Wie die Bordkapelle auf der Titanic

02.03.2009
Die große Zeit der Theaterkritik in Deutschland ist längst vorbei. Nur noch wenige Zeitungen leisten sich Redakteure, die sich ausschließlich um das Geschehen auf den Bühnen kümmern. Vasco Boenisch hat in einer Studie "Krise der Kritik?" die Zunft der Theaterkritiker und die Erwartungen der Leser genauer unter die Lupe genommen.
Dies ist eine wissenschaftliche Arbeit – und trotzdem ist sie gut und mit Gewinn lesbar. Vor allem, weil Vasco Boenisch zunächst das historische und soziale Panorama eines durchaus zweifelhaften (und an sich selbst oft zweifelnden) Berufsstandes auffächert – wann und womit "Theaterkritik" in Deutschland beginnt (mit Lessings "Hamburgischer Dramaturgie", die mitten in der Aufklärung eine Art Handbuch für die Nutzung der Theaterkünste wird), wann sie ihre bedeutendsten Blüten erfährt (seit Theodor Fontane zum Ende des 19. und dann in den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts, mit den großen Berliner Antipoden Alfred Kerr, Siegfried Jacobsohn und Herbert Ihering), und wie weit sie sich davon bis heute wieder entfernt hat.

Womit schon der Übergang ins Soziale markiert ist – akkurat fünf Tageszeitungsjournalisten in Deutschland leben ausschließlich von ihrer Theater-Kompetenz (die "Süddeutsche Zeitung" leistet sich zwei Redaktionsstellen für kontinuierliche Theater-Beobachtung, "Frankfurter Allgemeine", "Frankfurter Rundschau" und "Die Welt" finanzieren je eine Kraft); alle anderen Festangestellten kümmern sich außer um Theater auch noch um viele andere Dinge in ihren Redaktionen. Der Rest arbeitet "frei", und dieses "frei" bedeutet: abhängig zu sein von den Aufträgen Festangestellter, falls es nicht eine wie auch immer geartete Korrespondenten-Pauschale gibt.

Dann kommen die Theaterkritikerinnen und Theaterkritiker zu Wort: 14, die für überregionale Tageszeitungen schreiben (darunter drei der fünf Festangestellten), und 13, die sich für regionale und lokale Blätter überwiegend in Redakteursfunktion auch mit dem Theater beschäftigen. Diese Unterscheidung ist übrigens nur für die Kritiker selber wichtig: hier überregional, dort lokal und regional; in den Ansprüchen der Kundschaft existiert diese Differenz nicht!

Die Kolleginnen und Kollegen beschreiben nun in Gesprächen mit Boenisch (und mit immer noch erstaunlich ungebrochenem Selbstwertgefühl, obwohl doch die Bedeutung der Theaterkritik faktisch stetig schrumpft!) den eigenen Job: Wie sie ihn ausüben, mit welchen Voraussetzungen und welchen Bedingungen in den jeweiligen Arbeitszusammenhängen, mit welcher "Aufgabe" und vor allem: mit welchem "eigenen Profil". Später, anhand der per Fragebogen ermittelten Haltungen und Wünsche der statistisch ermittelten Leserschaft, wird sich dann übrigens herausstellen, dass und inwiefern die Schreibenden irren mit dem, was sie selbst für den Leserwillen halten. Der nämlich (ermittelt natürlich nur bei denen, die Kritiken auch tatsächlich lesen!) hält gar nicht so viel von der immer wieder und von fast allen "überregionalen" Autoren beschworenen "Originalität" oder gar "Witzigkeit" (was für ein vollkommen idiotisches, weil nun wirklich ausschließlich privatistisches Kriterium!), der statistische Leserwille sehnt sich nach mehr Information und erkennbarer, nachvollziehbarer Urteilskraft der Kritik, nach mehr Würdigung der Schauspieler und weniger offen durchscheinender Kulturpolitik. Da erscheint es nachgerade grotesk, wie sehr einige hochprofessionelle Kritiker immer noch am Ideal der Alfred-Kerr-Zeit hängen – in der der Theaterkritiker eine Art Dichter für Zeitungsspalten war, und sein wollte.

Und die "Regionalen" sind, wie es scheint, viel näher dran an dem, was die Kundschaft wollen könnte – umso absurder muss es dann scheinen, dass gerade die regionalen Blätter das Angebot an bewertender, einordnender Kultur-Berichterstattung (neben all den eher nebensächlichen Vorberichten, Reportagen und Porträts) mehr und mehr beschränken. Eigentlich sollte diese Studie darum Pflichtlektüre für Verleger und Chefredakteure sein.

Das ist die zentrale Erkenntnis in Boenischs Studie – wie groß die seit Jahren wachsenden und gegenwärtig mehr denn je aktuelle Gefahr ist, dass (teils fahrlässig, teils mit voller Absicht) nicht nur die "Königsdisziplin" des Feuilletons, also die Kritik, sondern die Kultur gleich ganz verabschiedet wird von der "vierten Gewalt" im Staat. Boenisch übrigens hat unter anderem bei "Bild" in München gelernt, also unter Bedingungen der Abwesenheit von Kultur und Kritik. Andere Ressorts bei anderen Blättern heißen jetzt schon "Kultur und Medien", und Letztere stehen natürlich im Zentrum. Aber dafür, dass sie auf der "Titanic" die Bordkapelle sind und die Musik spielen für den eigenen Untergang, gibt’s unter allzu vielen Kolleginnen und Kollegen der Theaterkritik noch immer allzu wenig Bewusstsein.

Rezensiert von Michael Laages

Vasco Boenisch: Krise der Kritik? Was Theaterkritiker denken - und ihre Leser erwarten
Erschienen als Nummer 63 in der Reihe "Recherche" im Verlag Theater der Zeit
255 Seiten, 14 Euro