Generation Mauer

Woher wir kommen, wer wir sind

Skateboard-Fahrer auf dem Berliner Alexanderplatz
Der Berliner Alexanderplatz, einst Zentrum der Hauptstadt der DDR (Bild: Paul Zinken/dpa) © Paul Zinken/dpa
Von Ralph Gerstenberg · 31.10.2014
Der Mauerfall ist der biografische Dreh- und Angelpunkt für die "mittlere Generation Ost". Wofür stehen Schriftsteller dieser Generation, was macht sie aus, welche Geschichten haben sie zu erzählen? Eine literarische Spurensuche mit Ines Geipel, Gregor Sander, Angelika Klüssendorf und Karsten Krampitz.
Karsten Krampitz: "89, die Generation, die Jugendlichen, die waren dem Staat ja völlig entfremdet. Selbst die, die da noch mit Blauhemd am Vorabend des Republikgeburtstages auf die Straße gegangen sind mit Fackeln, selbst die waren ja nicht mehr wirklich linientreu."
Gregor Sander: "Wir waren ja so die, die da reingeboren wurden. Wir kannten ja nichts anderes mehr."
Ines Geipel: "Diese Generation, die gesagt hat: Nicht mehr Experiment Sozialismus verlängern, nicht mehr reformieren, nicht mehr weiter reden, reden, reden, sondern Schluss, aus, Ende!"
Angelika Klüssendorf: "Ich hasse das Wort Utopie in jeder Hinsicht. Ich will das haben, was machbar ist, und dann daran arbeiten."
Ines Geipel: "Und das macht sie schon auch ein bisschen aus. Ich glaube, das ist auch zu spüren in den Büchern. Ich glaube, da ist sehr viel Distanz zur DDR drin und auch Schmerz und auch so ein Angstkosmos, der sich immer wieder vitalisieren kann im Grunde."
Musik: Eels "Where I'm from"
Als "Generation Mauer" bezeichnet die Publizistin Ines Geipel in ihrem gleichnamigen Buch die mittlere DDR-Generation, also diejenigen, die in den 60er- und 70er-Jahren in einem Land aufwuchsen, das von Mauer und Stacheldraht begrenzt wurde. Der Mauerfall wurde für diese Generation, die schon eine Vergangenheit in der DDR und noch eine Zukunft im vereinten Deutschland hatte, zum prägenden Ereignis. Nach 1989 mussten und konnten sich die Mauerkinder des Ostens noch einmal neu definieren und orientieren.
Ines Geipel: "Wenn in relativ junger Zeit die Erfahrung gemacht wird, dass ein Land implodiert und der Boden sehr fragil sein kann, ist es natürlich sehr wichtig, sich vorsichtig einen neuen eigenen Boden zu sichern. Ich glaube, das ist kein Zufall, dass es sehr starke Stimmen aus dieser Generation in der Literatur gibt, weil dort ja nachgerade die Rekonstruktion von Zeit und Raum stattfindet. Das ist das Großartige."
Heute, 25 Jahre danach, betrachten die Mitte 40- bis Mitte 50-Jährigen ihr Leben in beiden deutschen Staaten oft sehr unsentimental. Sie neigen weder zur Verklärung noch zur Verdammung. Ihr Blick auf die Ereignisse sei analytisch und reflektiert, meint Ines Geipel. Das zeige sich auch in der Literatur, beispielsweise in den Romanen von Angelika Klüssendorf, Gregor Sander oder Karsten Krampitz.
Ines Geipel: "Natürlich gibt es einen literarischen Markt und es gibt auch da Anpassungen. Aber das Besondere ist schon: Es gibt auch so eine sprachliche Haut des Ostens. Die Ästhetiken, die Sprache, der Stil ist doch spürbar ein deutlich anderer. Und dass das so gelungen ist, dass erstaunlich viele Autoren sich mit dieser Eigenheit haben durchsetzen können, find ich (...) erstaunlich souverän und solitär."
