Gefängnispsychiatrie

Haft zwischen Strafe und Therapie

Ein Pfleger bringt einen Maßnahmenhäftling auf sein Zimmer. Sie befinden sich in einem langen  in einem Gang mit dicht verschlossenen Türen, der Pfleger öffnet die Zimmertür des Häftlings.
Experten gehen davon aus, dass etwa die Hälfte der Gefangenen im Justizvollzug eine behandlungsbedürftige psychische Störung haben © picture alliance / Helmut Fohringer
Viele Insassen in deutschen Gefängnissen sind von psychischen Erkrankungen betroffen. Die Haftanstalten sind oft damit überfordert, Betroffenen ausreichende therapeutische Behandlung anzubieten. Erschwerend hinzu kommt der Mangel an Personal.
Häftlinge, die von psychischen Erkrankungen betroffen sind, stellen die Gefängnisse vor große Herausforderungen. Laut einer Expertenkommission ist mindestens jeder dritte Gefängnisinsasse betroffen, Erkrankungen wie Depressionen oder Klaustrophobie kommen dabei besonders häufig vor. In manchen Fällen werden die Gefangenen gewalttätig gegenüber Mitinsassen und Personal oder verletzen sich selbst. Viele Bedienstete sind überfordert, die Inhaftierten hilflos.
Dem Strafvollzugsgesetz zufolge steht Betroffenen eine gleichwertige gesundheitliche Behandlung wie allen anderen Bürgern zu. Die Justizvollzugsanstalten haben im Falle einer Erkrankung für die geistige und körperliche Gesundheit von Gefangenen zu sorgen. Doch die Umsetzung dieses Rechts scheitert oftmals an der Wirklichkeit des Vollzugsalltags.
Wie gehen deutsche Gefängnisse mit psychisch erkrankten Insassen um?

Erstmalige Diagnose unter Haft

In Deutschland saßen im Jahr 2024 knapp 44.000 Personen in Justizvollzugsanstalten ein. Genaue Zahlen darüber, wie viele Gefängnisinsassen von einer psychischen Erkrankung betroffen sind, liegen offiziell nicht vor. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) schätzt jedoch, dass bis zu 88 Prozent der Häftlinge mindestens unter einer psychischen Erkrankung leiden.
Gefängnispsychiatern zufolge gibt es damit deutlich mehr Personen mit psychischen Erkrankungen innerhalb von Haftanstalten als außerhalb. "Allein wenn man sich die Zahl von Suchtkranken ansieht, zeigen Erhebungen, dass etwa 40 Prozent aller Gefangenen von einer Suchtproblematik betroffen sind“, sagt Psychiater Gregor Groß, der in der Justizvollzugsanstalt Straubing in Niederbayern arbeitet.
Bei vielen seiner Patienten würden Krankheitsbilder wie Angststörungen, Wahnvorstellungen, posttraumatische Belastungsstörungen oder Depressionen erstmals diagnostiziert, wenn sie sich in Haft befänden. Dabei sind manche von ihnen bereits im Vorfeld erkrankt, andere entwickeln die Erkrankung erst während der Haft.

Lückenhafte Versorgung in Gefängnissen

Gregor Groß bemängelt, dass psychisch erkrankte Menschen in vielen Gefängnissen nicht ausreichend versorgt würden. „Ein Herzinfarkt kommt relativ schnell zur Versorgung und wird dann auch entsprechend behandelt, wie es in der allgemeinen Bevölkerung zu erwarten wäre. Bei psychischen Störungen sehen wir da oft einfach große Lücken“, sagt Psychiater Groß.
Die Versorgung unterscheide sich Groß zufolge von Bundesland zu Bundesland. In manchen Gefängnissen würden psychisch und psychiatrisch kranke Gefangene behandelt wie in Freiheit, in anderen nicht. Die DGPPN ermittelt deshalb in einer Befragung zur „Gefängnispsychiatrie“ derzeit, wo es dringenden Handlungsbedarf gibt.
Hinzu kommt, dass es in den meisten Gefängnissen und deren psychiatrischen Abteilungen an Personal mangelt. Gefängnispsychiater Gregor Groß sucht in der Justizvollzugsanstalt Straubing in Bayern seit drei Jahren vergeblich nach einem Kollegen.
Theoretisch können Gefangene mit psychiatrischen Erkrankungen in Kliniken auch außerhalb der Gefängnisse behandelt werden. Doch für ihre Überwachung braucht es zusätzliches Personal, denn kranke Gefängnisinsassen werden immer auch als erhöhtes Risiko für andere Patienten auf der Station betrachtet.

