Geboren in Teheran (6)

Fliegen, laufen, träumen

Junge Iranerinnen in Jeans und bunten Tüchern gehen mit Einkaufstüten eine Straße entlang.
Junge Iranerinnen beim Shoppen in Teheran - damals ging SAID mit seiner Tante einkaufen © ATTA KENARE / AFP
Von SAID · 25.04.2015
Seine Erinnerungen an die Kindheit in Teheran hat der Schriftsteller SAID in Gedichten verarbeitet. Im "Originalton" präsentiert er unveröffentlichtes Material. Heute: Drei Momentaufnahmen dieser "Kindheit in Teheran".
fortgeflogen
das kind ist oft krank; zumindest meint das die großmutter.
dann wird es im vaterzimmer hingelegt und gut zugedeckt.
wenn das fieber in ihm summt, verändert sich die logik des raumes.
es öffnet die türfenster, geht auf zehenspitzen zu seiner palme und klettert sie hoch.
von der baumkrone fliegt das kind hinauf.
es bleibt im himmel stehen – wie ein pirol sich in der luft hält –
ohne zu flattern.
dann schwebt es über die dideban-straße, gelangt zu den flachdächern auf der anderen seite. von dort betrachtet das kind das haus, seine palme.
in den klaren nächten fliegt es sogar zu den sternen.
das kind fliegt fort – wann immer es nötig ist.
mensch und tier
das kind begleitet tante zinat zum einkaufen, froh, die großmutter für eine weile los zu sein.
nahe der weißen brücke, am flußufer entlang, kehren sie nach hause zurück.
das kind sieht büffel.
gemächlich bewegen sie sich am wasser, schnuppern herum und geben keinen laut von sich. sie beachten nicht die araberfrauen, die hinter ihnen herstolzieren.
auch die frauen bleiben stumm, als hätten sie angst, ihre stimme würde die tiere verstören.
mit holzschaufeln sammeln sie die fladen.
tante zinat sagt:
"die fladen kauft deine großmutter und scheuert damit die zinnschüsseln. sie glaubt, das sei das beste mittel."
sie bleibt stehen, zieht den schleier enger um sich und kichert:
"sieh, da läuft der mensch hinter dem tier her."
ende des gymnasiums
das kind ist im abiturjahr, seine noten sind gut, vater läßt es in ruhe.
das kind liest bücher und lernt wenig für das gymnasium.
tief in seinem herzen weiß es, daß es das abitur schafft.
einmal in der woche muß es sich bei der großmutter zeigen um des friedens willen.
mama charmante nimmt es oft mit ins kino oder zum café naderi.
langsam beginnt vater über die zukunft des kindes zu sprechen.
nach seinem wunsch soll der sohn bauingenieur werden; den wunsch spricht er oft aus –
besonders wenn besuch da ist.
das kind haßt zahlen, erzählen liegt ihm mehr.
damit aber hält es sich zurück im haus des vaters, um so mehr erzählt es in der schule –
von seinen büchern, von seinen träumen.



"Originalton" heißt ein täglicher Bestandteil unserer Sendung "Lesart". Darin bitten wir Schriftsteller jeweils für eine Woche um einen kurzen Text, in dem sie kleine Formen erproben und mit den Möglichkeiten des Radios spielen. In dieser Woche begleitet uns SAID im Originalton – mit bislang unveröffentlichten Texten, die zusammen unter dem Titel "Das vibrierende Kind" eine Art poetischer Autobiografie ergeben.

Der Schriftsteller SAID wurde 1947 in Teheran geboren, mit 17 kam er in die Bundesrepublik und ist heute ein hochangesehener, vielfach preisgekrönter deutscher Dichter. Schon seine ersten Gedichte schrieb er auf deutsch, inzwischen sind zahlreiche Lyrik- und Essay-Bände erschienen, SAID war auch Präsident des Deutschen PEN und aktiv im Writers in Prison Committee.

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