Zitat aus "April" von Angelika Klüssendorf:
"Der Pförtner bringt sie zu ihrem Arbeitsplatz. In den Gängen hängt der Geruch nach Desinfektionsmittel. Als sie den Raum betritt, blicken alle auf, an der Stirnseite des großen Tisches erhebt sich eine Frau in mittleren Jahren, die sich als ihre Büroleiterin vorstellt. (...) Die Frau zu ihrer Linken beginnt sogleich einen Vortrag über ihre Aufgaben: Es geht darum, Kabel an die Betriebe zu verteilen; für jede Zuteilung muss sie Vordrucke ausfüllen und sich bei der Kabelvergabe an die Bezifferung von eins bis zehn halten, eins bezeichnet Regierungsvorhaben, die vorrangig zu behandeln sind. (...) Während der Frühstückspause kauft sie im Kombinatskiosk Kaffee, eine Bockwurst und mehrere Brötchen. Es schüchtert sie ein, dass ihr alle beim Essen zusehen, sie meint, in den Blicken eine gutmütige Überlegenheit wahrzunehmen, und am liebsten möchte sie ihnen sagen: Ich werde hier niemals so alt werden wie ihr."
Musik: Deep Purple "April"
 Angelika Klüssendorf, September 2014
Angelika Klüssendorf© picture alliance / dpa / Arne Dedert
In Angelika Klüssendorfs stark autobiografisch gefärbten Roman "April" wird eine junge Frau Ende der 70er-Jahre aus einem Kinderheim in den DDR-Alltag entlassen. "Das Mädchen", dessen trostlose Kindheit die Autorin in ihrem Vorgängerroman beschrieben hat, ist nun volljährig, bekommt einen Job als Bürohilfskraft und nennt sich April, nach dem Song "April" von Deep Purple und dem Monat des Jahres, der genauso unberechenbar ist wie sie selbst. Nach der Zeit des Missbrauchs zu Hause und der Bevormundung im Heim glaubt April, endlich ein eigenständiges Leben führen zu können. Doch ihre Vermieterin löscht abends um zehn das Licht in ihrem Zimmer, die Welt, in der sich April zurechtfinden muss, erscheint freudlos und reglementiert. Für die gerade aus dem Kinderheim entlassene Frau erweist sich die DDR als großes Kinderheim mit unmündigen Insassen.
Angelika Klüssendorf: "Ich glaube, dass es ein nicht nur ganz repressives, sondern sehr regressives Land war, in dem alles vorgeschrieben wurde, jeder Augenblick getaktet. Natürlich konnte man aus den Augenblicken raus, aber letztendlich waren sie doch getaktet."
Dem Repressiven und Regressiven stellt Angelika Klüssendorf das Aufbegehren, den Freiheitsdrang, aber auch die Zusammenbrüche Aprils gegenüber. So kann man den Roman als Beschreibung der Auswirkungen eines Bevormundungssystems auf die Psyche einer labilen jungen Frau lesen, die nur ein eins will: der Enge entfliehen will. Es sind vor allem Stimmungen und Atmosphären, die Angelika Klüssendorf mit einer schnörkellosen, unsentimentalen Sprache einfängt. Konsequent verzichtet sie darauf, ihre Geschichte mit Details aus dem DDR-Alltag auszuschmücken. Gerade dadurch entsteht ein sehr scharfes Bild einer Gesellschaft, die jungen Menschen mit Anspruch auf Individualität nichts mehr zu bieten hat.
Musik: Deep Purple "April"
Immer wieder verliert April den Boden unter den Füßen. Immer wieder wird sie aufgefangen und gestützt, von Freunden, von Bekannten, vom Arbeitskollektiv. Angelika Klüssendorf zeigt in ihrem Buch die DDR-Gesellschaft auch als Gesellschaft der Solidargemeinschaften, der Nischen und geschützten Räume. April findet Anschluss in der Leipziger Künstlerszene, einer Gegenwelt zur antiintellektuellen Staatskultur. Gemeinsam mit einer Freundin produziert sie eine selbst kopierte Undergroundliteratur-Zeitschrift mit dem provozierenden Namen "Anschlag".
