Armenien in der türkischen Literatur

"Solange wir nicht gemeinsam geweint haben"

Eine Gruppe armenischer Flüchtlinge aus dem osmanischen Reich 1915 in Syrien
Eine Gruppe armenischer Flüchtlinge aus dem osmanischen Reich 1915 in Syrien © picture alliance / dpa / Library of Congress
Von Susanne Güsten · 17.04.2015
Der Völkermord an den Armeniern vor 100 Jahren war bis vor Kurzem in der Türkei tabu. Die Literatur half, das Schweigen zu brechen.
Vor 100 Jahren begann der Völkermord an den Armeniern. Hunderttausende anatolische Christen wurden zwischen 1915 und 1917 aus dem untergehenden Osmanischen Reich vertrieben und von türkischen Truppen und kurdischen Freiwilligen ermordet oder starben bei monatelangen Zwangsmärschen in der syrischen Wüste; die weitaus meisten Opfer waren Armenier.
Das Grauen ist historisch reichlich dokumentiert, doch in der Türkei war das Thema noch bis vor Kurzem tabu. Bis heute findet sich in türkischen Schulbüchern kaum ein Hinweis auf die Massaker. Erst in den letzten Jahren hat eine gesellschaftliche Aufarbeitung begonnen. Dieser Prozess ist inzwischen so weit fortgeschritten, dass der türkische Präsident Erdogan im vergangenen Jahr erstmals offiziell das von den Armeniern erlittene Leid eingestehen konnte.
Angestoßen wurde diese Aufarbeitung aber nicht vom Staat, sondern von der Zivilgesellschaft und insbesondere von der Literatur. Indem sie jenseits politischer Parolen und ideologischer Geschichtsbilder den Blick auf das menschliche Leiden eröffneten, schafften es türkische Schriftsteller, das Tabu zu brechen.
Manuskript:
Chorprobe
Der Sayat-Nova-Chor bei der Probe. Diskret im Hinterzimmer eines Kulturvereins in der Istanbuler Innenstadt studiert der armenische Gesangsverein seine Lieder ein. Die Männer und Frauen, die sich abends hier versammeln, um ihre Sprache zu sprechen und ihre Kultur zu bewahren, sind türkische Armenier – Angehörige einer heute winzigen Minderheit von 70.000 Menschen in der 78 Millionen Einwohner zählenden Türkei.
Warum diese Minderheit so klein ist, das ist jedem der Chormitglieder schmerzhaft bewusst. Denn das Schicksal der Armenier von Anatolien gehört für jeden der Männer und Frauen im Chor zur Familiengeschichte. So ist es bei der Buchhalterin Hilda Teller, die Sopran singt:
"Ich bin in Istanbul geboren und aufgewachsen, aber meine Vorfahren stammen aus Sivas im Osten der Türkei. Ein Teil der Familie ist 1915 ausgelöscht worden, die Überlebenden sind damals nach Istanbul geflohen mit allem, was sie retten konnten. Deshalb leben wir nun hier."
Und so ist es bei dem Laborarzt Pakrat Estukyan, der die Bassstimmen anführt:
"Ich bin hier in Istanbul geboren, wie auch schon mein Vater, aber unsere Wurzeln sind nicht hier – wir sind erst seit 1915 Istanbuler. Die Familien meiner Eltern kamen aus der ganzen Türkei: der Vater meines Vaters aus Sivas im Osten, die Mutter meines Vaters aus Tokat in Zentralanatolien, die Mutter meiner Mutter aus Karahisar im Südwesten und der Vater meiner Mutter aus Erzincan in Ostanatolien. Sie kamen alle aus großen Familien, aber nach 1915 waren sie jeweils die einzigen Überlebenden ihrer Familien. Sie haben sich in Waisenhäusern kennengelernt und geheiratet."
Die Massaker an den Armeniern von Anatolien im untergehenden Osmanischen Reich sind für die armenische Gemeinde der Türkei keine ferne Vergangenheit, der Schrecken ist für sie lebendig. Millionen Armenier ließ die osmanische Regierung im Ersten Weltkrieg aus Anatolien deportieren, weil sie der Kollaboration mit den aus Osten vorrückenden Russen verdächtigt wurden.
