Gayl Jones: "Corregidora"

Vererbte Traumata

Das Cover zeigt das Profil einer schwarzen Frau, die von diffusem Licht beleuchtet wird. Daneben Buchtitel und Autorinname.
© Kanon Verlag

Gayl Jones

Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Pieke Biermann

CorregidoraKanon, Berlin 2022

222 Seiten

23,00 Euro

Von Lara Sielmann · 19.09.2022
Das Leben von Blues-Sängerin Ursa ist geprägt von den Traumata ihrer Vorfahrinnen. Sie erlebten Sklaverei und Gewalt. Auch Ursa scheint ihrem Schicksal ausgeliefert. Gayl Jones schreibt ein bedrohliches Kammerspiel.
Die junge Ursa liegt Ende der 1940er-Jahre in einem Krankenhaus in Kentucky, USA. Als sie wieder zu sich kommt, erkennt sie eine Person, die an ihrem Bett steht. Nach einem Treppensturz musste ihr die Gebärmutter entfernt werden.
Ein Unfall war das eher nicht. Ihr Ehemann Mutt hat sie aller Wahrscheinlichkeit nach in einem Anfall von Eifersucht geschubst. Und er ist es auch, den sie im Krankenhausdelirium samt dem Personal wüst beschimpft: „Sie sagen, die Schwestern hatten Todesangst vor dir. So wie du sie verwünscht hast. Mit Wörtern, die hatten sie noch nie gehört.“
Die Person an ihrem Bett ist ihr Arbeitgeber Tadpole, in dessen Café „Happy“ sie als Bluessängerin arbeitet. So richtig glücklich ist dort allerdings niemand. Die meisten Gäste im „Happy“ sind (einsame) Trinker, und doch singt Ursa fast jeden Abend dort. Im Blues kann sie sich ausdrücken und sich ihre Geschichte, Gefühle und Traumata zu eigen machen.

Generationen erleben Gewalt

Die junge Sängerin heißt mit vollem Namen Ursa Corregidora, ihr Nachname (und Romantitel) stammt von einem brasilianischen Sklavenhalter ab, der ihr Urgroßvater sowie Großvater ist – denn „Corregidora“ hat sich zunächst an Ursas „Ur-Ooma“ vergangen, um mit der gemeinsamen Tochter, Ursas „Ooma“, ihre „Mamma“ zu zeugen, die er ebenfalls vergewaltigte.
Ursa wächst bei ihren Vorfahrinnen auf, die ihr einschärfen, dass sie „Generationen zu machen“ hat, sprich: Kinder auf die Welt bringen muss, um die Versklavung durch weiße Menschen zu bezeugen. Nach der offiziellen Abschaffung von Sklaverei wurde vielerorts versucht, Beweise der Verbrechen durch die Sklavenhalter zu vernichten.

Intimes Kammerspiel

Von all dem erzählt Gayl Jones, , die 1949 in Kentucky geboren wurde, in einer direkten, unsentimentalen Sprache. Dabei springt sie zwischen Dialogen, traumhaften Sequenzen und erzählerischen Passagen, die einen eigenen Rhythmus entwickeln. Die Zeit und Schrecken, wie die konkrete Gewalt und Hypersexualisierung, macht sie in „Corregidora“ unmittelbar erfahrbar.
Selten teilen sich mehr als zwei Figuren eine Szene, dadurch entsteht im Kleinen immer wieder etwas Kammerspielartiges, Intimes, Bedrohliches. Eine gebrochene Figur ist Ursa allerdings nicht, sie navigiert sich selbstverständlich durch diese Welt.

Kaum bekannte Autorin

Ihre literarische Verhandlung von Versklavung und schwarzen Lebensrealitäten machte Gayl Jones Mitte der 1970er-Jahre mit „Corregidora“ für Toni Morrison und James Baldwin zu einer der wichtigsten afroamerikanischen Autorin ihrer Zeit.
In Deutschland ist Gayl Jones nicht bekannt, kaum einer ihrer Romane wurde ins Deutsche übersetzt. Dabei lebt die Autorin nach wie vor (allerdings sehr zurückgezogen) in Amerika und veröffentlicht Bücher. Erst dieses Jahr war sie Finalistin des Pulitzerpreises für ihren letzten Roman „Palmares“.

Klingende Übersetzung

Es ist dem Kanon Verlag zu verdanken, dass es dieses wichtige Werk afroamerikanischer Literatur nun auch wieder auf Deutsch gibt und das in einer klingenden Übersetzung von Pieke Biermann, die es schafft, diesen einmaligen Sound von Gayl Jones ins Deutsche zu übertragen.
Es ist zu hoffen, dass mit dieser Neuauflage Gayl Jones auch im deutschsprachigen Raum ein größeres Publikum erreicht und sie auch hier die Anerkennung erhält, die ihr gebührt.
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