch Reinhard Marx bewusst und hat zahlreiche Autorinnen und Autoren eingeladen, von Schwierigkeiten und Hoffnungen im Hinblick auf Gerechtigkeit zu schreiben.
Der Begriff ist so alt wie die Bibel. Vom ersten bis zum letzten Buch: Immer ist von Gerech-tigkeit die Rede. Der Psalmist preist Gottes Gerechtigkeit und der Prophet Jesaja stellt sie in Aussicht. "Gerechtigkeit", so sein Bild des kommenden Messias, "ist der Gürtel um seine Hüften, Treue der Gürtel um seinen Leib."
Die Zehn Gebote, erinnert Stephan Wahl in einem Artikel, sind "ein Dokument der Gerech-tigkeit Gottes, ein Grundgesetz menschlichen Lebens, gültig und annehmbar nicht nur für Christen." Um das Motto des 96. Deutschen Katholikentages, um "Gerechtigkeit vor Gottes Angesicht", geht es auch in Jesu Worten und Taten. Dessen Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg wirft immer noch Fragen auf, bleibt Provokation. Davon künden mehrere Ausle-gungen zur selben Bibelstelle.
Im Matthäus-Evangelium liest man: Ein Großgrundbesitzer geht mehrmals am Tag auf den Markt und heuert dort nach und nach Arbeiter an. Am Ende bekommen alle denselben Lohn, ob sie nun acht Stunden oder nur eine Stunde gearbeitet haben. Ist das gerecht? Vor Gott, bes-ser: von Gott schon, meint Bischof Wanke. Und Bischöfin Käßmann gibt zu verstehen:
"Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg hält fest: Vom Reich Gottes her gibt es ei-ne Störung der Werte, auf denen unsere Gesellschaft ruht. Die Perspektive des Reiches Gottes bleibt stets eine Herausforderung des Vorhandenen."
Wie wird diese Perspektive in einer säkularisierten Gesellschaft praktisch, zumal sich kaum ein Politiker als "einfacher Arbeiter im Weinberg des Herrn" (Papst Benedikt XVI.) versteht? Mit derlei Gesten der Bescheidenheit allein ist es sicher nicht getan angesichts himmelschrei-ender Ungerechtigkeit. Fünf Millionen Arbeitslose in Deutschland sind ebenso Mahnung und Herausforderung wie etwa Asylsuchende und Diskriminierte in aller Welt.
"Gerechtigkeit gibt es nur in der Hölle. Im Himmel herrscht Gnade. Und auf Erden ist das Kreuz."
So hat es die christliche Dichterin Gertrud von le Fort vor Jahren auf den Punkt gebracht. Starker Tobak? Wem das zu fromm klingt, der lese im Artikel von Michael Verhoeven:
"Dem Heiligen Vater wird man zugestehen, dass er subjektiv und vor Gott der Ansicht ist, die Kinder vor sexuellem Missbrauch durch Priester zu schützen, wenn er homosexuelle Männer aus dem Priesteramt heraushält. Aber welche Gerechtigkeit soll das sein für homose-xuelle Priester, die nicht die geringste Neigung zur Pädophilie haben?"
Derlei Zündstoff findet man auch in anderen Artikel, die den Focus erweitern. Darüber lässt sich trefflich streiten - nicht nur auf Katholikentagen: Wo und wie ziehen Glaube und Politik an einem Strang? Wo stehen sie einander im Weg? Jürgen Rüttgers etwa fragt nach den Maß-stäben für eine Politik der Gerechtigkeit im 21. Jahrhundert. Und Monika Pankoke-Schenk stellt sich dem Thema Frauen und Menschenrechte.
So unterschiedlich die Standpunkte, die Auffassungen, die Hintergründe: Es scheint Einigkeit darin zu bestehen, dass Gerechtigkeit als Fundament für den sozialen Frieden in einer Gesell-schaft unabdingbar ist. Sie fällt weder vom Himmel noch in den Schoß. Gerechtigkeit ist ein Zukunftsprojekt, an dem in Kirche und Gesellschaft bereits viele arbeiten und zu dem, ganz nüchtern betrachtet, alle berufen sind.
Die Textsammlung besticht durch die bunte Mischung der Beiträge, die allesamt gut verständ-lich sind und jeweils auf kurzem Raum einen oder mehrere Aspekte der umfassenden Thema-tik zumindest anreißen. Was hier als Vorteil anklingt, kann auch als Nachteil betrachtet wer-den. Nicht immer bleibt Raum für vertiefende Gedanken und tiefer bohrende Fragen. Von da-her empfiehlt es sich, den Weg nach Saarbrücken einzuschlagen und den Katholikentag mit engagierten Diskursen zu beleben.
Bischof Reinhard Marx (Hg.): Gerechtigkeit vor Gottes Angesicht. Worte, die weiter-führen
Herder Verlag: Freiburg i.Br. 2006
126 Seiten. 3,95 Euro
"Zwei Kinder sollen sich ein Stück Kuchen teilen. Wie geht das gerecht zu? Die Lösung ist einfach und bekannt: Das eine Kind schneidet, das andere Kind wählt zuerst. So einfach kann Gerechtigkeit sein!"
