Zementierte Erinnerung

Zwei Drittel der 2000 Beton-Stelen des Berliner Holocaust-Mahnmals zeigen Risse und müssen saniert werden. Die jüdische Religionsphilosophin Yael Kupferberg meint: Das bröselnde Denkmal entzieht sich durch Verfall seiner Aufgabe.
Das Filetstück in der Mitte Berlins ist ein Meer grauer Betonstelen. Es beeindruckt fraglos, nimmt den Besucher mit, gehört fast obligatorisch zum Berlin-Besuch. 40 Millionen Menschen haben es in den vergangenen zehn Jahren seines Bestehens bereits gesehen.
Doch nun schwächelt das schwer erkämpfte Mahnmal für die ermordeten Juden Europas. In der Mitte Berlins zerbröselt es, das deutsche Gewissen. Mindestens eine Stele fehlt, viele sind beschädigt - von der Witterung, vom Gebrauch.
Das in Beton gegossene und installierte kollektive Über-Ich scheint - wie alle Materie - zu vergehen. Der Zahn der Zeit nagt daran. Der Beton hält nicht 1000 Jahre, wie der Bauleiter versprach und sich mit dieser Fehlleistung in der Metaphorik deutscher Geschichte ordentlich verhedderte.
Das deutsche Gewissen hängt an der intakten Stele
Die Mühsal um die Erinnerungsarbeit wird einmal mehr geprüft. Die Narben reißen auf. Wieder ist es schwierig. Die öffentliche Auseinandersetzung um die Versehrtheit des Betons vergegenwärtigt: das Mahnmal ist ein Politikum - präziser noch - ein Lackmustest des deutschen Bewusstseins, ein Lackmustest des deutschen Gewissens.
Und? Wie steht es damit? Das Eingeständnis der Schuld und der historischen Verantwortung im kollektiven Bewusstsein ist schwer zu erfassen. Unstreitig ist die Katastrophe Gegenstand der gründlichen und differenzierten deutschen Geschichtsschreibung.
Ist die Schoah jedoch auch Bestand des deutschen Gedächtnisses? Und wenn, unter welchem Vorzeichen? Der Zweifel daran wächst und heftet sich dann an die Banalität eines Götzen. Zerfällt dieser, so ist auch das auf ihn Projizierte, das Gedenken, in Gefahr. Das deutsche Gewissen hängt an der intakten Stele, am Bild des nun brüchig gewordenen Betons.
Insofern rüttelt der Verfall des Mahnmals den deutschen Komplex um Aufarbeitung, Erinnerung und Verdrängung auf. Er rüttelt aber auch an der Konzeption des Mahnmals selbst. Denn im Verfall verhöhnt es die gute und richtige Absicht, dass die Materialisierung der Katastrophe einen Moment der langlebigen und ausgestellten Sühne bereithält. Dieses Versprechen kann nicht gehalten werden.
Das Denkmal könnte sein Ziel verfehlt haben
Dass das Gedächtnis in Beton gegossen wird und die Erinnerung zum Bild, zur Skulptur erstarrt, ist der jüdischen Tradition fremd. Im jüdischen Verbot, sich ein Bild von Gott und von allem Leben zu machen, wird der Geist aufgefordert, nicht zu verharren, sondern der Bewegung und Entwicklung Rechnung zu tragen.
In der jüdischen Tradition fallen Geschichte und Gedächtnis zusammen. Historische Ereignisse werden als sinnstiftend wahrgenommen und erinnern als Erzählung, als kommunikatives Gedächtnis. Das lebendige Moment, die Einzigartigkeit ist in der Erzählung aufgehoben und insofern beweglich. Im Holocaust-Mahnmal ist die Erinnerung gebunden in einer Gestalt, im Bild, in der Skulptur.
Der Weg vom Bild zum Gedächtnis kippt insofern im Vergehen der Stelen. Der Beton hält nicht das, was er verspricht. Offensichtlich klafft die Lücke zwischen ausgestellter Schuld und innerlicher Empathie.
Das Denkmal könnte sein Ziel verfehlt haben. Nichts lässt sich einbetonieren, was leben sollte: Die Geschichte der Juden wird nicht zum Gedächtnis deutscher Öffentlichkeit. Abwehr macht sich breit und Schadenfreude. Ängstlich heftet sich der Blick nach Berlins Mitte, zur Stele. Und der Druck wächst.

Die Germanistin und Journalistin Yael Kupferberg, aufgenommen am 5.11.2008 beim rbb-Kulturtalk "Im Palais"© dpa / picture alliance / Karlheinz Schindler
Yael Kupferberg, geboren 1978 in Berlin, ist Literaturwissenschaftlerin und studierte in Berlin, Philadelphia und Tel Aviv Germanistik und Jüdische Studien. Sie promovierte über "Heinrich Heine und den Witz" und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der School of Jewish Theology am Lehrstuhl für Jüdische Religionsphilosophie der Universität Potsdam. Derzeit forscht sie zu den späten Schriften Max Horkheimers.