Hunderttausende starben bei den Todesmärschen, mit denen die Armenier aus ganz Anatolien in die Wüsten von Syrien geschickt wurden. Nur wenige kehrten nach dem Krieg zurück, die meisten Überlebenden zerstreute es in alle Welt.
Massengrab mit den Leichen getöteter Armenier. Rund 1,5 Millionen Armenier sind in den Jahren 1915 und 1916 bei den Massenmorden und Deportationen durch die Türken ums Leben gekommen. Als Folge flüchteten die Armenier aus dem türkischen Teil Armeniens in den russischen Teil sowie in andere Länder.
Massengrab mit den Leichen getöteter Armenier. Rund 1,5 Millionen Armenier sind in den Jahren 1915 und 1916 durch Massenmorde und Deportationen ums Leben gekommen.© picture alliance / dpa / Foto: epa CRDA
Eine offene Wunde im kollektiven Bewusstsein
Die Türkei weist aber nicht nur bis heute den Vorwurf des Völkermords zurück, sie ließ sich fast ein Jahrhundert lang auch auf keine Diskussionen darüber ein, sondern erklärte dieses Kapitel ihrer Geschichte zum Tabu. Im kollektiven Bewusstsein der Gesellschaft ist die Wunde deshalb noch immer offen, sagt die türkisch-armenische Schriftstellerin Jaklin Celik – und das nicht nur bei der armenischen Minderheit
"Wir haben alle ein Trauma. Wir Armenier leben mit der Trauer, weil wir alle mit diesen Erinnerungen aufgewachsen sind, mit den Familiengeschichten - jede Familie hat diese Vergangenheit, diese Erinnerungen an die Massaker, den Völkermord, die Umsiedlung - wie immer man es nennen will. In jeder Familie ist das so, aber es musste immer verheimlicht werden, immer hieß es: Vorsicht, bloß nicht darüber sprechen! Vorsicht, nicht dass sie uns hören! Davon, dass sie das immer in ihrem Inneren verschlossen halten mussten, haben die Armenier ein Trauma. Das ist das Trauma der Armenier. Was die Türken angeht, so besteht ihr Trauma in der Verneinung. Wir haben das nicht gemacht, sagen sie, aber sie wissen nicht einmal, warum sie das sagen – auch sie sind ein traumatisiertes Volk."
Der Mann streicht dem Kind über den Kopf und sagt leise: "Kürdo, kürdo." Die Kleine hebt den Kopf und sieht den Mann mit großen Augen an: "Ich bin nicht kurdisch, ich bin armenisch." Die Frau bekommt Angst vor der Reaktion des Mannes auf diese Enthüllung und kneift das Kind in den Po, um sie zu warnen, dass sie nicht weitersprechen soll. Der Mann lacht herzlich über die hervorgesprudelten Worte des Kindes; dann dreht er sich auf dem Absatz um und verlässt kopfschüttelnd das Abteil. "Mama?", fragt das Kind, das noch immer von dem Schmerz in seinem Po überrascht ist. "Mama, was ist ein Kurde und was ist ein Armenier?"
(Kum Saatinde Kumkapi, Aras Verlag, Übersetzung: Susanne Güsten)
Aus der "Bahnhofstrilogie" von Jaklin Celik stammt diese Szene, in der die junge Schriftstellerin die Angst und das Schweigen thematisiert. Dass sie diese Kurzgeschichte in der Türkei veröffentlichen konnte, markiert einen Fortschritt, stellt Celik fest:
"Hundert Jahre nach 1915 haben wir nun immerhin begonnen, darüber zu sprechen. Sehr schmerzhaft ist dieser Prozess noch, und der Preis ist hoch, wie wir erleben mussten, aber zumindest haben wir begonnen, darüber zu sprechen."
Erst seit wenigen Jahren werden in der türkischen Literatur Stimmen wie diese hörbar, die sich mit dem Schicksal der anatolischen Armenier auseinandersetzen und mit der Erblast dieser Vergangenheit. Ganz behutsam begann es, wie mit dieser Erzählung der türkischen Schriftstellerin Ayla Kutlu, die ihre Schilderung eines Todesmarsches noch in eine Traumsequenz verpackte:
"Das zweistöckige weiße Haus mit seinen hundert Teppichen erschien, [rundherum verschlossen mit Riegeln und Schlössern]. Die beiden Hunde des Hauses erschienen, seine Hühner und Gänse, seine Katze und der blau-weiße Vogel im Käfig. Nach einer kurzen Dunkelheit erschien ein kleines Mädchen, [einen] Vogelkäfig schwenkend, das sich in den [...] Deportationszug einreihte. Bis zum Horizont erstreckte sich die Karawane von Männern, Frauen und Kindern, die zu Fuß, mit Gepäck und Traglasten beladen, kranke Menschen stützend, in die Verzweiflung zogen. Hunger und Durst hatten die Menschen im Zug, sie wünschten sich den Tod herbei und beteten."