Angelika Klüssendorf: "Das hat ja auch autobiografische Züge. Ich wollte einfach Menschen kennenlernen, ich wollte einfach was erleben, ich wollte dieser klappenden Langeweile entkommen und irgendwas gestalten. Das hatte viel mehr damit was zu tun, als dem Staat die Stirn zu bieten."
Politische Provokationen gehören in der subkulturellen Szene der 80er-Jahre zum festen Repertoire. Das "Angstsystem", von dem Ines Geipel in ihrem Buch "Generation Mauer" spricht, verliert in der Honecker Ära für die junge Generation immer mehr an Schrecken. Doch auch wenn die Staatsmacht nicht mehr so hart durchgreift wie noch in den 50er- oder 60er-Jahren, ist sie kein zahnloser Tiger geworden. So endet eine harmlose Aktion, bei der Freunde von April Kerzen für den Weltfrieden entzünden, mit Verhaftungen und Gefängnisstrafen.
Musik: Janis Joplin "Summertime"
Zitat aus "April" von Angelika Klüssendorf:
"Ein großer Armeelaster hält vor dem Kino, Uniformierte springen heraus und rennen auf Aprils Freunde zu, versuchen sie an Haaren, Armen, Beinen fortzuzerren. Noch mehr Uniformierte kommen angerannt, und als sie sieht, wie einer von ihnen auf die schwangere Frau einprügelt, ist April nicht mehr zu halten, sie springt dem Uniformierten auf den Rücken und verbeißt sich in seinem Nacken. Sie schlägt, kratzt, tritt, verliert sich in einem Wirbel aus angestautem Zorn, bis sie taumelnd zu Boden geht. Ihr Kopf dröhnt, ihre Unterlippe ist aufgeplatzt, mühsam rappelt sie sich auf und läuft davon."
Musik: Janis Joplin "Summertime"
Irgendwann in den 80ern ist es für April wie für viele ihrer Generation an der Zeit, das Land, das sie nie ohne Mauer kennen gelernt haben und dessen Enge sie zu erdrücken droht, zu verlassen. Mit Hans, dem Mann, mit dem sie inzwischen einen Sohn hat, stellt sie einen Ausreiseantrag nach Westberlin. Doch es ist nicht der Westen, der sie lockt.
Angelika Klüssendorf: "Im Gegenteil, ich beschreib ja auch in 'April', dass sie große Angst davor hatte, dass sie sich den Westen so vorstellt, dass die Wände gekachelt sind, die Menschen parfümiert und ohne Eigengeruch, also insofern war das gar nicht der Sehnsuchtsort. Das war einfach nur ein Entkommen aus der Enge."
Zitat aus "April" von Angelika Klüssendorf:
"April verabschiedet sich auf dem Bahnsteig von Freunden und Bekannten. Sie kommt sich vor wie eine Marionette: Auf Wiedersehen, ich melde mich, tschüss, mach's gut, als hätte sie nur einen langen Urlaub vor sich. Sie verspricht August, sich mit ihm in Prag zu treffen. (...) Der Zug fährt ab, April will nicht losheulen, und deshalb zerlegt sie ihre Freunde auf dem Bahnsteig in Einzelteile. Sie lächelt und winkt zum Fenster heraus, während Irma wie eine vertrocknete Hummel auseinanderfällt, Silvesters Innereien sich auf dem Boden verteilen und August auf blutigen Kniestümpfen umherhüpft, ohne Arme und Kopf."

Ines Geipel: "Das war im Grunde auch die Bahnhofsgeneration. In den 80er-Jahren war die DDR ein riesiger Wartesaal. Diese vielen, vielen Vormittage oder Abende, wo man auf den Bahnhöfen stand und sich dann für immer verabschiedete, also dieser unendliche Schmerz, dass der weg ist, dass der einem abgenommen ist."
Ines Geipel
Ines Geipel© AFP
Die 1960 geborene Publizistin Ines Geipel beschreibt in ihrem Buch "Generation Mauer", ähnlich wie die nur knapp zwei Jahre jüngere Angelika Klüssendorf in ihrem Roman "April", die 80er-Jahre in der DDR auch als eine Zeit des permanenten Abschieds. Immer mehr Menschen nehmen soziale Ächtung und behördliche Willkür in Kauf oder riskieren ihr Leben, um dem Staat, in den sie hineingeboren worden sind, den Rücken zu kehren.
