Gegen Verdrängung, für Streitkultur

Margarete Mitscherlich
Margarete Mitscherlich © picture alliance / dpa
Von Jochen Stöckmann · 12.06.2012
Mit dem Bestseller "Die Unfähigkeit zu trauern" wollten die Mitscherlichs die Prinzipien der Psychoanalyse auf das kollektive Verhalten eines ganzen Volkes anwenden. Damit war die Grundlage für eine Gesellschaft geschaffen, die möglichst wenig unter den Tisch kehrt.
Ihr Vater war Däne, die Mutter Deutsche – die 1917 geborene Margarete Nielsen wuchs im Grenzgebiet auf, ging in Flensburg aufs Gymnasium. Machtergreifung und Diktatur der Nazis hatte jene junge Frau also selbst erlebt, die 1950 in Tübingen als Medizinerin promovierte und bald darauf den Arzt und Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich heiratete. Für ihre eigene Lehranalyse ging Margarete Mitscherlich nach London:

"Was das für eine Atmosphäre war, das kann sich die heutige Jugend überhaupt nicht mehr vorstellen. So darnieder gelegen hat Deutschland bestimmt noch nie in seiner Geschichte. Dafür ging es ihnen, dem Durchschnitt der Bevölkerung, eigentlich bald verhältnismäßig wieder sehr gut. 1954 war ich zeitweilig in England, da hatten die noch Nahrungsmittelkarten, als wir das schon lange nicht mehr hatten. Und die sagten manchmal: Ja, Gott, wir hätten auch den Krieg verlieren sollen – dann ginge es uns heute besser!"

Materiell waren die Deutschen gut gestellt, das Wirtschaftswunder kündigte sich an. Die seelischen Verletzungen allerdings, die psychischen Folgen der Nazi-Diktatur und vor allem die Frage der eigenen Schuld an den Verbrechen eines von der großen Mehrheit unterstützten Unrechtsregimes kümmerten kaum jemanden. Bis dann 1967 "Die Unfähigkeit zu trauern" erschien, ein heiß diskutierter Bestseller, in dem Alexander und Margarete Mitscherlich die Prinzipien der Psychoanalyse – Erinnern und Durcharbeiten – auf das kollektive Verhalten eines ganzen Volkes anwendeten.

"Als das Buch Die Unfähigkeit zu trauern veröffentlicht wurde, waren wir sehr erstaunt, dass das so viel Aufsehen erregte. Denn uns schien das schon selbstverständlich, was darin stand."

Jene "Trauerarbeit", die Psychoanalytiker wie die Mitscherlichs den Deutschen abverlangten, hatte mit Larmoyanz, mit tränen- und rührseligen Bekenntnissen nichts zu tun:

"Psychoanalyse versucht ja wirklich, die Menschen dazu zu kriegen, zu kapieren, aus was für Gründen sie Verhaltensweisen entwickeln, die Motive zu erkennen. Und diese Selbsterkenntnis war nun nicht gerade das große Ziel der Nazis."

Gar zu eng war die Entwicklung des "Ichs" im Dritten Reich mit der Vorstellung des "Herrenmenschen" verbunden gewesen, mit der Weigerung, sich in andere einzufühlen und mit der zwanghaften Unterdrückung eigener Gefühlsregungen. Die daraus resultierenden Verhaltensweisen hatten sich nach 1945 nicht grundlegend geändert, diagnostizierten die Mitscherlichs.

"Diese ungelösten Konflikte, die stammten ja aus der autoritären Kindererziehung. Wenn man die bewusst macht, kriegt man sie ganz anders in die Hand. Und wir wollten den Deutschen das bewusst machen, um diese Konflikte anders zu lösen, als den Weg in die absolute Katastrophe, nämlich in die zwölf Jahre Hitler zu nehmen."

Am Anfang dieser Bemühungen stand 1960 die Gründung des Frankfurter Sigmund-Freud-Instituts. Im konservativen Klima der Adenauer-Ära, die Psychoanalyse als Angriff auf Familie und Religion verstand, kein leichtes Unterfangen. Insbesondere, weil Margarete Mitscherlich die Erweiterung ihrer Disziplin um soziologische und philosophische Aspekte anstrebte – in enger Nachbarschaft zur Kritischen Theorie der "Frankfurter Schule".

"Horkheimer und Adorno haben sehr dafür plädiert, dass die Psychoanalyse hier wieder Fuß fassen sollte. Und mit viel Unterstützung aller, die überhaupt Interesse an so etwas wie Neubegründung alter Fähigkeiten und Wissenschaften, die bereits einmal hier floriert hatten, begünstigten."

Diesen kulturellen und wissenschaftspolitischen Aufbruch hatte bereits die Gründung der Zeitschrift "Psyche" markiert. 1982 übernahm Margarete Mitscherlich den Posten der Herausgeberin. Da war ihr gesellschaftspolitisches Engagement bereits unübersehbar: 1978 hatte die Psychoanalytikerin sich selbst als "Feministin" bezeichnet und war zusammen mit Alice Schwarzer, der Schauspielerin Inge Meysel und der Schriftstellerin Luise Rinser publikumswirksam vor Gericht gezogen, um die Zeitschrift "Stern" wegen Titelfotos zu verklagen, die Frauen zu "bloßen Sexualobjekten" degradierten.

In der Redaktion der "Psyche" kam es zu Konflikten über die mehr oder weniger politische Ausrichtung der Psychoanalyse, mit Büchern wie "Die Zukunft ist weiblich" oder "Die friedfertige Frau" reizte Margarete Mitscherlich einstige Weggefährten zum Widerspruch: Dass die Frauen in Bausch und Bogen weniger Schuld am Aufkommen des Nationalsozialismus gehabt haben sollten als die Männer, dem mochte nicht jeder zustimmen. Aber je heftiger der Schlagabtausch der Argumente ausfiel, desto zufriedener konnte Margarete Mitscherlich sein: Mit dem Buch "Die Unfähigkeit zu trauern" hatte sie die Grundlagen für diese Streitkultur geschaffen, für eine Gesellschaft, in der möglichst wenig verdrängt und unter den Tisch gekehrt wird.
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