(Entschleierung. Anthologie türkischer Erzählerinnen. Verlag Dost Yayinlari. Übersetzung: Christoph K. Neumann)
Anfang der 90er-Jahre schrieb Ayla Kutlu diese Erzählung mit dem Titel "Der Seelenvogel" – eine der ersten literarischen Stimmen, die sich erhoben, sagt ihr deutscher Übersetzer, Christoph Neumann, der viele türkische Schriftsteller bis hin zum Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk ins Deutsche übertragen hat:
"Das war für eine türkische Autorin damals natürlich schon ziemlich früh. Was damals in den 90er-Jahren langsam möglich wurde, war, dass das Einzelschicksal in der Literatur seinen Ausdruck finden und seinen Leser finden konnte - das Einzelschicksal im Gegensatz zum Kollektivschicksal, zur offensiven Auseinandersetzung mit der politischen Lage damals und mit der Kontinuität der politischen Lage damals bis ins Heute. Die Frage des türkischen Nationalismus zu verknüpfen mit der Frage der Vernichtung der armenischen Anatolier, das war damals noch nicht möglich, aber das ist etwas, was heute tatsächlich möglich geworden ist."
Über Nacht ist das freilich nicht geschehen. Auf einen langen und oft schweren Weg blickt der türkisch-armenische Verleger Rober Koptas zurück:
Gedenken an die armenischen Opfer vom 24. April 1915 in Istanbul.
Gedenken an die armenischen Opfer vom 24. April 1915 in Istanbul. © imago / Xinhua
Diese Öffnung ermöglichte den armenisch-türkischen Aras-Verlag, zu dessen Führungskollektiv Rober Koptas gehört. 1993 als erster armenischer Buchverlag der modernen Türkei gegründet, schaltete sich der kleine Verlag literarisch in die einsetzende Debatte ein, zunächst vorwiegend mit Erzählungen und Romanen türkisch-armenischer Autoren:
"Absicht des Verlags war und ist es, die Literatur der türkischen Armenier und zugleich die armenische Kultur und Geschichte bekannt zu machen. Das war nötig, weil die armenische Minderheit in der Türkei allgemein falsch präsentiert, ausgegrenzt und als feindliches Volk dargestellt wird, weil die armenische Gemeinde hier ein schweres Leben führt. Wir wollten über die Literatur, mit Büchern die Vorurteile gegen die Armenier überwinden. Wir hielten die Literatur für einen guten Weg zur Völkerverständigung, auf diesem Gedanken haben wir den Aras-Verlag gegründet.
Mit Erzählungen die Debatte eröffnet
Mit Veröffentlichungen wie den Erzählungen von Migirdic Margosyan weckte der Aras-Verlag das Interesse türkischer Leser an den anatolischen Armeniern und ihrer Geschichte. In seinen Büchern erzählt Margosyan von seiner Kindheit im armenischen Stadtviertel der heute kurdischen Stadt Diyarbakir in den 40er-Jahren – im sogenannten "Gavur Mahallesi", dem Gottlosen-Viertel, wie die Kurden die Wohngegend der Christen nannten.
Der Name lebt heute als Titel von Margosyans bekanntestem Buch fort, doch in Diyarbakir selbst gibt es keine Armenier mehr. Die letzten Familien verließen die südostanatolische Stadt in den 90er-Jahren, auf der Flucht vor Ausgrenzung, Diskriminierung und Rassenhass – ironischerweise genau zu jenem Zeitpunkt, als die türkische Intelligenzia gerade begann, sich kritisch mit ihrem Verhältnis zu den Armeniern auseinanderzusetzen.