Zitat aus "Generation Mauer" von Ines Geipel:
"Für jede und jeden von ihnen hat es ihn gegeben, den Moment, der einem klarmachte, angekommen zu sein. Wann? Wo, warum? Das Leben neu beginnen, etwas tun, wofür es kein Modell gibt, nicht geben kann, weil jeder Anfang etwas Unwiederholbares hat. Und wie weiß man dann, dass die Zeit der Anfänge vorbei ist? Dass es nicht mehr um eine Flucht wovor, sondern längst um einen Aufbruch wohin geht? Vielleicht können die, die schon weit vor 1989 im Westen landeten, über das Ankommen genauer erzählen."
Genau das tut Angelika Klüssendorf, die 1985 die DDR verlassen hat, im letzten Viertel ihres Romans. Der Westen ist April zunächst fremd, die Bettler liegen auf der Straße, in verschiedenen Putzjobs wird sie mies bezahlt und behandelt, alles, was sie mit Heimat verbindet − die Freunde, die Landschaft, Gespräche, Gerüche − befindet sich auf der anderen Seite der Mauer. Doch Stück für Stück erobert sie sich das neue Terrain, taucht ein ins Westberliner Nachtleben. Immer wieder gibt es auch Abstürze. Aber es scheint, als müsste sie nicht mehr fliehen, vor allem nicht vor sich selbst.
Um diesen Weg ihrer Protagonistin zu beschreiben, benötigte Angelika Klüssendorf Distanz, vor allem zeitliche Distanz:
"Ich hätte das nicht eher schreiben können, weil es ja auch mit meiner eigenen Geschichte zu tun hat. Ich hab jetzt auch darüber nachgedacht, dass die DDR ja schon ein abgeschlossenes Gebiet ist. Eigentlich bräuchte man vielleicht noch länger Zeit. Vielleicht noch mal so 50, 60 Jahre, um das als Geschichte, die zu Ende gegangen ist, wirklich mit Distanz betrachten zu können."

Gregor Sander: "Je weiter wir von der DDR weggehen, desto mehr alleine sind wir damit. Meine Kinder, die haben damit nichts mehr zu tun. Es werden immer weniger, die wissen, wie es war, in diesem Land zu leben."
Der Autor Gregor Sander spricht am Samstag auf der Leipziger Buchmesse
Der Autor Gregor Sander auf der Leipziger Buchmesse © picture alliance / dpa / Foto: Florian Eisele
Vielleicht hat Gregor Sander seinen Roman "Was gewesen wäre" deshalb seinen beiden Söhnen gewidmet. Sander ist Jahrgang 1968, also ungefähr so alt wie die Protagonisten seines Romans, zum Beispiel wie Astrid, eine vierundvierzigjährige Ärztin, die 2012 auf einem Wochenendtrip nach Budapest von ihrer Vergangenheit eingeholt wird. Im Luxushotel Géllert trifft sie auf ihre erste große Liebe − Julius, den sie seit seiner Flucht in den Westen vor knapp 25 Jahren nicht mehr gesehen hat. In Rückblenden erzählt Sander von der schwierigen Beziehung der beiden, aber auch von Astrids Freundschaft zu Jana, die immer ein bisschen aufmüpfiger und schlagfertiger war als sie selbst.
Musik: Suzanne Vega "Marlene on the wall"
Zitat aus "Was gewesen wäre" von Gregor Sander:
"Wir hatten fast den ganzen Waggon für uns, als wir am Sonntag Richtung Schwerin aufbrachen. Jana hatte ihren kleinen Annett-Rekorder aus dem Rucksack gezogen, und nun sang Suzanne Vega durch den Waggon, in dem außer uns nur ein alter Mann mit einem grünen Filzhut neben der Tür saß und schlief. Der Regen lief die Scheibe hinunter, und wir zuckelten los, und während die letzten Häuser von Neubrandenburg verschwanden, sagte Jana: 'Mensch, wann kommt der große Arsch, der dieses Drecknest einfach zuscheißt. Dreieinhalb Stunden bis nach Schwerin. Für hundertfünfzig Kilometer. Das ist demütigend." Wir hatten die Füße auf die weinroten Kunstledersitze gelegt, aus Janas olivgrüner Socke guckte der große Zeh hervor. 'Marlene on the wall', sangen wir aus vollem Hals."
