Georg-Büchner-Preisträgerin Emine Sevgi Özdamar

Mit geteilter Zunge

29:50 Minuten
Porträt von Emine Sevgi Özdamar. Sie hat schwarze schulterlange Haare, trägt ein schwarzes Hemd und steht vor einer Wand mit Graffiti.
Die türkischstämmige Autorin Emine Sevgi Özdamar ist die Georg-Büchner-Preisträgerin 2022. © Getty Images / Simone Padovani / Awakening
Von Sieglinde Geisel · 04.11.2022
Audio herunterladen
Emine Sevgi Özdamar verstand kein Wort, als sie 1965 zum ersten Mal aus der Türkei in die Bundesrepublik kam. Jahre später schrieb sie Bücher auf Deutsch, die die hiesige Literatur veränderten. Dafür erhält sie nun den Georg-Büchner-Preis 2022.
Emine Sevgi Özdamar hat es verständlicherweise überrascht, dass ihr der Georg-Büchner-Preis 2022 verliehen wird.

Das Schöne ist, dass du so etwas nicht erwartest, dir nicht bewusst bist, dass jetzt gerade der Büchner-Preis vergeben wird oder der Kleist-Preis, sondern einfach ein Anruf kommt.

Emine Sevgi Özdamar

Auch andere waren überrascht, dass die Schriftstellerin und Schauspielerin mit dem renommierten Preis bedacht wird. Nicht etwa, weil sie Özdamars Werke nicht schätzen würden, im Gegenteil: Ihr Name genießt hohes Ansehen.
Die Titel ihrer Bücher haben sich längst als unvergesslich erweisen, auch wenn nicht jeder Leser sie in aller Vollständigkeit zu erinnern vermag: „Mutterzunge“, „Das Leben ist eine Karawanserei, hat zwei Türen, aus einer kam ich rein, aus der anderen ging ich raus“, „Seltsame Sterne starren zur Erde“.

Liebes-, Lebens- und Erfahrungshunger

Aber viele Leserinnen hatten Emine Sevgi Özdamar aus den Augen verloren. Die „Seltsamen Sterne …“, die in den Tagebuchjahren 1976 und 1977 über Wedding und Pankow leuchteten, waren nämlich im Jahr 2003 erschienen und seither hatte die Schriftstellerin Emine Sevgi Özdamar geschwiegen: 18 Jahre lang.
2021 veröffentlichte sie dann den opulenten, wiederum autobiografisch geprägten Roman „Ein von Schatten begrenzter Raum“, der gefeiert wurde und auf der Auswahlliste für den Preis der Leipziger Buchmesse stand.
Er brachte die Schriftstellerin nachhaltig in Erinnerung mit all dem Liebes-, Lebens- und Erfahrungshunger, den auch ihre früheren Bücher auszeichnen, und mit einer Sprache, die dieses heiter offene, zugewandte, sich verströmende Lebensgefühl erfahren lässt.

Muttersprache, Theatersprache

Diese Sprache ist nicht Emine Sevgi Özdamars Muttersprache. Özdamar wurde 1946 im türkischen Malatya geboren und wuchs in Istanbul auf. Als sie 1965 zum ersten Mal für ein halbes Jahr in die Bundesrepublik kam, verstand sie kein Wort.
1965 kehrte sie als sogenannte Gastarbeiterin zurück und blieb ein Jahr. 1976 floh sie vor dem Militärputsch und wurde Regieassistentin an der Ostberliner Volksbühne mit einer Wohnung in Westberlin, 1978 folgte sie dem Regisseur Benno Besson nach Paris.
Am Theater begann sie zu schreiben. Özdamar ist eine der ersten Autorinnen, die literarisch nicht oder nicht nur in ihrer Muttersprache, sondern auf Deutsch schreiben.

Sie hat ja mit ihrer Trilogie, die mit dem Karawanserei-Roman begann, den Kosmos eröffnet – den Kosmos, dass es Erfahrungen gibt, die es vorher in deutscher Sprache nicht gab, und dass die deutsche Sprache befruchtet werden kann von anderen Sprachen.

Helmut Böttiger

Ich habe ja, während ich anfing zu schreiben, gar nicht daran gedacht, in welcher Sprache ich schreibe. Ich bin der deutschen Sprache an dem wunderbaren deutschen Theater begegnet, ich hatte wahrscheinlich dadurch ein körperliches Verhältnis zur deutschen Sprache.

Emine Sevgi Özdamar

"Das war für mich ein Zauberort"

Wer mit Emine Sevgi Özdamar im Sommer 2022 ein Interview führen möchte, muss sie auf einer Insel im Mittelmeer besuchen. Eigentlich ist es eine Halbinsel. Der Hauptort heißt Ayvalık, am anderen Ende liegt das Dorf Cunda.
Seit den 80er-Jahren verbringt Emine Sevgi Özdamar hier den Sommer, zusammen mit ihrem Mann, dem Bühnenbildner Karl Kneidl.„Diesen Ort liebe ich sehr, das war für mich ein Zauberort, weil hier ja früher Griechen gelebt haben“, sagt sie.
Ayvalık liegt zwischen Troja und Bergama, dem antiken Pergamon, erzählt Emine Sevgi Özdamar der Journalistin Sieglinde Geisel gleich beim ersten Telefonat. Das Zentrum des antiken Griechenlands liege also auf der türkischen Seite der Ägäis.
Als in den 1920er-Jahren die moderne Türkei entstand, mussten über anderthalb Millionen Menschen ihre Heimat verlassen. Die Zwangsumsiedlung der türkischen Griechen in die Türkei und der griechischen Türken nach Griechenland ist eine der politischen Katastrophen, von denen „Ein von Schatten begrenzter Raum“ handelt.

Der blühende Jasminstrauch

Das Haus, in dem Emine Sevgi Özdamar die Sommer verbringt, wurde von Griechen erbaut. Es ist rosa, mit zartgrünen Fensterläden und Türen.
Von hier aus sieht man die „Orthodoxkirche“, in der im Roman die Stimmen der seit langem Abwesenden erklingen. Im Garten im Hof stehen Granatapfel- und Quittenbäume, der Jasminstrauch blüht auch im Spätsommer noch.
(pla)

Das Manuskript der Sendung können Sie hier herunterladen.

Es sprechen: Heidrun Bartholomäus, die Autorin und Olaf Ölstrom.
Ton: Alexander Brennecke.
Regie: Klaus-Michael Klingsporn.
Redaktion: Dorothea Westphal und Jörg Plath.

Mehr zum Thema