Während die letzten Armenier von Diyarbakir nach Istanbul übersiedelten, konnte der Aras-Verlag im Jahr 2000 nach langem Zögern und Bangen eine wachsenden Nachfrage nach Büchern über die armenische Geschichte verzeichnen und neben seinem literarischen Programm auch Sachbücher zur Vergangenheit verlegen. Ein politisches Wagnis, das sich gelohnt hat, bilanziert Rober Koptas:
"Vor 15 Jahren wusste man hierzulande nichts über die Armenier, fast nichts jedenfalls. Durch unsere Bücher - durch unsere Geschichtsbücher, durch die Literatur von Migirdic Magosyan, inzwischen aber auch durch Bücher anderer Verlage - steht die Diskussion heute auf einer solideren Grundlage. Früher wurde über die Armenier sozusagen im luftleeren Raum diskutiert, da war der Diskurs sehr leicht zu manipulieren. Heute aber verstehen viele Menschen in der Türkei - Akademiker wie auch normale Bürger -, nicht zuletzt durch die Bücher des Aras-Verlages, dass es bei der sogenannten Armenierfrage nicht nur um Zahlen oder Politik geht, sondern dass die Armenierfrage vor allem eine Frage der Menschlichkeit ist."
Eine Einsicht ist das, zu der auch einzelne türkische Schriftsteller viel beigetragen haben – denn alleine hätten der Aras-Verlag und die armenische Minderheit sich in der türkischen Gesamtgesellschaft kein Gehör verschaffen können.
Zu den türkischen Autoren, die das Thema der Armeniermassaker schon relativ früh aufgegriffen und literarisch verarbeitet haben, zählt Ahmet Ümit, dessen sozialkritische Polit-Krimis zu den meistverkauften Büchern des Landes gehören.
"Mir geht es nicht um bestimmte Ereignisse, für mich als Schriftsteller geht es um den Menschen. Und eines der drückendsten Probleme, mit denen sich die Menschen herumschlagen, ist die Andersartigkeit, die Ablehnung von Menschen, die eine andere Kultur, eine andere Religion, eine andere Abstammung haben als wir selbst - eine Ablehnung, die bis zur Auslöschung der anderen geht. Das ist nicht nur in der anatolischen Kultur so, das ist leider in der gesamten Menschheitsgeschichte immer wieder so gewesen, aber eben auch in Anatolien. Ein Beispiel dafür ist die Vertreibung der Armenier aus Anatolien von 1915, ein anderes war 3300 Jahre davor der Krieg zwischen den Hethitern und den Assyrern auf demselben Boden. "
Um beide Ereignisse, die Vertreibung der Armenier und den Krieg der Hethiter, geht es in einem Roman von Ahmet Ümit mit dem Titel "Patasana". Aus wechselnden Perspektiven von türkischen, armenischen, kurdischen und europäischen Romanfiguren erzählt Ümit darin die Geschichte einer archäologischen Grabung im Osten der Türkei, bei der die Teilnehmer auch mit der jüngeren Vergangenheit konfrontiert werden. Ein deutscher Archäologe namens Bernd rührt in einer weinseligen Diskussion mit einem türkischen Offizier an das Tabu, was mit den Armeniern geschah:
"Bernd [wandte die zusammengekniffenen Augen von Halaf ab] und dem Hauptmann zu. "Sie sind es, der falsch informiert ist", sagte er ohne zu zögern. Dass Esref ihr Gast war und ihnen mehrmals geholfen hatte, [ließ ihn] seinen Ton nicht mäßigen. "Eure Machthaber belügen euch seit Jahrzehnten. Sie versuchen zu verbergen, dass sie den ersten Massenmord der Welt verübt haben." Auf dem wettergegerbten Gesicht von Esref breitete sich [] Röte aus. "Der Wein hat Ihr Gedächtnis getrübt", sagte er [und] betonte jedes einzelne Wort: "Sie bringen die Deutschen und die Türken durcheinander." Bernd, der mit dieser Antwort nicht gerechnet hatte, wurde noch wütender. [...] "Ich bringe sie nicht durcheinander, mein Herr. Ja, wir Deutsche haben Taten begangen, für die man sich schämen muss, die Menschheit wird die Massaker, die wir verübt haben, nicht vergessen, aber wir haben das alles zugegeben. Warum gebt ihr es nicht zu?"