Eine Zugfahrt durch die Provinz, ein Kasernenbesuch in Schwerin, eine Künstlerparty auf dem Lande − es sind DDR-Alltagsszenen aus den 80-ern, die Gregor Sander in seinen atmosphärischen Rückblenden schildert. Es wird gelebt, geliebt, gelitten wie überall auf der Welt. Und doch ist das Eingeschlossensein stets präsent. Wenn das Wort "Wall" in einem Popsong vorkommt, denkt jeder an die Mauer, die die eigene Welt und damit auch die Erfahrungen, Möglichkeiten und Perspektiven begrenzt.
Gregor Sander: "Unsere Elterngeneration kannte ja noch den Westen. Das war für uns ja alles tatsächlich fremd. Wir wussten zwar, dass es das gibt, wir haben ja auch alle permanent Westfernsehen geguckt, aber es hatte ja trotzdem was Irreales, weil man nie dorthin kam. Man kam ja nicht mal an den Zaun, weil da schon Kilometer vorher Schluss war. Nur die Mauer konnte man tatsächlich ja sehen. Und man hatte sich mit dieser Situation auf so ne Art abgefunden, man hat jetzt nicht permanent und ununterbrochen daran gedacht."
Ab Mitte der 80er-Jahre wird die deutsch-deutsche Grenze durchlässiger. Sogar Astrid darf 1988 zusammen mit ihrer Mutter zu einer Verwandten nach Westdeutschland reisen, verbringt aber die Zeit stattdessen in West-Berlin, wo ihre Freundin Jana nach der Genehmigung ihres Ausreiseantrages lebt. Jana versucht die Freundin zu überreden, dort zu bleiben, aus gutem Grund, wie sie behauptet, denn Julius, Astrids große Liebe, plane über Ungarn und Jugoslawien die Flucht in den Westen − ihretwegen. Später erfährt Astrid, dass die Freundin für die Staatssicherheit gearbeitet hat. Sie sollte Julius nach Westberlin locken, damit dessen Mutter, eine oppositionelle Künstlerin, die sich weigerte, die DDR zu verlassen, endlich ausreisen würde. Zwanzig Jahre danach stellt Astrid Jana zur Rede. Das Wiedersehen findet in Janas Hamburger Loft statt.
Zitat aus "Was gewesen wäre" von Gregor Sander:
− "Was habe ich denn gemacht, eh? Du hast diese Reise nach Westberlin mir zu verdanken. Julius hatte die freie Wahl, ob er in den Westen kommen wollte oder nicht. Was soll's? Und ich kam raus. Endlich haben die mich rausgelassen, und es war vorbei."
− "Aber es ging doch gar nicht um mich oder Julius. Es ging doch um Katharina. Die sollte raus aus der DDR, und das wusstest du auch."
−"Assi, ich bin nicht besonders stolz darauf, aber was soll ich sagen. Dieser Typ, dieser Krüger vom MfS oder wie auch immer er wirklich hieß. Der hat mit ganz klargemacht, dass, wenn ich nicht mitmache, ich noch in fünf Jahren Bier über die Tanzfläche tragen werde in fuckin' Neubrandenburg."
Gregor Sander: "Das Gespräch 20 Jahre später zwischen Täter und Opfer, das war mir eigentlich viel wichtiger, als da moralisch zu werten: Wer hat jetzt Schuld? Hat die Jana Schuld? Wie groß ist die Schuld? Da kommen auch ganz spannende Sachen bei den Lesungen raus. Ich bin schon richtig angegriffen worden, weil jemand meinte, dass ich das nicht genügend herausstreiche, wie groß die Schuld der Jana ist. Und es gibt Leute, die das als absolutes Versöhnungskapitel lesen zwischen den beiden. (...) Mir ging's darum, auf jeden Fall das zu schreiben und dem nicht auszuweichen, aber das so offen wie möglich zu halten."