So einfach? Mitunter mag das angehen, doch beschleicht den Leser Skepsis. Angesichts grö-ßerer Konflikte und gegensätzlicher Interessen scheint das Modell selten hilfreich. Der Weg von der Theorie zur Praxis, vom Wissen - "Eigentlich müsste man ..." - zur konkreten Umset-zung, ja, zu gelebtem Glauben ist oft schwer. Dessen ist sich auch Reinhard Marx bewusst und hat zahlreiche Autorinnen und Autoren eingeladen, von Schwierigkeiten und Hoffnungen im Hinblick auf Gerechtigkeit zu schreiben.
Der Begriff ist so alt wie die Bibel. Vom ersten bis zum letzten Buch: Immer ist von Gerech-tigkeit die Rede. Der Psalmist preist Gottes Gerechtigkeit und der Prophet Jesaja stellt sie in Aussicht. "Gerechtigkeit", so sein Bild des kommenden Messias, "ist der Gürtel um seine Hüften, Treue der Gürtel um seinen Leib."
Die Zehn Gebote, erinnert Stephan Wahl in einem Artikel, sind "ein Dokument der Gerech-tigkeit Gottes, ein Grundgesetz menschlichen Lebens, gültig und annehmbar nicht nur für Christen." Um das Motto des 96. Deutschen Katholikentages, um "Gerechtigkeit vor Gottes Angesicht", geht es auch in Jesu Worten und Taten. Dessen Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg wirft immer noch Fragen auf, bleibt Provokation. Davon künden mehrere Ausle-gungen zur selben Bibelstelle.
Im Matthäus-Evangelium liest man: Ein Großgrundbesitzer geht mehrmals am Tag auf den Markt und heuert dort nach und nach Arbeiter an. Am Ende bekommen alle denselben Lohn, ob sie nun acht Stunden oder nur eine Stunde gearbeitet haben. Ist das gerecht? Vor Gott, bes-ser: von Gott schon, meint Bischof Wanke. Und Bischöfin Käßmann gibt zu verstehen:
"Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg hält fest: Vom Reich Gottes her gibt es ei-ne Störung der Werte, auf denen unsere Gesellschaft ruht. Die Perspektive des Reiches Gottes bleibt stets eine Herausforderung des Vorhandenen."
Wie wird diese Perspektive in einer säkularisierten Gesellschaft praktisch, zumal sich kaum ein Politiker als "einfacher Arbeiter im Weinberg des Herrn" (Papst Benedikt XVI.) versteht? Mit derlei Gesten der Bescheidenheit allein ist es sicher nicht getan angesichts himmelschrei-ender Ungerechtigkeit. Fünf Millionen Arbeitslose in Deutschland sind ebenso Mahnung und Herausforderung wie etwa Asylsuchende und Diskriminierte in aller Welt.
"Gerechtigkeit gibt es nur in der Hölle. Im Himmel herrscht Gnade. Und auf Erden ist das Kreuz."
So hat es die christliche Dichterin Gertrud von le Fort vor Jahren auf den Punkt gebracht. Starker Tobak? Wem das zu fromm klingt, der lese im Artikel von Michael Verhoeven:
"Dem Heiligen Vater wird man zugestehen, dass er subjektiv und vor Gott der Ansicht ist, die Kinder vor sexuellem Missbrauch durch Priester zu schützen, wenn er homosexuelle Männer aus dem Priesteramt heraushält. Aber welche Gerechtigkeit soll das sein für homose-xuelle Priester, die nicht die geringste Neigung zur Pädophilie haben?"
Derlei Zündstoff findet man auch in anderen Artikel, die den Focus erweitern. Darüber lässt sich trefflich streiten - nicht nur auf Katholikentagen: Wo und wie ziehen Glaube und Politik an einem Strang? Wo stehen sie einander im Weg? Jürgen Rüttgers etwa fragt nach den Maß-stäben für eine Politik der Gerechtigkeit im 21. Jahrhundert. Und Monika Pankoke-Schenk stellt sich dem Thema Frauen und Menschenrechte.
So unterschiedlich die Standpunkte, die Auffassungen, die Hintergründe: Es scheint Einigkeit darin zu bestehen, dass Gerechtigkeit als Fundament für den sozialen Frieden in einer Gesell-schaft unabdingbar ist. Sie fällt weder vom Himmel noch in den Schoß. Gerechtigkeit ist ein Zukunftsprojekt, an dem in Kirche und Gesellschaft bereits viele arbeiten und zu dem, ganz nüchtern betrachtet, alle berufen sind.
Die Textsammlung besticht durch die bunte Mischung der Beiträge, die allesamt gut verständ-lich sind und jeweils auf kurzem Raum einen oder mehrere Aspekte der umfassenden Thema-tik zumindest anreißen. Was hier als Vorteil anklingt, kann auch als Nachteil betrachtet wer-den. Nicht immer bleibt Raum für vertiefende Gedanken und tiefer bohrende Fragen. Von da-her empfiehlt es sich, den Weg nach Saarbrücken einzuschlagen und den Katholikentag mit engagierten Diskursen zu beleben.
Bischof Reinhard Marx (Hg.): Gerechtigkeit vor Gottes Angesicht. Worte, die weiter-führen
Herder Verlag: Freiburg i.Br. 2006
126 Seiten. 3,95 Euro