(Patasana, Edition Galata, dt. Dagyeli Verlag, Übersetzung: Recai Halac)
Deutliche Worte waren das, fast unerhört in der Türkei, als der Roman im Jahr 2002 erschien. Dass er sie so schreiben konnte, ohne juristische oder politische Scherereien zu bekommen, lag nach Ansicht von Ahmet Ümit an seinem Herangehen:
"Ich habe es anders als manche andere Schriftsteller nicht für notwendig gehalten, viel Wind darum zu machen. Die Geschichte dieses Landes muss für einen Schriftsteller dieses Landes doch das natürliche Material sein, finde ich. Zudem habe ich nicht aus einer ideologischen Perspektive geschrieben, nicht aus der Sicht der Türken, der Armenier oder der Kurden, sondern aus der Perspektive der einzelnen Menschen, so wie Dostojewski das in den Brüdern Karamasow getan hat, wo er einmal aus der Sicht eines Atheisten schreibt und dann aus der Sicht eines orthodoxen Priesters. Das muss die Haltung eines Schriftstellers sein, finde ich, er muss verunsichern."
Verunsicherte reagieren aber mitunter unberechenbar, wie etliche türkische Autoren noch erfahren sollten. Flog Ahmet Ümit seinerzeit noch knapp unter dem Radar der türkischen Nationalisten, so gelang das anderen schon wenig später nicht mehr. Der Schriftstellerin Elif Safak etwa. In einem Internet-Chat an ihre armenische Romanheldin lässt sie eine fiktive E-Mail-Korrespondentin schreiben:
"Worüber willst Du denn mit normalen Türken reden? fragte Lady Peacock/Siramark. Schau mal, sogar die Gebildeten sind entweder Nationalisten oder Ignoranten. Glaubst du, normale Leute hätten ein Interesse daran, historische Wahrheiten zu akzeptieren? Glaubst du, sie werden sagen: 'Ach ja, tut uns leid, dass wir euch abgeschlachtet und deportiert haben und dann einfach alles geleugnet haben.' Warum willst du dich unbedingt in Schwierigkeiten bringen?"
(Der Bastard von Istanbul, aus dem amerik. Englisch von Juliane Gräbener-Müller, Eichborn, Frankfurt aM 2007)
Eine Beleidigung des Türkentums sei das, fand die Staatsanwaltschaft und forderte dreieinhalb Jahre Gefängnis für die Schriftstellerin, nach dem berüchtigten Artikel 301 des Strafgesetzbuchs. Schon ein paar Monate zuvor hatten nationalistische Ankläger mithilfe dieses Artikels den späteren Nobelpreisträger Orhan Pamuk vor Gericht gestellt, in seinem Fall wegen einer Interview-Äußerung zu den Massakern an den Armeniern.
Vor Gericht wegen einer Romanfigur
Elif Safak wurde aber zur ersten Schriftstellerin der Türkei, die nicht wegen eigener Stellungnahmen, sondern wegen Äußerungen ihrer Romanfiguren vor Gericht gestellt wurde. Äußerungen wie diese Worte ihres fiktiven Bloggers Baron Baghdassarian:
"Wir sagen zu den Türken: Seht, wir trauern, wir haben nun fast ein Jahrhundert lang getrauert, weil wir unsere Angehörigen verloren haben, aus unseren Häusern gejagt, von unserem Land vertrieben wurden; weil wir wie Tiere behandelt und wie Schafe abgeschlachtet wurden. Sogar ein anständiger Tod wurde uns verweigert. Nicht einmal das Leid, das unseren Großeltern zugefügt wurde, war so quälend wie die systematische Leugnung, die dann folgte."
(Der Bastard von Istanbul, aus dem amerik. Englisch von Juliane Gräbener-Müller, Eichborn, Frankfurt aM 2007)
Elif Safak wurde vom Gericht freigesprochen, der Artikel 301 ist seither reformiert und abgemildert worden. Trotzdem erfordert es in der Türkei noch immer Mut, offen über die Ereignisse von 1915 und das Schicksal der Armenier zu schreiben und zu veröffentlichen, sagt Rober Koptas vom Aras-Verlag:
"Wenn das Buch von Elif Safak uns vorgelegt worden wäre, dann hätten wir sehr genau darüber nachdenken müssen, ob wir es annehmen können oder ob wir uns damit übergroßem politischen Druck aussetzen würden. Ich kann jetzt gar nicht sagen, ob wir es am Ende angenommen oder abgelehnt hätten - sicher ist nur, dass wir das ganz genau geprüft und uns sehr gut überlegt hätten. Denn wir könnten es nicht verkraften, dauernd vor Gericht und durch die Presse gezerrt zu werden."
