Gedankenprotokolle von Museumsbesuchern

Eine Stunde vor einem Bild

37:05 Minuten
Das Ballsouper von Adolph Menzel
Versenken Sie sich eine Stunde in ein Bild des Malers Adolph Menzel und notieren Sie Ihre Gedanken – diese Aufgabe stellte Kunsthistorikerin Eva Ehninger ihren Studierenden. © picture alliance / akg-images
Von Hans von Trotha · 17.11.2021
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Nach dem Lockdown haben Studierende ein Experiment in der Alten Nationalgalerie gewagt: Eine Stunde haben sie vor einem der Kunstwerke des Malers Adolph von Menzel verbracht. Ihre Gedanken während des Museumsbesuchs haben sie aufgezeichnet.
„Schönheit ist da, wo Wahrheit ist, Wahrheit ist Schönheit.“ Dieser Satz wird Adolph von Menzel zugeschrieben, einem der vielseitigsten deutschen Maler der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Er bahnte dem Realismus den Weg, der die Wahrheit bisweilen über die Schönheit stellte. Sein Werk lässt sich vor allem in der Alten Nationalgalerie bewundern.

Das Museum erwacht aus dem Dornröschenschlaf

Während der Coronapandemie war die Nationalgalerie geschlossen und ist dann aus dem erzwungenen Dornröschenschlaf erweckt worden. Die Kunsthistorikerin Eva Ehninger hat dies zu einem Experiment genutzt: Sie gab ihren Studentinnen und Studenten im Frühjahr 2021 auf, sich eine Stunde lang vor einem selbst ausgewählten Menzel-Bild aufzuhalten und den Erkenntnisvorgang in ihrem Smartphone festzuhalten.
„Die Idee war, dass sie dadurch auch ein bisschen das simulieren, was im normalen Gespräch passieren würde: Dass man das, was man sieht, direkt formuliert und dafür dann auch im Kopf eine Ordnung findet oder eine Struktur und auch ein Argument findet und das nicht gleich sofort verschriftlicht oder in eine Schriftform bringt“, sagt Ehninger.

Wieder sehen nach dem Lockdown

Denn für die Professorin ist klar: Die kunsthistorische Ausbildung ist auf die authentische Begegnung mit der Kunst selbst angewiesen, auf das Erlebnis des Originals – und, nicht minder essenziell, auf den Austausch mit anderen, das Heranarbeiten an die eigene Meinung, die Wandlung von Intuition in Argumente.
„Das Begegnen im Museum ist ja immer das Begegnen mit der Kunst, das Begegnen mit meinen Gedanken, aber auch das Begegnen mit anderen Menschen und anderen Gedanken“, meint auch Ralph Gleis, Direktor der Alten Nationalgalerie.
Als sich die Tore in die Welt der Kunst wenigstens wieder einen Spalt breit öffneten, startete Eva Ehninger deswegen ihr Experiment: Ein "Wieder Sehen" nach dem Lockdown. Diese eine Stunde vor einem Gemälde, „das war dann so ein bisschen wie ein Geschenk an sich selbst“, so Ehninger.
Das Gemälde von Adolph Menzel zeigt einem Stuhl am geöffneten Fenster, durch dessen Vorhänge das Licht herein fällt.
Das Balkonzimmer gehört zu den Frühwerken Adolph Menzels.© picture alliance / akg-images

„Zuallererst schiebt sich die Weitläufigkeit der Alten Nationalgalerie als reale Erfahrung in meine schon leicht verblasste Erinnerung an diesen Ort – das überwältigende Gefühl, tatsächlich vor Ort zu sein.

Ich durchlaufe die Räume, lasse Werke an mir vorüberrauschen, Fragmente von Epochen. Ich suche Menzel. Da tauchen erste Arbeiten auf, Dimensionen, Farben, Tiefen – der Blick wandert. Das Ballsouper, das Flötenkonzert, die Ansprache Friedrichs des Großen – alles Arbeiten, die ich bislang innerhalb der 13 Zoll meines Laptopscreens kennengelernt habe, tun sich nun in ihrer wahren Dimension vor mir auf. Das zu sehen, ist schön, tut gut. Es überwältigt.

