Ganz nah dran

100 Jahre nach der Erstveröffentlichung erscheint nun das Bändchen "Der Untergang der Titanic". Verfasst von vielen sammelt das Buch Zeugenaussagen von Überlebenden des Schiffunglücks. Leider wird es dadurch auch oft ein wenig unübersichtlich.
"Der Passagier Beasley von der 'Titanic' erzählt, er habe zur Zeit des Zusammenstoßes ein leichtes Erzittern des Schiffes wahrgenommen und sei darauf an Deck gegangen, wo er noch andere Passagiere fand, die indessen nicht beunruhigt waren."

Das Buch "Der Untergang der Titanic, Nach Berichten von geretteten Augenzeugen" erschien gleich im Jahr 1912 - da hatten sich die Überlebenden noch nicht von ihrem Schock erholt.

"In einem Rauchzimmer sah er Kartenspieler sitzen. Sie sahen dann einen großen Eisberg vorbei treiben und nahmen an, dass das Schiff diesen gestreift habe, ohne zu ahnen, dass der Eisberg den Schiffsboden durchschnitten habe. Das Kartenspiel wurde daher fortgesetzt."

Der zitierte Zeuge hatte nicht richtig beobachtet: Der Schiffsboden wurde nicht verletzt, nur die Steuerbordseite. Für das Buch, das mithilfe von Zeugenaussagen die Katastrophe des Ocean Liners beschreibt, ist nicht einmal ein Autor oder Herausgeber benannt. Es scheint, als hätten mehrere Verfasser gleichzeitig an diesem Werk gearbeitet, um es möglichst schnell auf den Markt zu bringen. Denn die Katastrophe war schon damals ein Medienereignis: Noch im Jahr des Untergangs der Titanic 1912 kamen drei Spielfilme heraus, die das Drama auf die Leinwand brachten.

"Plötzlich, ohne dass wir irgendetwas Besonderes gespürt hätten, steckte der Kapitän den Kopf in unseren Raum. 'Wir haben einen Zusammenstoß mit einem Eisberg gehabt', rief er, 'machen Sie sich bereit, Notsignale zu geben, aber warten Sie, bis ich es anordne.' Nach zehn Minuten kam er zurück. 'Rufen Sie um Hilfe', sagte der Kapitän. Wir sandten zunächst das Signal CQUD und machten noch Witze darüber. Der Kapitän kam zurück. 'Schicken Sie SOS', sagte er. Noch immer machten wir Witze."

Der Funker Harold Bride. Offenbar erschien die Vorstellung, dem größten und modernsten Schiff der damaligen Zeit könnte etwas Schreckliches passiert sein, als abwegig.

Die Momentaufnahme kurz nach der Katastrophe war ein verlegerischer Schnellschuss, man merkt es an der nicht durchgearbeiteten Gliederung - Themen, die man erledigt glaubt, tauchen unvermittelt noch einmal auf, dazwischen sind Textpassagen aus anderen Quellen, zumeist Zeitungen, eingebaut und die vielen Zeugenaussagen sind über den Text verstreut, leider nicht immer in der Abfolge der Ereignisse.

"Ich lief nach dem Platz, wo früher das Boot gestanden hatte. Die Männer versuchten vergeblich, es los zu bekommen. Ich glaube, es war nicht ein Seemann unter ihnen. Ich versuchte, ihnen zu helfen, als eine Riesenwelle das Verdeck spülte und das Boot überholte. Ich fand mich plötzlich mitten in dem Boot, das aber über mir lag. Ich hielt den Atem an und versuchte, mich freizumachen. Wie es gelang, weiß ich nicht, doch konnte ich wieder Atem schöpfen. Hunderte von Männern schwammen mit ihren Rettungsgürteln um mich herum."

Das Buch beginnt mit einer Beschreibung des zu diesem Zeitpunkt größten Schiffes der Welt, es schildert den Luxus und die Eleganz, in der die Passagiere der ersten Klasse reisten. Und es weist auf eine wichtige Neuerung hin:

"Das Schiff besaß auch einen der neuesten Fünf-Kilowatt-Marconi-Apparate."

Ein Funkgerät, das die Möglichkeit bot, Hilfe herbeizurufen, sollte dem als "nahezu unsinkbar" gelobten Schiff doch etwas zustoßen. Es wird sogar eingeflochten, dass es seit 1906 Bemühungen gab, den Funkverkehr zu internationalisieren, um die konkurrierenden Systeme Telefunken und Marconi zu vereinheitlichen, was zum Zeitpunkt des Unglücks aber noch nicht geschehen war. Und so nahm die Katastrophe ihren Lauf. Passagier Washington Doge erklärt:

"Einzelne Passagiere haben mit solcher Wut um den Zugang zu den Rettungsbooten gekämpft, dass sie von den Offizieren niedergeschossen wurden und ihre Körper sofort in die See fielen."

Der oder die Herausgeber versuchen auch, die Schuldfrage zu klären. Britische Zeitungen werden zitiert, die sich darüber empörten, dass die Titanic völlig im Einklang mit den Gesetzen viel zu wenige Rettungsboote mitführte. Dabei weisen die Leipziger Autoren gleich darauf hin, dass das Deutsche Reich wesentlich modernere Gesetze hatte.

Das schmale Bändchen hat seine sachlichen Mängel, weil bei seinem Erscheinen viele Details noch nicht geklärt waren. Aber heute, hundert Jahre nach der Katastrophe, ist es immer noch interessant als historisches Dokument, in dem die Nähe zum Geschehen noch spürbar ist und in dem die unmittelbaren Reaktionen auf das Drama nachlesbar sind: eine aufschlussreiche Quellenlektüre.

Besprochen von Paul Stänner

Der Untergang der Titanic. Nach Berichten von geretteten Augenzeugen
Reprint Verlag Leipzig
Neuausgabe des Originalwerks Leipzig 1912
90 Seiten, 12,90 Euro
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