Auch das wohl einflussreichste Buch der letzten Jahre zu diesem Thema, "Meine Großmutter" von Fethiye Cetin, erschien im Metis-Verlag - und das war gut so, sagt die Autorin, die anfangs auch eine Veröffentlichung in einem armenischen Verlag erwogen hatte:
"Ich habe gesagt: Nein, das würde die Wirkung des Buches begrenzen. Dieses Buch muss in einem nicht-armenischen Verlag erscheinen. Und es hat sich ja dann auch gezeigt, dass das richtig war. Wenn es von einem Armenier geschrieben oder veröffentlicht worden wäre, dann wäre es in manchen Kreisen von vorneherein mit Vorurteilen aufgenommen worden."
Fethiye Cetin erzählt die Geschichte ihrer armenischen Großmutter aber zugleich auch ihre eigene Geschichte – denn bis ins Erwachsenenalter wusste Fethiye Cetin selbst nichts von ihren armenischen Wurzeln. Wie Millionen andere Türken war sie zum Stolz auf die glorreiche türkische Nation erzogen worden und rezitierte als Schülerin an Nationalfeiertagen begeistert patriotische Gedichte über die ruhmreiche Vergangenheit der Türken.
Als ihre Großmutter kurz vor ihrem Tod das Geheimnis lüftete, dass sie als armenisches Kind von einem türkischen Offizier aus dem Deportationszug gerettet und von seiner Familie aufgezogen worden war, zog diese Enthüllung der Enkelin zunächst den Boden unter den Füßen weg.
"Ich hatte nicht die Kraft, weiter zuzuhören. Nur mit äußerster Anstrengung konnte ich mich davon abhalten, schreiend und weinend davonzulaufen. Was meine Großmutter mir da erzählte, passte zu nichts von all dem, was ich bisher wusste. Es stellte die Welt auf den Kopf und zerschlug alle meine Werte in tausend Trümmer. Ich wusste nicht einmal mehr, was ich fühlte. Und während verworrene Gedanken durch meinen Kopf pulsierten und strudelten, ergriff mich eine tiefe Furcht, die alle und alles in die Tiefe zu ziehen drohte."
(Anneannem, Metis Verlag, Übersetzung: Susanne Güsten)
Eine Furcht, die offenbar schon viele Türken empfunden haben. Jedenfalls wird Fethiye Cetin seit Erscheinen ihres Buches immer wieder von Landsleuten aufgesucht, angeschrieben oder auf der Straße angehalten.
"Einen weiteren Effekt hat das Buch gehabt, der mir große Hoffnung gibt, das haben mir viele Leser gesagt und sogar Menschen auf der Straße: Fast jeder Leser hat dadurch begonnen, über seine eigene Familiengeschichte nachzudenken: Ob wohl auch einer meiner eigenen Großeltern einen anderen ethnischen Hintergrund hatte? Solche Fragen kamen bei den Lesern auf. Wenn wir so zu denken beginnen, dann können wir einander nicht mehr Feinde sein, die Feindschaft wird dadurch zerstört, und über diesen Effekt bin ich sehr froh."
Drastische Schilderungen des Leids
Weil sich die türkischen Leser mit ihr identifizierten, konnte Fethiye Cetin ihnen das Schicksal ihrer Großmutter Heranusch und die Ereignisse von 1915 mit einer Deutlichkeit schildern, die von anderen Autoren wohl nicht akzeptiert worden wäre. In langen Passagen des Buches lässt Cetin ihre Großmutter selbst berichten:
"Meine Mutter war so ängstlich darauf bedacht, beim Marsch nicht ans Ende der Kolonne zurückzufallen, dass sie immer sehr schnell ging, und weil wir nicht mitkamen, zog sie uns an den Händen mit. Hinten in der Kolonne konnten wir Menschen schreien, weinen und flehen hören. Jedes Mal ging meine Mutter dann noch etwas schneller, um uns daran zu hindern, uns umzudrehen und zurückzublicken. Am Abend des ersten Tages auf dem Marsch kamen zwei meiner Tanten von hinten vorgerannt, sie weinten hysterisch. Eine andere Tante, die Frau meines Onkels, war krank und hatte nicht mehr laufen können. Da haben die Gendarmen sie mit dem Bajonett getötet und ihre Leiche an den Straßenrand geworfen."