Der bewusste Verzicht Gregor Sanders, Urteile über seine Figuren zu fällen, führt letztendlich zu einem genaueren Hinsehen. Wer hat was, wie und aus welchen Gründen für sich entschieden? Welche Folgen erwuchsen aus dieser Entscheidung? Welche Möglichkeiten? Und was wäre gewesen, wenn eine Entscheidung anders ausgefallen wäre? Dieser sehr gegenwärtige Zugang, der sich auch in der unverkrampften, von jeglichem Aufarbeitungspathos freien Sprache niederschlägt, ermöglicht dem Autor eine Art Bestandsaufnahme seiner Generation, teilweise sogar aus der Perspektive seiner Figuren.
Ines Geipel: "Die Fähigkeit in den literarischen Texten, das ganz stark zu differenzieren, also dass der Verräter eben auch ne Geschichte hat. Das ist ja das Großartige an literarischen Texten. Dass das politisch nicht geht ist klar, aber in der Literatur muss es gehen, zu erzählen, warum der beste Freund verraten wurde."
Am Beispiel ihrer eigenen Biografie und anhand von Lebensgeschichten anderer Mauerkinder zeigt Ines Geipel, wie stark diese Generation in das DDR-System eingenäht war. Dennoch haben die Erfahrungen von Verrat in der Familie oder im Freundeskreis, von Verlusten, Missbrauch und Indoktrination in der Regel nicht zu pauschalen Verdammungen geführt.
Zitat aus "Generation Mauer" von Ines Geipel:
"Die Generation Mauer ist eine Generation der Rückkehrer, Rekonstruierer, Vergewisserer, Rechercheure, der pickelharten Herausschäler."
Ines Geipel: "Mein Eindruck ist, dass es die Generation ist, die die zum Teil harten Prägungen, die sie im Osten erfahren haben, sehr bewusst versuchen nicht weiterzugeben. (...) Und das sind ja auch Potenziale für eine Gesellschaft. Wenn du eben ein bestimmtes Trauma oder eine bestimmte Härte nicht an die nächste Generation weitergeben musst, sondern es vielleicht anders machst, dein Leben reflektierst. Ich find das nicht unsympathisch."
Karsten Krampitz
Karsten Krampitz© Foto: Nane Diehl
Karsten Krampitz: "Es gibt keine Zukunft ohne Herkunft. Du musst wissen, wo du herkommst, wenn du irgendwie noch mal vorankommen willst."
Musik: Eels "Where I'm from"
In Karsten Krampitz' Roman "Wasserstand und Tauchtiefe" wird der Protagonist Mark Labitzke tagtäglich mit der eigenen Herkunft konfrontiert. Der Mittvierziger pflegt übergangsweise seinen Vater, der sich weder rühren noch sprechen kann. Denn der einstige Bürgermeister von Schehrsdorf, einem fiktiven Ort im Speckgürtel Berlins, hat bereits drei Schlaganfälle hinter sich. Nun kann er sich der Zwiesprache mit seinem Sohn nicht mehr wie früher entziehen, zumindest muss er sich anhören, was dieser zu sagen hat.
Karsten Krampitz: "Ich hätte gerne mit meinem Vater so ein Gespräch geführt. Aber es klappt ja nicht. Es findet ja nicht statt, dieser Austausch. Irgendwie muss das immer sein zwischen den Generationen, dass die Generation davor nicht wirklich sagen kann, was da passiert ist. Jetzt ist er auch schon sehr alt, ich kann ihm diese Fragen nicht mehr stellen. In meinem Roman wirft ja mein Erzähler dem Vater auch vor, dass er ja eigentlich auch so 'ne Predigerausbildung hatte für die Partei. In Schehrsdorf gibt's jetzt so 'ne Freikirche, und dieser Pastor da tut so, als ob er einen ganz exklusiven Zugang zur Wahrheit hat, die andern verschlossen bleibt. Und so war das auch bei meinem Vater, bei allen SED-Genossen, also bei den höheren, die im Apparat waren."