Der zweite Blick stellt sich erst nach einer ganzen Weile ein. Ich lasse Ruhe einkehren, versuche mich auf meine Intuition zu verlassen, die meine Wahl auf ein Werk lenken soll, das Handy bereit zur Aufnahme.

Am Ende bleibt mein Blick bei der Arbeit Das Balkonzimmer hängen: keine der großen Arbeiten Menzels. Es ist im wahrsten Sinne dieser einfachen Beschreibung relativ klein – fast unscheinbar, entzieht sich einem ersten Blick, um dann Tiefen und Wahrheiten zu offenbaren, oder eben das gerade nicht zu tun.

Das Balkonzimmer ist vielleicht überhaupt die Arbeit für den zweiten Blick. Ich sehe warmes, weiches Sonnenlicht, das durch Gardinen fällt – die Schläfrigkeit eines sommerwarmen Spätnachmittages wird regelrecht spürbar, wie auch der Windhauch, der die Stofflichkeit, der den Gardinenstoff, ganz leicht nur, zu bewegen scheint und damit den Außenraum, der sich mir als Betrachterin zunächst verschließt, nach innen holt.

Sarah Marcinkowski ist Studentin der Kunst- und Bildgeschichte im zehnten Semester.

Neben dem Interieur – zwei Stühle, die wie Rücken an Rücken zu beiden Seiten eines Spiegels stehen, einen karmesinroten Teppich, einem in grobem Duktus angedeuteten Sofa – interessiert mich vor allem das, was ich nicht sehe: die Leere, die den Raum im Bild, den Bildraum erfüllt. Raum, der erst durch den Raum im Spiegelbild in Erscheinung tritt, der sich am Ende mehr durch das Abwesende ergibt als durch das Anwesende, eher auf den zweiten Blick eben als auf den ersten. Wie ich sehe und was ich gesehen habe, habe ich in einem zweiten Versuch gesehen, auf den zweiten Blick. Der erste war nur kurz, flüchtig.“

Sarah Marcinkowski ist Studentin der Kunst- und Bildgeschichte im zehnten Semester.

Das Gemälde von Adolph Menzel zeigt eine Ballszene in einem opulenten Saal mit großen Kronenleuchtern.
Die Darstellung des Lichts in dieser Ballszene aus dem Berliner Schloss gehört zu den anspruchsvollsten Werken von Adolph Menzel.© picture alliance / akg-images

„Nach einigen Runden durch die Menzel-Räume entscheide ich mich für das Ballsouper. Von all den Bildern kommt es meiner Sehnsucht nach anderen Menschen, nach Kontakten, danach, auch wieder einmal Teil eines großen Festes zu sein, am weitesten entgegen. Alternativ hatte ich mir das Balkonzimmer des Künstlers in der Ritterstraße überlegt. Doch das erinnert mich zu sehr an den Ausblick, den ich nun schon so lange täglich gesehen habe.

Anfangs überfordert mich die Masse der Menschen, doch nach einigen Minuten fange ich an, sie zu ordnen. Ich lasse meinen Blick systematisch über das Bild wandern. Ich kann mich nicht daran erinnern, wie lang mein letzter Museumsbesuch her ist, und freue mich, die Bilder nun endlich wieder wirklich zu sehen, nicht nur auf einem Bildschirm. Muss ich nun die erlernten Techniken aus der Uni anwenden, oder kann ich auch einfach so das Bild genießen?

Anfangs irritiert mich ein Mann in der Menge, der mich direkt ansieht. Oder schaut er seinem Vordermann beim Essen zu? Er sticht heraus, weil er mich direkt anzusehen scheint, mit mürrischem Blick. Diesen Blick kenne ich von anderen Bildern Menzels. Was will er mir damit sagen? Ist der Mann die Verbindung zwischen dem Bild und der Wirklichkeit? Ich versuche, ihn zu ignorieren.