(Anneannem, Metis Verlag, Übersetzung: Susanne Güsten)
Fethiye Cetin zeichnet in ihrem Buch das armenische Mädchen Heranusch und seine Familie so nah und menschlich, dass der Leser ihren Leidensweg von innen miterlebt. Wohl kaum ein Leser, und stehe er der Völkermordsthese noch so skeptisch gegenüber, hat ohne Tränen die Szene lesen können, in der die junge Heranusch ihrer Mutter entrissen wird: Die muss alleine weiterziehen in den sicheren Tod.
Kaum erträglich ist eine Passage, in der Heranuschs Großmutter zwei ihrer Enkeltöchter im Fluss ertränkt, um sie nicht halbtot am Wegrand liegen lassen zu müssen, und sich dann selbst in die Fluten stürzt. Das Schicksal einer einzigen armenischen Familie hat die Türken stärker berührt als alle historischen Dokumente oder politischen Argumente. Eine Brücke, die nur die Kunst schlagen kann, meint Fethiye Cetin:
"Ich bin ja eigentlich Juristin. Aber den Schmerz von 1915 kann man mit der Kälte des Rechts nicht vermitteln. Ich wollte von den Menschen erzählen und von ihrem Schmerz, weil kein Gesetz, kein Prozess und keine Strafe die 1915 erlebten Schmerzen ausdrücken kann. Die Literatur ist dabei sehr wirksam. Ein Schriftsteller kann den Schmerz eines Menschen sichtbar machen, und der Leser kann ihn dann sehen. Das ist das Wichtige."
Ein zweites Buch hat Fethiye Cetin nicht geschrieben, als Schriftstellerin hat sie gesagt, was sie zu sagen hatte. Als Rechtsanwältin unterhält sie außer ihrer Kanzlei noch ein zweites Büro in einem Hinterzimmer der armenisch-türkischen Wochenzeitung "Agos". Deren Gründer und Chefredakteur Hrant Dink vertrat sie zu Lebzeiten in seinen Zusammenstößen mit der türkischen Justiz, noch immer engagiert sie sich als Rechtsvertreterin für seine Zeitung.
Türken und Armenier halten am 24.04.2014 in Istanbul Schilder des ermordeten Journalisten Hrant Dink und anderer Opfer während der Gedenkfeier zum 99. Jahrestag der Massenmorde von Armeniern im Ottomanischen Reich.
Türken und Armenier halten am 24.04.2014 in Istanbul Schilder des ermordeten Journalisten Hrant Dink und anderer Opfer während der Gedenkfeier zum 99. Jahrestag der Massenmorde von Armeniern im Ottomanischen Reich.© picture alliance / dpa - Sedat Suna
Toter Hoffnungsträger Hrant Dink
Nicht zufällig muss jeder, der sie dort aufsucht, an einem zwei Meter hohen Porträtfoto von Hrant Dink vorbei. Der Einfluss, den der einstige Waisenjunge aus dem ostanatolischen Malatya auf die literarische Suche nach der Wahrheit über die Armenier von Anatolien gehabt hat, ist kaum zu überschätzen. Fethiye Cetin und Ahmet Ümit brachten ihre Manuskripte vor der Veröffentlichung zu ihm, Jaklin Celik schrieb für seine Zeitung, Rober Koptas rieb sich an ihm, und Elif Safak sagte über ihn:
"Er hat uns Hoffnung und Zuversicht gegeben, aber vor allem hat er uns seine Träume gegeben: Er hat uns den Glauben gegeben, dass wir Erben des Osmanischen Reiches und Bürger der modernen Türkei zusammenleben können, ohne die Erinnerung an die Vergangenheit auszulöschen."
