Garrard Conley: "Boy Erased"

Wenn die Identität ausradiert werden soll

Cover von "Boy Erased", der autobiografischen Erzählung von Garrard Conley.
Weil er homosexuell ist, wird Garrard Conley "Umerziehungsmaßnahmen" unterzogen. © Secession Verlag /dpa / Thomas Eisenhuth
Von Dirk Fuhrig · 23.04.2018
Er sollte "entschwult" werden: Garrard Conley beschreibt in seinem autobiografischen Buch "Boy Erased" einen Teil der US-amerikanischen Gesellschaft, in dem man Homosexuelle auch im Jahr 2018 noch umerziehen oder ausradieren will.
"Boy Erased" führt uns zu einem der groteskesten Phänomene, die ein radikal-(pseudo)-christliches Weltbild hervorbringt: die Umerziehung von Homosexuellen, die bis heute nicht nur in den USA praktiziert wird. "Love in Action" (LIA) steht im Mittelpunkt dieser autobiografischen Erzählung des in Arkansas geborenen Garrard Conley.
Die christlich-fundamentalistische Organisation LIA wurde 1973 genau in dem Moment gegründet, als der US-Verband der Psychiater Homosexualität von der Liste der geistigen Störungen strich - und ihr damit den Status einer Krankheit nahm.

Homosexualität gleich Sodomie und Alkoholismus

Conley nimmt seine Leser mit in ein Zentrum in Nashville, in dem er sich selbst als 19-Jähriger durch "Konversions-Therapie" von seiner Liebe zu Männern heilen lassen wollte. Homosexualität wurde in jenem Umerziehungscamp mit Sodomie, Alkoholismus oder Drogenkonsum gleichgesetzt; eine Vorstellung, über die liberale Gesellschaften heute schmunzeln.
Für fromme Baptisten-Eltern in Arkansas war das noch 2004, als Conleys Leidensgeschichte beginnt, eine Katastrophe. Bis heute werden, so listet es Conley auf seiner Website auf, jedes Jahr rund 20.000 amerikanische Jugendliche solchen Umerziehungsmaßnahmen unterzogen.

Programm hat keine dauerhaften Erfolge erzielt

Garrard Conley beschreibt in seiner autobiografischen Erzählung, wie er eine Art Probe-Entzug gemacht hat. Er schildert quälende Befragungen und strenge Verhaltensanweisungen - vor allem aber die Selbstmordgedanken, die ihn und seine Mit-"Delinquenten" quälen, weil ihnen eingeredet wird, sie seien "falsch". Erfreulicherweise hat das Programm dauerhaft kaum Erfolge erzielt - weder bei Conley noch bei anderen.
Junger Mann in der tiefen Provinz, umgeben von Vorurteil und Ressentiment – man denkt sofort an "Das Ende von Eddy" von Édouard Louis. Darin hatte der französische Autor eine vernichtende Anklage gegen seine Familie formuliert, aber auch gegen die soziale Ungerechtigkeit der französischen Gesellschaft. Conleys Buch lässt sich damit nicht vergleichen.

Die Persönlichkeit sollte ausgelöscht werden

Der Amerikaner schreibt eher tastend, mit zahlreichen Abschweifungen und Rückblenden, mit viel Verständnis für seine Eltern und sogar für die "Therapeuten" der Umerziehungsanstalt. Die Schilderung des Leidenswegs des jungen Mannes, dessen Persönlichkeit "erased", also ausgelöscht werden soll, liest sich sehr persönlich und ist ein Aufbegehren gegen Intoleranz in "bibeltreuen" religiösen Gemeinschaften, deren geschlossenes Weltbild keine Abweichung zulässt.
Man hat fast das Gefühl, Garrard Conley will im Nachhinein die Verletzungen, die ihm dieser Entschwulungs-Hokuspokus bereitet hat, als langfristig nicht so gravierend für sich selbst darstellen. "Boy Erased" taugt trotz des plakativen Titels nicht zum Aufschrei. Die Bedeutung des Buches liegt weniger in seinem literarischen Gewicht, als darin, dass es einen tiefen Einblick gibt in einen Teil der US-amerikanischen Gesellschaft, der sich seit Trumps Wahl womöglich bestätigt sieht. Ein Milieu, in dem man Homosexuelle auch im Jahr 2018 noch umerziehen oder "erasen" möchte.

Garrard Conley: Boy Erased. Autobiografische Erzählung
Aus dem Amerikanischen von André Hansen
Secession Verlag, Berlin/Zürich 2018
335 Seiten, 25 Euro

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