Geiger Gidon Kremer

"Ich war für meinen Vater das zweite Leben"

79:18 Minuten
Gidon Kremer, ein Mann mit weißem Bart und Halbglatze, spielt Geige.
Gidon Kremer spielt bei einer Show des russischen Clowns Polunin. Er kümmert sich um mehr als seine eigene Karriere. © picture alliance/dpa / TASS / Valery Sharifulin
Moderation: Susanne Führer · 24.05.2021
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Als Spross einer deutsch-schwedisch-lettisch-jüdischen Geigerdynastie hatte Gidon Kremer kaum eine andere Wahl, als selbst zur Violine zu greifen – und wurde zum weltberühmten Musiker. Doch der väterliche Druck, nach Perfektion zu streben, sitzt bis heute tief.
"Ein gelungenes Konzert von gestern ist heute schon nicht mehr viel wert" – so beschreibt der Geiger Gidon Kremer seine rastlose Suche in der Musik. Seine Kunst sei "keineswegs ein ständiger Glückszustand", sondern vielmehr "ein ständiger Kampf um etwas, was es nicht gibt, nämlich die Perfektion".

"Er war der Überlebende und ich war der Sohn des Überlebenden"

Die Suche nach der Perfektion, der ständige Drang, besser zu werden, ist Gidon Kremer von frühester Kindheit an mitgegeben worden. 1947 wird er in eine deutsch-schwedisch-lettisch-jüdische Geigerdynastie in Riga geboren – in ein Land, das zunächst von der Sowjetunion, dann von Nazi-Deutschland, schließlich wieder von der Sowjetunion besetzt wird.
Die Weltgeschichte schlägt sich unmittelbar in seiner Familie nieder: Die Mutter flieht mit ihren Eltern von Deutschland aus nach Estland, vor den anrückenden deutschen Truppen weiter nach Kasachstan, nach dem Krieg strandet die Familie in Riga.
Gidon Kremers Vater, ein geborener jüdischer Balte, entkommt als junger Mann dem Ghetto und versteckt sich zwei Jahre lang. Seine gesamte Familie, darunter seine erste Frau und die kleine Tochter, werden von den Deutschen ermordet, wie zigtausende andere baltische Juden auch.

"Es war eine regelrechte Vergewaltigung, in bester Absicht"

Es ist eine Tragödie, die der Vater Zeit seines Lebens mit sich herumträgt und die auch Gidon Kremer als Kind zu spüren bekommt. "Er war der Überlebende und ich war der Sohn des Überlebenden." Für den Vater sei er "das zweite Leben" gewesen. "Er wünschte seinem Sohn das Beste und wusste, dass man, um zu überleben, besser sein musste als die anderen."
Das gilt insbesondere für das Geigenspiel. Mit Jahrzehnten des zeitlichen Abstands kann Gidon Kremer in seinem Vater – wie die Mutter und der Großvater ebenfalls Violinist – zwar auch einen "toleranten Lehrer" erkennen. Doch eine Wahl hatte er wohl kaum, als er als Vierjähriger seinen ersten Geigenunterricht erhält.
Gidon Kremer beschreibt die ambivalenten Gefühle von damals als komplexe Mischung aus Anerkennung und Ablehnung, Bedürftigkeit und unbedingtem Leistungszwang. Es sei beinah eine Art Stockholmsyndrom gewesen, mit dem er als Kind zu leben hatte: "Mir wurde vom Vater beigebracht, ihn zu lieben dafür, dass er mir wehtut."
Denn während er sich an die Mutter, die wie der Vater die Familie als Konzertgeigerin durchbringt, als fürsorglich und großherzig erinnert, empfindet Gidon Kremer den Druck des Vaters als "nahezu unerträglich": "Es war ein ständiger Kampf mit seinem Willen, etwas aus mir zu machen." Im Nachhinein betrachtet sei es "eine regelrechte Vergewaltigung, in bester Absicht" gewesen.

Der eigene Weg als Widerstand gegen den Wahnsinn

Schon als Kind übt er täglich, als Jugendlicher sind es bis zu acht Stunden am Tag. Noch heute fragt sich der berühmte Musiker, inwieweit er "diesen Kampf gegen Umstände, gegen das, was mir aufgezwungen wird – inwieweit ich diesen Kampf suche, weil der Vater das in mir verpflanzt hat, dass ich mich ständig zu wehren habe."
Auch die politischen Verhältnisse in der Sowjetunion verbindet Gidon Kremer mit "enormem Druck und enormen Einschränkungen", aber "der Widerstand gegen den Wahnsinn, der um mich herum war, erzeugte das Bedürfnis, auf die Suche zu gehen nach etwas anderem." Es ist eine Suche, die bis heute andauert.
Der Geiger studiert bei David Oistrach am Moskauer Konservatorium und feiert früh Erfolge. Als junger Mann gewinnt er den renommierten Tschaikowsky-Wettbewerb und macht in den folgenden Jahrzehnten international Karriere. Er spielt klassische Werke, widmet sich aber auch der Neuen Musik, etwa Stücken von Sofia Gubaidulina, Arvo Pärt oder Michael Nyman, die zum Teil für ihn geschrieben werden.
Neben seiner Karriere als Solist ruft Gidon Kremer das internationale Kammermusikfest Lockenhaus im österreichischen Burgenland ins Leben, das dieses Jahr sein 40-jähriges Bestehen feiert, und gründet später das Kammerorchester Kremerata Baltica. Mit der Gruppe junger Musikerinnen und Musiker aus den drei baltischen Staaten hat Kremer mittlerweile dutzende CDs eingespielt und die ganze Welt bereist.

Ein Fremder, in der Musik zuhause

Nicht nur in dieser Zusammenarbeit geht es ihm "um das Teilen. Um das Vermitteln. Um das Schönste, was man eigentlich machen kann: Spuren zu hinterlassen". Er wolle den Gedanken weitergeben, "dass alles, was man gibt und alles, was man schenkt, bleibt. Das, was man für sich behält, stirbt."
Immer wieder setzt er seine Bekanntheit auch für andere ein, etwa für die Opfer des Tschetschenien-Kriegs, zu Ehren der ermordeten Journalistin Anna Politkowskaja und gegen die Verhaftung des Regisseurs Kirill Serebrennikow.
Für sein wechselvolles Leben – mit Stationen in Lettland, Russland, in den USA, der Schweiz und Deutschland – ist der Geiger heute dankbar. Zwar sei er "ein Fremder geblieben, wo immer ich mich befinde", aber deshalb nicht unaufgehoben. "Es ist schon so, dass ich mich in der Musik zuhause fühle."
(era)
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