Ebenso wie Elif Safak wurde Hrant Dink für schriftliche Äußerungen zur Armenierfrage wegen Beleidigung des Türkentums nach Artikel 301 vor Gericht gestellt, anders als Elif Safak wurde Hrant Dink dafür auch verurteilt. In seiner Zeitungskolumne dachte Dink nach der Verurteilung laut darüber nach, mit seiner Familie die Türkei zu verlassen – und verwarf den Gedanken sogleich wieder:
"Wir wollen bleiben und kämpfen. Wenn wir eines Tages zum Gehen gezwungen würden, dann würden wir so gehen, wie unsere Vorfahren 1915 gingen... Ohne zu wissen, wohin... Auf den Straßen, auf denen auch sie gingen... Ihre Schmerzen fühlend, ihre Qual durchlebend...Nur so würden wir unser Land verlassen... Ich hoffe aber, dass wir solch einen Abschied nie und nimmer werden nehmen müssen. Meine Zuversicht beziehe ich trotz allem aus dieser Tatsache: Ja, ich mag mich furchtsam fühlen wie eine Taube. Aber ich weiß, dass in diesem Land kein Mensch einer Taube etwas zuleide tut. Mitten in der Stadt und in der Menschenmenge können die Tauben ihr Leben leben. Etwas furchtsam, ja, aber auch frei."
(Agos, Übersetzung: Susanne Güsten. Die Kolumne erschien in meiner Übersetzung bereits unmittelbar nach dem Tod Dinks im Januar 2007 in voller Länge im Berliner "Tagesspiegel" und in anderen deutschen Zeitungen.)
Eine Woche nach Erscheinen dieser Kolumne wurde Hrant Dink am 19. Januar 2007 auf der Straße vor der Agos-Redaktion erschossen. Ein nationalistischer Killer jagte ihm drei Kugeln in Kopf und Nacken. Sein Tod bedeutete nicht nur einen schweren Verlust für die türkische Demokratie, er warf die begonnene Aufarbeitung der Vergangenheit um Jahre zurück und ließ viele türkische Armenier an ihrem Land verzweifeln, so auch Rober Koptas vom Aras-Verlag:
"Seine Ermordung hat mir die Hoffnung genommen. Ich glaubte immer zutiefst, dass die Türkei sich verändere, zum Guten verändere. Aber mit der Ermordung von Hrant Dink hat sich meine Hoffnung zerschlagen. Das war ein tiefer Schock, für mich wie auch für viele andere."
Die Debatte lässt sich auch mit Gewalt nicht aufhalten
Dennoch lässt sich auch mit der Waffe nicht ungeschehen machen, was Hrant Dink und viele andere mit der Feder bewirkt hatten. Das Tabu ist gebrochen, die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit hat begonnen, auch wenn sie durch die Bluttat vor der Agos-Redaktion unterbrochen wurde, sagt Fethiye Cetin:
"Nach dem Mord an Hrant Dink hat etwa ein Jahr lang niemand mehr über 1915 gesprochen, und das war wahrscheinlich auch die Absicht dahinter. In diesem Sinne haben die Täter mit diesem Anschlag ihr Ziel erreicht. Ein Jahr lang ist nicht über die Armenier diskutiert, worden, da hat es einen Rückzug gegeben. Aber heute kann ich auch sagen, dass es in letzter Zeit eine neue Welle gibt, dass sich das wieder umdreht. Weil nämlich auch der Mord an Hrant Dink viele Menschen dazu bewegt hat, sich für die Armenier zu interessieren, und dadurch haben sie von den Ereignissen von 1915 erfahren – diese Wirkung hat es auch gegeben."
Das Schweigen über das Schicksal der Armenier, einmal gebrochen, ist nun auch mit Gewalt nicht wieder herzustellen. Die Vergangenheitsbewältigung in der Türkei steht damit aber erst am Anfang, glaubt Ahmet Ümit:
"Wir müssen uns dieser Wirklichkeit stellen, wir müssen verstehen, was damals geschehen ist, wir müssen dem ins Auge sehen, wir müssen also davon erzählen. Und zwar nicht nur wir Schriftsteller, das kann die Kunst nicht alleine schaffen, vor allem die Zivilgesellschaft, die Vereine und Verbände und alle politischen Parteien müssen das tun. Was ist 1915 geschehen? Wohin sind diese Menschen gegangen? Was ist aus ihnen geworden? Dem müssen wir ins Auge sehen. Das ist Teil unserer Geschichte, und das gehört zur Demokratisierung der Türkei und zu ihrer Wandlung zur multikulturellen Gesellschaft. Wenn wir uns dieser Sache stellen würden und auch der Kurdenfrage, dann wäre die Türkei ein besseres Land."
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