Zitat aus "Wasserstand und Tauchtiefe" von Karsten Krampitz:
"Hast du gemerkt? Der Pastor redet wie früher der Genosse Bürgermeister. Der Mann hat nicht nur Charisma, er besitzt auch noch einen exklusiven Zugang zur Wahrheit. Wie du früher! Euch beide kann man nur beneiden. Ich habe nichts mehr, woran ich glauben kann. Muss ein gutes Gefühl sein zu wissen, dass man auf der richtigen Seite steht, die richtigen Dinge zur rechten Zeit schafft und dass einem nichts passieren kann, nichts wirklich Schlimmes. Und man hat die ganze Zukunft noch vor sich."
In der einstigen DDR-Vorzeigestadt Schehrsdorf, die an Eisenhüttenstadt erinnert, gibt es 25 Jahre nach dem Mauerfall nicht mehr viel vorzuzeigen. Sie wird bevölkert von Arbeitslosen, Trinkern und Rentnern. Mark Labitzke ist hier aufgewachsen. Als übergewichtiges Bonzenkind hatte er es nicht leicht. Doch er gab sich redlich Mühe, bei Gleichaltrigen Anerkennung zu finden. Als Jugendlicher spielte er Schlagzeug in einer Rockband, ging zu Blueskonzerten, traf sich mit seinen Kumpels im Eisenbahner, einer Kneipe, in der − zumindest in den Augen seines Vaters − nur der Abschaum verkehrte. Hier fand die allgemein übliche „Republikflucht in den Alkohol" statt.
Zitat aus "Wasserstand und Tauchtiefe" von Karsten Krampitz:
"Kennst du noch den Eisenbahner? In der Tankstelle an der A10 erinnern sich manche noch gern an die Kneipe hinterm Güterbahnhof. Daneben stand lange Zeit eine riesige Schautafel, aufgestellt von der örtlichen Reichsbahnleitung: „Den Sozialismus stärken, heißt den Frieden stärken!" – genau deshalb haben die Leute gesoffen. Dass die NATO den Weltfrieden bedroht (und das hat sie wirklich!), hat man irgendwann nicht mehr hören können, nicht mehr lesen und nicht mehr ertragen. Ein ordentlicher Vollrausch wirkte da wie eine Grundreinigung im Gehirn, der ganze Propagandamüll war weggespült."
Karsten Krampitz: "Wenn man sich die 80er-Jahre anguckt (...), also ich bin der festen Überzeugung, dass da eine ganz kleine Minderheit in der DDR-Gesellschaft wirklich Marxisten waren und wirklich überzeugt. Sozialismus war für das Gros der DDR-Bevölkerung ein Versorgungsversprechen. Man hat die Zusage vom Staat gehabt, dass es einem mit jedem Jahr so ein kleines bisschen besser gehen wird. (...) Und als Gegenleistung hat man mit politischem Wohlverhalten gedient. Aber der Staat hat nie Überzeugung verlangt."
Der 1969 geborene Karsten Krampitz zeichnet in seinem Buch "Wasserstand und Tauchtiefe" das Porträt eines Antihelden der mittleren Generation Ost. Zu DDR-Zeiten konnte Mark Labitzke die Überzeugungen seines Vaters nicht teilen, nun teilt er sich mit seinem schwerstbehinderten Erzeuger dessen Rente. "Zwei Männer – ein Konto!" heißt es lakonisch im Text. Nach einem abgebrochenen Geschichtsstudium und einer Ausbildung zum Programmierer hat Labitzke im vereinten Deutschland keinen Fuß in die Tür gekriegt. Inzwischen ist er gründlich desillusioniert. Sein täglicher Weg mit dem Vater im Rollstuhl führt ihn zur Autobahntankstelle, die dem Prekariat von Schehrsdorf als Kneipenersatz dient.
