Genozid an den Armeniern

"Das Kind beim Namen nennen"

In Berlin lebende Armenier demonstrieren am 18.04.2015 am Brandenburger Tor in Berlin-Mitte für die Anerkennung des Genozids an 1,5 Millionen Armeniern durch das Osmanische Reich im Jahr 1915.
In Berlin lebende Armenier demonstrieren am 18.04.2015 am Brandenburger Tor in Berlin-Mitte für die Anerkennung des Genozids an 1,5 Millionen Armeniern durch das Osmanische Reich im Jahr 1915. © imago / Hohlfeld
Von Kemal Hür · 20.04.2015
Mit Spannung erwarten vor allem Armenier, ob der Bundestag am Freitag die massenhafte Vernichtung der Armenier 1915 durch das Osmanische Reich als Völkermord anerkennen wird. Auf vielen Veranstaltungen fordern Armenier das. In Berlin solidarisierten sich auch Türken und Kurden.
Es werden Namen verlesen von armenischen Intellektuellen, die am 24. April 1915 in Konstantinopel festgenommen und getötet worden sind. Eine Gruppe von etwa 100 Personen ist gegenüber der türkischen Botschaft in Berlin zu einer Mahnwache zusammengekommen – mit Forderungen, die sie jedes Jahr aufs Neue vortragen, sagt Ayla Apgaryan von der armenischen Kirche:
"Die historische Wahrheit. Das ist eigentlich alles. Die sollen das Kind beim Namen nennen. Gerade die Deutschen, die ja aus der Geschichte gelernt haben sollten, sollten sich nicht so zieren, das Wort zu benutzen – das Wort Völkermord, um es zu betonen."
Ayla Apgaryan stammt aus dem Dorf, das heute als einziges armenisches in der Türkei noch existiert. Es liegt am Fuße des Berges Musa Dagh in Süd-Anatolien. Apgaryans Großvater hat auf diesem Berg überlebt, wo sich Armenier während des Völkermordes versteckt hatten. Nach einem Jahrhundert, sagt Apgaryan, möchte sie endlich in Ruhe trauern können. Aber das sei immer noch nicht möglich.
Türkische Freundinnen haben Kontakt abgebrochen
"Es ist einfach schmerzhaft, weil wir die Trauerarbeit nicht abschließen können aufgrund dieser Leugnungspolitik. Wie soll ich um etwas trauern, was geleugnet wird. Und die Bundesregierung spricht von Versöhnung. Wie soll eine Versöhnung stattfinden, wenn die eine Seite behauptet, sowas hat nicht stattgefunden? Wo ist da die Grundlage für eine Versöhnung?"
Unter den Protestierenden befinden sich auch viele junge Armenier. Eine 23-jährige Studentin der Elektrotechnik mit langen schwarzen Haaren und schwarzen Augen möchte zunächst nicht sprechen. Aber ihre Freunde überreden sie, ihre Geschichte doch zu erzählen. Lernas Eltern stammen aus Istanbul. Sie ist in Berlin geboren und wuchs hier türkisch auf. Erst mit 16 erfuhr sie zufällig, dass sie eine Armenierin und keine Türkin ist.
"Das Thema wurde bei uns zu Hause nie angesprochen. Es war immer ein Tabuthema. Es wollte keiner darüber reden. Meine Eltern hatten immer Angst, dass auf der Straße, wenn ich mal ausplaudern würde, dass ich Armenierin bin, dass man mir etwas antun könnte oder man mich ausschließen könnte deswegen."
Einige ihrer türkischen Freundinnen hätten tatsächlich den Kontakt zu ihr abgebrochen, erzählt Lerna. Mit anderen sei sie noch befreundet. Aber über das Thema Genozid sprechen sie nie, weil sie unterschiedliche Positionen haben, sagt Lerna.
Von einigen wenigen Türken und Kurden unterstützt
Auswirkungen eines Genozids von vor einem Jahrhundert auf junge Menschen, die in Deutschland geboren sind. Lerna und die anderen hoffen, dass der Bundestag den Genozid endlich beim Namen nennt. Und sie übergeben ihre Forderung als Petition an das Kanzleramt. Dabei werden die Armenier von einigen wenigen Türken und Kurden unterstützt. Der alevitische Kurde Ismail Erol ist in einem Dorf in Ostanatolien geboren, wo noch armenische Grabsteine zu sehen sind, erzählt er.
"Ich hab mich schon immer gefragt, was mit denen geschehen ist, warum wir in diesem Dorf sind und wo sie alle hingegangen sind. Es liegt mir natürlich viel näher, weil ich aus so einem Dorf komme."
Nihat Kentel, ein türkischer Berliner, ist einer der Gründer der "AktivistInnenvereinigung gegen Rassismus, Nationalismus und Diskriminierung". Darin sind türkischstämmige Menschen organisiert. Kentel sagt, es sei eine moralische Frage, die Anerkennung des Genozids zu fordern.
"Das ist ein Gewissensproblem. Je weiter ein Völkermord verleugnet wird, gibt es das Potenzial, das es wiederholt wird."
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