Viele kleine Begebenheiten lassen sich auf dem Bild finden. Da ist eine Gruppe von Männern in Uniform, die eine angeregte Konversation halten. Nur bei einem von ihnen scheint der Hunger größer zu sein als die Lust auf das Gespräch. Wo eigentlich vier Hände von Nöten wären, muss er mit zweien auskommen: Den Hut zwischen die Beine geklemmt, das Glas und den Teller in der einen und die Gabel in der anderen Hand, versucht er, einen Happen zu essen. Sitzend und, so scheint es, schon etwas angetrunken, unterhalten sich ein paar Damen. Ihre Körperhaltung ist nicht so steif, wie ich es von anderen Bildern aus dieser Zeit kenne.

Ein Herr ist kurz vor einer kleinen Blamage. Er ist gerade dabei, sich auf einen Stuhl zu setzen, auf dem ein Teller abgestellt ist. Schon fast lasziv räkelt sich eine Dame auf ihrem Sessel, die Hand an ihrem Haar. Kein Wunder, denn sie wird von dem Herrn ihr gegenüber verführerisch mit den Augen entkleidet.

Wenn ich die Augen schließe, höre ich das Gemurmel, das Lachen, das Klirren der Gläser – und bekomme Sehnsucht nach Gesellschaft. Nach etwas mehr als einer Stunde löse ich mich von dem Bild und gehe nach Hause. Um mich herum Stille. Fast ist es wie der Heimweg nach einem rauschenden Fest.“

Sabine Mittermeier ist Studentin der Kunst- und Bildgeschichte im sechsten Semester.

Das Gemälde von Adolph Menzen zeigt sein Schlafzimmer.
In der Wohnung in der Berliner Ritterstraße lebte Adolph Menzel zwischen 1847 und 1860.© picture alliance / akg-images

„Kurzentschlossen bleibe ich stehen. Das Gemälde zu meiner Linken heißt und zeigt das Schlafzimmer des Künstlers in der Ritterstraße. Eine vertraute Umgebung, die in den letzten Monaten von den meisten Menschen neu entdeckt und interpretiert worden ist. Ich stehe vor dem Bild und sehe zunächst nicht besonders viel.

Das Gemälde zeigt nur einen Bereich des Schlafzimmers, weite Teile nicht fertig gemalt. Während die eine Hälfte leer und unfertig ist, ist die andere Seite lückenlos zugestellt.

Irgendwo zwischen den Möbeln eingeklemmt sitzt eine Person. Sie erinnert mich an meinen Großvater, wie er am Wochenende entspannt seine Zeitung las. Hin und wieder würde er aus dem Fenster schauen und nach einer Bestätigung seiner Gedanken suchen.

Doch ich sehe auch, wie er sich von seinem beengten Zimmer abwendet und durch die Scheibe in eine andere Welt abtaucht. Das Bedürfnis abzutauchen, um das kahle, dabei gleichzeitig zugestellte Zimmer zu verlassen, kenne ich von mir selbst nur allzu gut. So wird die dunkelste Ecke zu meinem Blick in die Welt, zumindest der Blick in die Schlafzimmer anderer.

Ich befinde mich wieder im Museum vor einer Wand voller Rechtecke und schaue in das Leben anderer. Während ich meine Gedanken formuliere, werde ich plötzlich aus dieser Welt gerissen. Ich werde daran erinnert, dass ich vor einem Gemälde in einem Museum stehe. Gleichzeitig wird mir bewusstgemacht, dass ich auch in das Handy in meiner Hand spreche.

Der Aufseher weist mich im freundlichen Ton darauf hin, dass Tonaufnahmen im Museum nicht gestattet sind. Jedenfalls glaube ich, dass es das ist, was er sagt, denn ein Paar im Hintergrund unterhält sich lautstark darüber, ob das ein nackter Fuß wirklich ein angemessenes Sujet für ein Gemälde in einem Museum ist.

