Gedichtband "Die Morgendämmerung der Worte"

Poetischer Atlas der Roma und Sinti

Die Großmutter der Frau von Davyd Pap, der während eines Angriffs auf ein Roma-Lager in der Nähe der ukrainischen Stadt Lviv erstochen wurde.
Ausgrenzung und Verfolgung sind bestimmende Themen der Gedichte, sagt Wilfried Ihrig. © dpa / picture-alliance
Herausgeber Wilfried Ihrig im Gespräch mit Andrea Gerk · 06.09.2018
Über die Literatur der Roma und Sinti ist wenig bekannt. Nun erscheint ein moderner Poesie-Atlas, der Einblick in die Vielfalt der Lyrik von Roma und Sinti gibt. Die Texte zu finden, sei äußerst schwierig gewesen, sagt einer der Herausgeber, Wilfried Ihrig.
Mehr als 250 Gedichte von 100 Autorinnen und Autoren versammelt der Poesie-Atlas "Die Morgendämmerung der Worte". Mitherausgeber Wilfried Ihrig sagt im Deutschlandfunk Kultur, "man sagt, Literatur ist Weltliteratur, wenn sie überall gelesen wird. Die Roma-Literatur ist Weltliteratur, weil sie überall geschrieben wird, in vielen Ländern, fast allen Ländern der Erde." Daher sei die Recherche der Texte "äußerst schwierig gewesen". Mit Hilfe des Internets aber habe er viel in Bibliotheken und Antiquariaten im In- und Ausland bestellen können.

Zentrale Themen: Ausgrenzung und Verfolgung

Das Zentrum der Roma-Literatur liegt Ihrig zufolge in Osteuropa. "Die Roma kommen aus Indien. Sie gingen zuerst nach Osteuropa. Dort haben sie am längsten gelebt, seit sie nicht mehr in Indien waren. Deshalb gibt’s in allen osteuropäischen Ländern viel Roma-Literatur." Später seien sie nach Westeuropa gegangen, und dann nach Übersee. Auch dort gebe es Literatur.
In dem Atlas sind Gedichte enthalten, in denen das lyrische Ich sich selbst als Zigeuner bezeichnet - ein Begriff, der heute nicht mehr politisch korrekt ist. Herausgeber Ihrig erklärt die Verwendung des Begriffs Zigeuner so: "Meistens sind es Übersetzungen, die wir nur nachdrucken und die wir nicht verändern wollten. Sie sind vor 1990 entstanden. Da wurde das Wort Zigeuner noch überall verwendet."
Bestimmende Themen der Gedichte sind laut Ihrig Ausgrenzung und Verfolgung. Außerdem sei das Thema Auschwitz wichtig, die Identität des Rom, das Leben als Rom und das Schicksal, das damit verbunden sei. Es gebe auch Gedichte über Musik, Kunst und das Schreiben. Mit dabei seien auch Liedtexte, darunter ein Lied von Charlie Chaplin. Dass er Rom war, wisse man erst seit wenigen Jahren, so Ihrig.

In vielen Ländern sind Roma noch Analphabeten

Geschriebene Texte von Roma-Dichtern gibt es Herausgeber Wilfried Ihrig zufolge seit etwa 1900. Vorher habe es nur eine mündliche Tradition gegeben. "Da wir ein modernes Buch machen wollten, haben wir nur die schriftliche Tradition berücksichtigt", sagt Ihrig.
Die meisten im Poesie-Atlas vertretenen Dichter und Dichterinnen schreiben nicht in Romanes, der Sprache der Roma, sondern in der Sprache der Länder, in denen sie leben, erklärt Ihrig. Das liege auch daran, dass in vielen Ländern die Roma noch Analphabeten seien. "Das heißt, die Roma-Dichter können gar nicht für ihr eigenes Volk schreiben, sondern schreiben für das Volk, in dem sie leben."
(mia)

Wilfried Ihrig und Ulrich Janetzki (Hrg.): Die Morgendämmerung der Worte. Moderner Poesie-Atlas der Roma und Sinti
Die Andere Bibliothek, 2018
350 Seiten, 42 Euro (gebunden)

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