Gebrochene Bürgerkinder im Sog der K-Parteien

17.07.2012
KBW, KB, KPD, KPD/AO – die Geschichte der K-Gruppen ist ein erschreckendes Kapitel der Bundesrepublik. Mit Gunnar Hinck schildert ein Nachgeborener die perversen Macht- und Unterwerfungsspiele der selbsternannten revolutionären Avantgarde.
Nach der Studentenrevolte 1967/68 strömten Heerscharen junger Linker in Politgruppen, die sich die große Revolution auf die Fahnen schrieben, aber als dogmatische Sekten ihr Unwesen trieben. Diese K-Gruppen sind weit weniger untersucht als die vergleichsweise kleinen terroristischen Zirkel. Gunnar Hinck geht von über 200.000 Menschen aus, die in den 70er-Jahren in den Sog marxistisch-leninistischer, stalinistischer, trotzkistischer, spontaneistischer oder maoistischer Gruppierungen gerieten. Für die Verheißung einer großen Revolution waren sie bereit, ihr Leben zu opfern - dem KBW, dem KB, der KPD, KPD/AO, und wie sie alle hießen. Wenn man bedenkt, dass dies das Resultat der linken, aber auch freiheitlich-emanzipatorischen APO-Bewegung der 60er-Jahre war, drängt sich die Frage auf: Wie war das möglich?

Gerd Koenen hat das Phänomen bereits 2001 unter dem griffigen Titel "Das rote Jahrzehnt" analysiert. Koenen war selbst führender KBW-Kader gewesen, er hat mithin auch seine eigene Geschichte aufgearbeitet. Gunnar Hinck hingegen ist ein Nachgeborener, Jahrgang 1973, und er hat, wie er betont, "keine Rechnung offen mit den 70er-Jahren".

Hinck bezweifelt die gängige These, dass die Studentenbewegung und das "rote Jahrzehnt" aus dem Generationenkonflikt der Nachkriegskinder mit den schweigsamen Nazi-Eltern entstanden seien. Er untersucht die Familiengeschichten ehemals führender Linker und kommt zu dem Schluss: Die meisten Köpfe der Bewegung stammten aus bürgerlichen Familien, die in der Kriegs- und Nachkriegszeit Brüche erlebt hatten, oftmals durch den Tod des Vaters und den Verlust der herkömmlichen gesellschaftlichen Stellung.

"Sie waren Bürgerkinder, aber eben keine 'behüteten Bürgerkinder', sondern 'gebrochene Bürgerkinder'. Sie waren Suchende. [...] Über den Marxismus und die von ihnen gegründeten Organisationen konnten sie Macht- oder Gewaltfantasien ausleben, ihre eigene Orientierungslosigkeit kompensieren, das Bedürfnis nach Anerkennung oder nach Gruppenzugehörigkeit befriedigen", bilanziert Hinck. Wäre nicht der Marxismus en vogue gewesen, sondern Scientology, "hätten sie sich womöglich massenhaft Scientology angeschlossen oder ähnliche Sekten gegründet".

Auch wenn Hincks psychologische Deutungsversuche manchmal etwas holzschnittartig anmuten – diese Schlussfolgerung drängt sich auf, wenn man sich die K-Gruppen-Geschichte genauer ansieht. Die leitenden Kader gaben Parteilinien vor, Abweichler wurden gebrandmarkt, in die Produktion geschickt, angehenden Wissenschaftlern die Promotion untersagt, damit sie keine bürgerliche Karriere im Wissenschaftsbetrieb machten, Kampagnen gegen missliebige Konkurrenten wurden gestartet. Mitte der 70er-Jahre initiierte ein Chefideologe des KBW in Heidelberg eine Kampagne gegen einen Führungskader: Der sei eine "durch und durch verlumpte Existenz", ein "lumpenproletarisches Element". Er wurde "strafversetzt", um ihn von seiner Frau zu trennen und zur Arbeit in einem Betrieb verdonnert. Ein anderer durfte nicht einmal an der Beerdigung seiner Mutter teilnehmen. Es ist unglaublich, was viele K-Gruppen-Mitglieder damals mit sich machen ließen, weil sie an das hehre Ziel glaubten.

Erschreckend ist, dass die K-Gruppen das gesamte Arsenal perverser Macht- und Unterwerfungstechniken durchspielten, die aus der Geschichte des Kommunismus bekannt sind. Vor der blutigen Konsequenz, Liquidierungen und Folterkeller, bewahrte sie der bürgerliche Rechtsstaat. Beim Zerfall der K-Gruppen bekamen viele die Chance, ihrem Leben noch eine bürgerliche Wende zu geben. Sie landeten bei den Grünen oder machten zum Teil erstaunliche Karrieren, bis hin zum Herausgeber der Welt, Chefredakteur des Handelsblattes oder zum preisgekrönten Geschichtsprofessor. Dass manche als Konvertiten heute genauso kategorisch neoliberale Ansichten vertreten wie damals orthodox kommunistische, ist für Hinck wenig überraschend: Denn auch in den gewendeten Gestalten erkennt er viele Kontinuitäten aus der K-Gruppen-Zeit wieder.

Hinck bietet eine anschauliche Lektüre über ein gruseliges Kapitel der Nach-68er-Zeit – als der Ausbruch aus der muffigen Adenauer-Welt umschlug in das Verlangen, revolutionäre Avantgarde zu sein. Es ist allerdings befremdlich, wie sehr er sich als Nachgeborener, der angeblich keine Rechnung mit den Linken offen hat, immer wieder zu persönlichen Abrechnungen hinreißen lässt. Seine Lieblingsfeinde sind Christian Semler und Joscha Schmierer – als ob die beiden eine Alleinschuld am "roten Jahrzehnt" trügen. Hincks Konzentration auf die bekannteren K-Größen befriedigt die Neugier des Lesers (allein die lange Liste der heute prominenten Namen…) – aber es bleibt etwas offen: der Blick in die Welt der einfachen K-Gruppenmitglieder. Warum haben sie sich so viel gefallen lassen? Und was ist aus ihnen geworden? Hincks Buch lässt Platz für weitere Forschungen.

Besprochen von Winfried Sträter

Gunnar Hinck: Wir waren wie Maschinen. Die bundesdeutsche Linke der 70er-Jahre
Rotbuch Verlag, Berlin 2012
464 Seiten, 19,95 Euro
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