„Bunker“: Menschenrechtlich fragwürdig

Der Umgang von psychisch erkrankten Häftlingen innerhalb der Anstalten wirft unterdessen menschenrechtlich bedenkliche Fragen auf. Manche Gefängnisinsassen mit psychischen Erkrankungen kommen in sogenannte „besonders gesicherte Hafträume“ (bgH), wenn sie sich selbst oder andere gefährden könnten. Eine Unterbringung in bgH gilt als eine der härtesten Maßnahmen im Justizvollzug. Sie werden oft auch als "Bunker" bezeichnet: teilweise haben sie kein Fenster, keinen Tisch, keinen Stuhl und Gefangene dürfen nur Papierwäsche tragen, mit der sie sich nicht erhängen können.
Einer gemeinsamen Recherche von Deutschlandfunk Kultur und "FragDenStaat" zufolge ist die Zahl der in bgHs untergebrachten Gefängnisinsassen in den vergangenen Jahren in vielen Bundesländern gestiegen. 2023 waren es den Landesjustizministerien zufolge knapp 7200 Personen.
Rainer Dopp, Leiter der Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter, hinterfragt die Existenz der besonders gesicherten Hafträume nicht grundlegend. „Nur der Eindruck ist bei uns vorhanden, dass unter denen, die zu den häufigen Bewohnern von bgHs gehören, relativ viele psychisch Behandlungsbedürftige sind“, sagt Dopp.
Als Reaktion auf den Anstieg von Gefangenen mit psychiatrischen Erkrankungen haben die Gefängnisse mit mehr bgH-Haft reagiert – das sei möglicherweise eine Reaktion darauf, dass ihnen andere Möglichkeiten fehlten.

Häftlinge beklagen Vernachlässigung

Psychisch erkrankten Strafgefangenen eine angemessene therapeutische Behandlung zu ermöglichen, ist für die Justizvollzugsanstalten eine Gratwanderung. Denn ihr Status als Straftäter hat Priorität, auch wenn sie behandlungsbedürftige Patienten sind.
Deutschlandfunk Kultur sprach mit dem Gefängnisinsassen Samuel Kolani (*Name geändert), der 2015 wegen Mord zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt wurde. Während der Haftstrafe entwickelte Kolani sogenannte psychogene Krampfanfälle und beklagt: „Das, was hier los ist, es ist eine komplette Vernachlässigung.“ Mithilfe seines Anwalts versucht Kolani eine Haftunterbrechung zu erstreiten, damit er im Krankenhaus ohne Überwachungspersonal therapiert werden kann.
Christina Schermaul von der Sozialtherapeutischen Anstalt Hamburg betreut den Fall von Kolani und setzt dem entgegen: Man habe Termine in Spezialkliniken für Kolani vereinbart, bei vielen Bemühungen habe er wenig Kooperation gezeigt. Inzwischen habe man einen Kompromiss gefunden und eine externe Trauma-Therapeutin engagiert, die ihn besuchen kommt.

Gefangene wünschen sich bessere Behandlung

Ein anderes Modell gibt es in der Justizvollzugsanstalt Neumünster in Schleswig-Holstein. Auf dem Gelände gibt es eine Tagesklinik, in der Gefangene aus allen Anstalten Schleswig-Holsteins in der Regel für sechs bis acht Wochen untergebracht werden können.
In der Tagesklinik Neumünster haben alle Patienten eigene Hafträume, in denen sie sich durchgehend aufhalten. Das medizinische Personal ist tagsüber vor Ort und geht am Abend wieder. Neben Ärztinnen und Pflegern arbeiten auch uniformierte Beamte in der Tagesklinik der JVA Neumünster.
Carina Thoms zufolge, die in der Tagesklinik als Oberärztin arbeitet, gelingt die Behandlung und Betreuung von Inhaftierten dort besonders gut. Sie können Einzelgespräche, Ergotherapie, Sport oder Entspannungsverfahren wahrnehmen – so wie in regulären Kliniken.
Betroffene Patienten berichten von guten Erfahrungen. Kevin (*Name geändert), der in der JVA Neumünster wegen Drogen-Delikten einsitzt und mit Depressionen zu kämpfen hat, berichtet, dass er sich in der Tagesklinik gut aufgehoben fühlt: Anders als im Normalvollzug seien die Zelltüren hier viel häufiger offen, er werde gefühlsmäßig menschlicher und damit auch besser behandelt.
Das Modell der Tagesklinik Neumünster gilt als eine seltene Ausnahme in deutschen Gefängnissen.

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