Karsten Krampitz: "Die wenigsten Ossis haben doch Karriere machen können. Man muss in die Politik gehen, da ist es möglich, aber jetzt in der Wirtschaft. Es gibt in keinem börsennotierten Unternehmen im Vorstand 'nen Ossi oder so. (...) Wenn ich mich für 'nen Job bewerbe, das ist immer 'ne Katastrophe, obwohl ich eigentlich 'ne gute Ausbildung hab. Ich bin Betriebswirt, Statistiker, Buchhalter, gelernter, dann hab ich 'nen Magister in Geschichte, Politik und Literatur, demnächst noch 'nen Doktor in Geschichte, aber die fassen sich an den Kopf. Mich braucht doch keiner. Ich bin doch überflüssig."
Aus dieser Position der Überflüssigkeit heraus lässt Karsten Krampitz seinen Erzähler monologisch reflektieren, analysieren, seine Sicht der Dinge offenbaren. Wut und Schmerz werden spürbar, auch eine große Distanz – zur Generation des Vaters, den Ideologen des sozialistischen Experiments, in dem die Mauerkinder als Hoffnungsträger vorgesehen waren, aber auch zu den falschen Göttern der Gegenwart. Selbstironie bewahrt ihn jedoch vor Wehleidigkeit, Humor vor Resignation.
Karsten Krampitz: "Als Historiker weiß ich, dass alles vorbei geht. Geschichte ist niemals abgeschlossen, und deshalb ist da auch noch einiges möglich. Da bin ich schon sehr zuversichtlich."
Ines Geipel: "Ich hab schon gestaunt, dass es doch sehr viele gibt, denen es nicht so sehr gut geht."
Für die Publizistin Ines Geipel ist die mittlere Generation Ost eine gespaltene Generation. Nicht alle sind auf der Gewinnerseite. Natürlich. Und doch bezeichneten Soziologen die Mauerkinder als eine glückliche Generation.
Ines Geipel: "Eben: im Schatten der Mauer geboren, relativ passabel − gut, könnte man auch noch paar Sätze zu sagen − ausgebildet. Aber vor allen Dingen jung genug, gerade erwachsen geworden, und dann kommt die Welt dazu. Und dann noch mal 'ne Ausbildung, noch mal 'n Studium, die Welt sich überhaupt anschauen, da Erfahrungen machen. Im Grunde so das Gefühl: Ja, ich bin in meinem Leben angekommen. Das ist sicherlich die Mehrheitserzählung dieser Generation."
Musik: Eels "Where I'm at"
Vor der Maueröffnung hatte die mittlere DDR-Generation in der Öffentlichkeit kaum eine eigene Stimme gehabt. Die damals 20- bis 30-Jährigen waren mit sich selbst beschäftigt und immer irgendwo dazwischen, zwischen Protest und Pragmatismus, zwischen Aufbegehren und Achselzucken – eine Generation in der Warteschleife. Der Mauerfall brachte die lang ersehnte Dynamik in ihr Leben. Doch auch danach hat es eine ganze Weile gedauert, bis sie sich vielstimmig zu Wort meldete. Vielleicht hat das Abwarten mit dem von Ines Geipel konstatierten Hang zur Reflexion und zur Differenzierung zu tun, mit notwendiger Distanz und Selbstvergewisserung. Vielleicht aber auch damit, dass es eine Weile gedauert hat, bis die eigene Herkunft, das Aufwachsen im DDR-Sozialismus, nicht mehr als biografischer Makel empfunden wurde, sondern vielmehr als Erfahrungsschatz, den es literarisch zu entdecken gilt.
Ines Geipel: "Unmittelbar nach '89, das ist jedenfalls die Wahrnehmung meines Umfelds, hat man das eher versteckt, aus dem Osten zu sein. Heute kann ich mir keine Autorin oder keinen Autor aus dem Osten vorstellen, der das nicht ganz bewusst setzt. Es gibt ja auch so was wie Erfahrungsneid der Westler im Hinblick auf literarische Stoffe vor allen Dingen auch. Der Fakt ist doch, das es eine Generation von wenigsten zwei Leben ist, also die 'ne DDR-Biografie haben und eine nach '89. Und das spannendste ist ja eigentlich: Was wird mit dem dritten Leben oder dem vierten oder dem fünften? Also es ist durch diesen historischen Bruch eine Generation, die immer wieder anfangen kann. Und das ist ja ein großes Potential."
Musik: Eels "Where I'm going"
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