Geniale Luftschlösser

Die Wirkung eines ungebauten Hauses

49:57 Minuten
Utopie Projekt eines kugelrunden Hauses für landwirtschaftliche Mitarbeiter von Claude Ledoux. Ein Kupferstich aus dem Magasin Pittoresque von 1859.
In unserer Sommerreihe "Luftschlösser" beleuchten wir nie gebaute Architektur und ihre Bedeutung © Imago / Kharbine-Tapabor
06.08.2021
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Eine gläserne Kuppel über Manhattan, horizontale Wolkenkratzer in Moskau, eine Siedlung für künftige Klimaflüchtlinge. Auf den ersten Blick: glatte Fehlschläge. Langfristig aber: große Erfolge. Diese Entwürfe haben die Architekturgeschichte verändert.
Warum werden gute Ideen manchmal einfach nicht umgesetzt? Und welche Träume und Wünsche einer Gesellschaft lassen sich aus ihnen ablesen?
"Manchmal ist ein ungebautes Haus viel einflussreicher als ein gebautes", sagt FAZ-Architekturkritiker Niklas Maak. [AUDIO] "Ein ungebautes Haus kann ein ganz starkes Bild sein." Solche Bilder könnten Maaks Meinung nach einen unheimlichen Einfluss auf die Vorstellungskraft von Architekten entwickeln, sodass deren Entwürfe wiederum von diesem ungebauten Haus geprägt sind.
Maak hält es für die "Qualität von Architekten, Ermutiger zu sein", etwas zu zeigen, was vorher nicht vorstellbar war.
Arata Isozakis "City in the Air"
Dieser architektonische Entwurf hat eine ganze Stadt in ihrer vertikalen Ausrichtung geprägt und verändert: Die geplante Überbauung Tokios mit besonderen Türmen erinnert an lebende Bäume mit Ästen an denen sich kapselartige Wohnungen befinden sollten.
Entworfen wurde diese "City in the Air" 1962 von dem japanischen Architekten Arata Isozaki. "Eine Stadt einfach in einer neuen Ebene zu gründen, ist nicht einfach", sagt Peter Cachola Schmal, Direktor des Deutschen Architekturmuseums in Frankfurt am Main. [AUDIO] Sein Museum ist im Besitz des weltweit inzwischen einzigen Modells der "City in the Air". "Heute haben wir die Technik dafür und könnten die 'City in the Air' bauen."
Etienne-Louis Boullées "Kenotaph für Isaac Newton"
1784 hat der französische Architekt Etienne-Louis Boullée eine 150 Meter hochaufragende Kugel entworfen: größenwahnsinnig und anmaßend. Ein Gebäude zu Ehren des Physikers Isaac Newton, das das seinerseits höchste der Welt geworden wäre.
"Die enorme Dimension ist das Utopische an dem Projekt, es ist absolut nicht baubar, bis heute nicht", sagt Claudia Kromrei, Professorin für Architekturtheorie und Baugeschichte an der Uni Bremen. [AUDIO] Auch wegen dieses Entwurfs werde Boullée bis heute Revolutionsarchitekt genannt, angetrieben vom politischen Motor der Französischen Revolution. "Die Bildmächtigkeit, diese Einfachheit, die hat eine große Faszination, bis heute ist das in der Architektur erkennbar."
Vincent Callebauts "Lilypad"
Der belgische Architekt Vincent Callebaut veröffentlichte 2008 einen Entwurf für eine "Siedlung für künftige Klimaflüchtlinge". Das Besondere daran: "Lilypad" oder "Floating ecopolis", wie die Idee auch genannt wurde, ist eine energieautarke, auf dem Meer treibende Stadt, die bis zu 50.000 Menschen beherbergen kann und besonders denjenigen dienen soll, die vor dem Meeresspiegelanstieg flüchten.
Der Architekt Vincent Callebaut vor einem Foto eines Entwurfs von seinem Projekt "Lilypad", einer auf dem Meer treibenden Stadt.
Vincent Callebaut vor einem Foto eines Entwurfs von seinem Projekt "Lilypad".© AFP / Bertrand Guay
Architekturkenner Nikolaus Bernau kritisiert [AUDIO] den Entwurf als in der Ausführung für arme Länder nicht finanzierbar. Gerade die seien es aber, die am meisten von Klimaveränderungen wie dem Ansteigen des Meeresspiegels bedroht würden.
Hans Widmers "bolo'bolo"
Der Schweizer Autor Hans Widmer entwarf 1983 eine anarchistische, antikapitalistische und soziale Utopie, die er "bolo'bolo" nannte. Dabei handelt es sich um eine alternative Form eines Stadtquartiers, selbstsuffizient und nicht profitorientiert ausgerichtet, in dem die Menschen solidarisch zusammen leben und arbeiten.
Andreas Ruby, Direktor des Schweizerischen Architekturmuseums in Basel (S AM), betont die Idee einer neuen, antikapitalistischen Form des Zusammenlebens in dem Entwurf Widmers und auch den transnationalen Ansatz der Idee. [AUDIO] Dies seien die zentralen Gedanken, hinter denen die eigentliche architektonische Ausführung an Bedeutung verliere.
Ron Herrons "Walking City"
Der Architekt Ron Herron verabschiedete sich mit der Idee zu "Walking City" aus dem Jahr 1964 zeitweise von dem Konzept eines ortsgebundenen Gebäudes. Inspiriert von der Theorie der intelligenten Wohnmaschine von Le Corbusier, die alle Bedürfnisse ihrer Bewohner auf komprimiertem Raum erfüllen sollte, fertigte er mit dem Architektenkollektiv Archigram einen Entwurf für ein 30 Stockwerke hohes, eiförmiges Gebäude auf insektenartigen Beinen, das sich von Ort zu Ort bewegen können sollte.
Architekturhistorikerin Anna Minta von der Katholischen Universität Linz sagt, dass die damalige internationale Architekturszene sehr ambivalent auf die Idee "Walking City" reagiert und kontrovers darüber diskutiert habe. [AUDIO] Letzlich seien daraus Debatten darüber entstanden, wie man Städte oder Siedlungsformen neu organisieren und strukturieren könne.
El Lissitzkys "Wolkenbügel"
Der Russe El Lissitzky lehnte das Konzept des US-amerikanischen Hochhauses als Symbol des Kapitalismus ab. Seine kommunistische Antithese sollte als nationale Ausdrucksform, die die Horizontale betont, in Moskau gebaut werden.
Acht "horizontale Hochhäuser" sollten ab 1924 nach dieser Idee entstehen. Das geschah zwar nicht, aber die "Wolkenbügel" gelten bis heute als architektonisch wegweisend und fanden viele Nachahmer, wie in Teheran.
Hauptsitz des staatlichen chinesischen TV-Senders CCTV in Peking. 
Sitz des TV-Senders CCTV in Peking, erbaut vom Architekten Rem Koolhaas und inspiriert von El Lissitzkys "Wolkenbügel".© imago / imagebroker
El Lissitzky befand sich mit solchen Plänen im Wettbewerb mit anderen Avantgardisten seiner Zeit, die ebenfalls versuchten, die Schwerkraft zu überwinden. Zu der Zeit war sein Entwurf waghalsig genug, um weltberühmt zu werden, aber zu waghalsig, um ihn zu realisieren, wie Marietta Schwarz berichtet. [AUDIO] Erst deutlich nach dem Zweiten Weltkrieg steigen sowohl die Budgets als auch die Ingenieurleistungen und die Architekten fanden den Mut, Lissitzkys Ideen umzusetzen.
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