Russlands Intellektuelle und der Krieg

Zorn, Scham und Mut

08:18 Minuten
Eine Demonstrantin protestiert mit einem selbst gemalten Schild in Moskau gegen den Krieg in der Ukraine. Die junge Frau mit rosa Mantel hält das Papier vor sich.
Nein zum Krieg: Vielerorts in Russland protestieren Menschen gegen den Angriff auf die Ukraine und setzen sich damit der Gefahr von Repression aus. © Imago / NurPhoto / Daniil Danchenko
Georg Witte im Gespräch mit Julius Stucke · 01.03.2022
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Der Slawist und Literaturwissenschaftler Georg Witte sieht Intellektuelle in Russland in einer schwierigen Situation. Mit einer "Mischung aus Hilflosigkeit und Mut" würden sie auf Putins Krieg reagieren - im Bewusstsein, dass "Staatsterror" herrsche.

Gospodin president, nein, kein Zar sind Sie, sondern ein Dieb,
Usurpator und Schuft auf den Trümmern des alten Imperiums,
Und die Schande nur werden Sie ernten, bestimmt keinen Sieg.
Ja selbst jene verfluchen Sie schon, die auf Sie schworen.

Das sind Verse aus der ersten Strophe des Gedichts "Präsident und Deserteur" von Alexander Delfinov. Der in Deutschland lebende Autor und Aktivist veröffentlichte es auf Russisch unter dem Eindruck des Krieges in der Ukraine; der Berliner Slawist und Literaturwissenschaftler Georg Witte hat es "spontan und sehr schnell" übersetzt. Das Gedicht, formbewusst in fünf Strophen à zwölf Verse gegliedert, ist eine wortgewaltige Anklage des russischen Präsidenten Wladimir Putin.

Das vertonte Gedicht "Präsident und Deserteur" von Alexander Delfinov können Sie hier hören.

"Es ist ein Gedicht, das unmittelbar den Herrscher attackiert, das wirklich Gericht spricht", sagt sein Übersetzer Witte, der soeben aus Protest gegen den Krieg einen Lehrauftrag in Sankt Petersburg zurückgegeben hat. Es stehe in einer alten Tradition der direkten diskursiven Attacke auf den Herrscher, dies habe es bereits in der Romantik und unter Stalin gegeben, analysiert Witte. Er habe sich zunächst sehr gewundert, dieses Gedicht von Alexander Delfinov zu bekommen, den er als "unglaublich absurden Dichter" schätze, dessen Texte von einer abgrundtiefen Komik durchzogen seien.

Ich sehe sehr deutlich, dass immer mehr den Mut finden, sich auszudrücken und zu äußern.

Georg Witte

Der unerwartete Ton eines ganz bewusst gewählten Pathos verrate sehr viel darüber, "was jetzt in den Köpfen russischer Intellektueller vorgeht". Von diesen gebe es eine große Debatte in den sozialen Medien, wie man sich zu verhalten hat und warum – wie vor allem im Westen oft gefragt werde – es anscheinend so wenig Widerstand gegen die Invasion in der Ukraine gebe.

Kriegsgegner werden einkassiert

Doch diese Frage sei fast naiv und aggressiv, denn sie verkenne völlig die "staatsterroristische Situation" in Russland, wo Kritiker um ihr Leben fürchten müssten, sagt Witte. "Allein wenn man sich nur mit einem Schild 'Ich bin gegen den Krieg' auf die Straße stellt, wird man einkassiert und sitzt 30 Tage ein, wenn man Glück hat, wenn man nicht zusammengeschlagen wird von Brainwashed People, die seit Jahren aus den Staatsmedien nichts anderes hören, als dass kritische Intellektuelle Vaterlandsverräter sind und Ratten, die man wie Schädlinge vernichten muss."
Vier Begriffe fallen Witte ein, um die Reaktion vieler Intellektueller, Studenten und Schüler in Russland auf den Angriffskrieg zu beschreiben: Zorn, Scham, Hilflosigkeit und Mut. "Was kann man machen, wenn man so geknebelt ist? Es gehört ein unglaublicher Mut dazu, das zu tun, was jetzt getan wird, schon im Internet die Stimme zu erheben."
Es gebe die ersten Petitionen und offenen Briefe gegen den Krieg, berichtet der Slawist – auch von Professoren und Universitätsangestellten, die mindestens um ihre Stellen fürchten müssten. "Da regt sich immer mehr und das wird noch mehr werden. Das geht nach einer Lawinenlogik vor sich." Natürlich habe der Staatsterror eine große Angst geschürt.

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