Ich überzeuge den sympathischen Aufseher von der kulturellen Wichtigkeit dieser Aufnahme, und wir einigen uns auf einen Flüsterton. So wende ich mich wieder Menzels Schlafzimmer zu. Nur bin ich mir jetzt der Tatsache sehr bewusst, dass ich mich außerhalb des Gemäldes befinde.

Gerade kam es mir noch so vor, als säße ich vor Menzels Schlafzimmerfenster und schaute träumerisch auf die Hinterhöfe. Jetzt bemerke ich, wie ich angespannt die Dachpfannen anstarre und versuche, eine tiefere Bedeutung in dem halbgedeckten Giebel zu erkennen. Aber ich finde keinen erneuten Zugang mehr.

Die spontane Interaktion mit dem Aufseher hat mich überrascht, und am Ende hat es mich gefreut, eine neue, ungeplante Verbindung zu einem Menschen aufgebaut zu haben. Ich bemerke, dass ein noch so kleines Erlebnis wie der Austausch mit dem Wärter meine Stimmung und gleichzeitig ein ganzes Bild verändern und formen können. Ich bin gespannt, in welchem Gemütszustand ich die Figur am Fenster von Menzels Schlafzimmer beim nächsten Mal antreffen werde.“

Tjark Mackensen ist Student der Kunst- und Bildgeschichte im vierten Semester Bachelor

Das Gemälde von Adolph Menzel zeigt Arbeiter in einem Eisenwalzwerk.
"Das Eisenwalzwerk" gehört zu Menzels Hauptwerken aus der Zeit, als er sich infolge der industriellen Revolution mit der sozialen Frage befasste.© picture alliance / akg-images / Erich Lessing

„Ich blicke in die Flucht einer großen Fabrikhalle und sehe Gruppen von Arbeitern, die glühende Eisenbahnschienen in Walzöfen bearbeiten. Es ist das Zeitalter der Industrialisierung. Das Werk erscheint mir düster und dunkel.

Ich versuche, die Menschengruppen zu erfassen und zu verstehen, welche Arbeitsprozesse stattfinden. Ich beobachte den Lichteinfall, von glühenden Schienen rötlich-orange beleuchtete Gesichter, wie bei einem Lagerfeuer. Einzelne Personen sind in unerwarteten alltäglichen Situationen gezeigt: wie sie essen oder sich waschen. Eine Frau bringt einen Korb mit Proviant. Sie schaut mir direkt in die Augen. Ich fühle mich ertappt.

Ich bin fasziniert von dem Gegensatz, in einem stillen, kühlen und sauberen Museum zu sitzen, während ich gleichzeitig mitten in eine wahrscheinlich laute, heiße und dreckige Fabrikhalle schaue. Ich stelle mir vor, wie es wäre, das Zischen und Hämmern zu hören, Schweiß, Essensgerüche, Rauch und Dampf um mich herum, während Arbeiter betriebsam ihren Aufgaben nachgehen. Wie, frage ich mich, wurde das Bild wohl von Betrachterinnen und Betrachtern zu Menzels Lebzeiten empfunden?

Der Lichteinfall beschäftigt mich, bis auf kleine, runde Öffnungen an den Seitenwänden nur indirektes Licht, was die düstere Atmosphäre unterstreicht. Doch da bemerke ich, dass mir das Bild immer weniger düster vorkommt, je länger ich es betrachte, je mehr ich erkenne, oder aber, dass das Wort düster immer weniger negativ besetzt ist.

Durch das intensive Sehen und Erkennen, durch die ungewöhnlich lange Aufmerksamkeit, die ich dem Werk widme, verändern sich das Bild und ich. Es verändert sich die Stimmung, die das Bild mir vermittelt.“

Heike Waldenmaier ist Studentin der Kunst- und Bildgeschichte im zweiten Semester.

„Ich bin selbst überrascht, dass es schon nach kurzer Zeit ausgerechnet ein unscheinbares, kleinformatiges Gemälde mit dem Titel Abendgesellschaft ist, das mich fesselt.

Ich habe sofort das Gefühl, die Situation zu kennen: Der Abend ist fortgeschritten, die kleine Gruppe, bestehend aus fünf Personen, sitzt um einen runden Tisch in einem gutbürgerlichen Wohnzimmer. Die zwei Frauen sind auf dem schweren, roten Sofa schon fast weggedöst, während die beiden einander zugewandten Männer vermutlich gerade zu einem neuen Gespräch ansetzen, um das Auseinandergehen der Gruppe hinauszuzögern.

Meine Aufmerksamkeit wird immer wieder auf die von mir schnell als Menzel identifizierte Rückenfigur im rechten Bildvordergrund gelenkt. Etwas abseits von der Gruppe posiert er ungewohnt lässig: einen Arm über der Stuhllehne, leicht nach oben geneigter Kopf, als würde er gerade an einer Zigarette ziehen, die er in der anderen Hand hält. Vor ihm auf dem Tisch liegt sein in Leder gebundenes Skizzenbuch, mit mindestens einer Zeichnung dieses Abends, vermute ich. Sonst wirkt sein Gestus eher unbeteiligt und passt zu der ihm so oft zugeschriebenen Rolle des gesellschaftlichen Außenseiters. Durch den mir von ihm vorgegebenen Blick in die Runde scheine ich den jetzt selbst einzunehmen.

Aufgrund meiner Perspektive und in dem vorgegebenen distanzierten Querblick über das Bild komme ich mir vor wie eine heimliche Beobachterin des Geschehens, fast wie ein Kind, das bereits im Bett liegen sollte, aber nicht zur Ruhe kommt, wenn die Eltern abends noch Besuch haben.

Der Mikrokosmos, den Menzel hier einfängt, verlangt gar nicht unbedingt nach einer historischen Einbettung. Er steht für sich selbst und ist nachgerade zeitlos, die Wiedergabe von etwas, wie schon erwähnt, gemeinhin Bekanntem bei der Inszenierung eines ganz gewöhnlichen, immer wiederkehrenden Abends.

So verliere ich mich immer tiefer in dieser intimen und dabei so unaufgeregten Atmosphäre. Da bemerke ich, dass trotz der Schlichtheit des Bildmotivs die Stunde schon vorüber ist. Zurück im Museumsraum fällt es mir schwer, mich von Menzel und der mir vertraut gewordenen Gruppe zu lösen.“

Maria Seefeld und Annina Guntli sind Studentinnen der Bild- und Kunstgeschichte im fünften beziehungsweise vierten Semester.

Das Gemälde von Adolph Menzel zeigt eine Ballszene in einem opulenten Saal mit großen Kronenleuchtern.
Die Darstellung des Lichts in dieser Ballszene aus dem Berliner Schloss gehört zu den anspruchsvollsten Werken von Adolph Menzel.© picture alliance / akg-images

„Ein Festsaal voller elegant gekleideter Menschen vermittelt eine ausgesprochen feierliche Stimmung. Durch eine große Öffnung kann ich in einen zweiten Saal blicken.

Der Titel Ballsouper leuchtet gleich ein: ein Festessen auf einem Ball, im hinteren Raum könnte sich das Buffet befinden. Ich kann zunächst allerdings nur sehen, wie chaotisch sich die Figuren durch die zwei Räume drängen. Ich betrachte einen Stuhl, auf dem ein Teller mit Besteck und ein Glas stehen: Wenn ich diesen Stuhl zur Seite schieben könnte, könnte ich einen Riss in der Menschenmenge öffnen und mich vielleicht der Welt des Gemäldes besser nähern. Ich könnte dem Menschenfluss folgen und in den hinteren Raum gehen. Von diesem kann ich nur eine Wand mit großen Gemälden und einem Spiegel sehen, darunter ein Gewirr von Menschenköpfen. Mein Blick neigt immer stärker dazu, diese unbestimmte Zone des Bildes zu erkunden.

Mir wird klar, dass das Hin-und-Her der Gäste ein Ziel hat: Sie wollen sich bedienen. Auch die Figuren im Vordergrund wollen nicht ihren Status zeigen, sondern sie essen, warten auf das Essen oder sie sind schon satt und unterhalten sich. Langsam verändert sich die Wirkung des Bildes: Die erhabene Atmosphäre löst sich in eine Reihe von anspruchslosen Anekdoten auf, die nichts mit der Pracht der Räume zu tun haben.

Immer, wenn ich versuche, einer der Figuren näherzukommen, wird meine Aufmerksamkeit von anderen Details abgelenkt. Vielleicht bin ich von der Menschenmenge ein bisschen verwirrt oder eingeschüchtert – oder ich bin es einfach nicht mehr gewohnt, fremde Menschen zu beobachten.“

Francesco De Naro Papa ist Student der Kunst- und Bildgeschichte, Ronja Güth Studentin, der Kunst und Bildgeschichte.

Auf dem Gemälde von Adolph Menzel sind verschwommen Bäume und schräg stehende Grabsteine zu sehen.
Der jüdische Friedhof in Prag, 1852 gemalt von Adolph Menzel.© picture alliance / akg-images

„Eine düstere Leinwand. Schwarz, dunkles Braun und Ocker, mit wildem Pinselstrich aufgetragen. Aber was sehe ich? Verschieden farbige Flächen im Vordergrund sind durch scharfe Kanten als einzelne Objekte zu erkennen. Sind es Steine? Dahinter löst sich die Form auf. Wirre Linien und Tupfen lassen einen Wald vermuten. Ein Blick auf das Schild zum Bild verrät den Titel und damit das Motiv: Der Judenfriedhof in Prag. Nun fügt sich die Szene. Ich erkenne einzelne, zum Teil umgestürzte Grabsteine, im Bildhintergrund erscheinen sie als wirre Masse.

Neben dieser Faszination für das Gemälde stellt sich die Frage: Möchte ich mich während meines ersten Museumsbesuchs nach so langer Zeit wirklich einem derart düsteren Bild widmen?

 Nach einigen Minuten verändert sich das Bild. Die Tiefenwirkung nimmt ab, und die abstrakten Formen verdeutlichen die Zweidimensionalität der Leinwand. Die schwerfällige Materialität der Farbe in der unteren Bildhälfte löst sich nach oben hin zusehends auf. Menzel hat anscheinend zwischen dickem Farbauftrag und einer eher lasierenden Technik gewechselt. So legt sich über die irdische Materie ein leichter Dunst dunkler Schatten, hier und da vom winterlichen Licht durchbrochen.

Nachdem sich die Formen mit jeder Minute des Betrachtens weiter auflösen, versucht mein Auge, sie neu zusammen zu setzten. Ich meine, Fratzen zu erkennen, Körper, die sich in den Schatten tummeln. Ich frage mich, ob sie wirklich im Bild existieren. Hat Menzel in diesem Wimmelbild Geheimnisse versteckt? Diese Idee scheint mir abwegig. Aber ich hatte sie.

Irgendwann kann ich mich kaum noch auf das Werk konzentrieren. Das düstere Motiv, die aggressive Stimmung, die starke Abstraktion lassen meine Augen nicht zur Ruhe kommen. Mein Blick schweift zu benachbarten Gemälden. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich das richtige Motiv gewählt habe. Ich verlasse den Raum nach einer gefühlten Ewigkeit, schlendere durch die anderen Säle, besuche meine Lieblingswerke. Hätte ein anderes Gemälde mir mehr geboten? Hätte ich vielleicht doch den Fuß von Menzel nehmen sollen?

Erst nach Wochen habe ich dann begriffen, dass es gerade die Konfrontation mit einem für Menzel so untypischen Werk gewesen ist, die mich wirklich bereichert hat."

Lena Fischer ist Studentin der Kunst- und Bildgeschichte im zweiten Semester Master.

Ton: Jan Fraune
Regie: Roman Neumann
Redaktion: Winfried Sträter

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