Gaël Faye: "Kleines Land"

Burundi, ein verlorenes Paradies

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Gaël Fayes Roman "Kleines Land" erhielt in Frankreich den Prix Goncourt des Lycéens. © Foto: dpa, Coverabbildung: Piper-Verlag
Gaël Faye im Gespräch mit Frank Meyer · 16.10.2017
Der Bürgerkrieg in Burundi zerstörte das Paradies der Kindheit von Gabriel und er floh nach Frankreich. Gabriel ist der Protagonist in Gaël Fayes Roman - und auch sein Schöpfer Faye musste sein Heimatland verlassen. Er sagt: "Ich habe Burundi mit 13 Jahren verlassen, und was mir blieb, waren die letzten Bilder des Krieges."
Frank Meyer: Junge Leser haben diesen Roman in Frankreich ausgezeichnet, den Roman "Kleines Land" von Gaël Faye. Das Buch hat den Prix Goncourt des Lycéens bekommen, eine Jury aus Gymnasialschülern entscheidet über diesen Preis. Gaël Faye wurde 1982 in dem ostafrikanischen Land Burundi geboren, seine Mutter kommt aus Ruanda, sein Vater aus Frankreich. Mit 13 musste er vor dem Bürgerkrieg in Burundi fliehen, heute lebt er als Musiker und Autor in Frankreich. "Kleines Land" ist sein erster Roman, und er war vor der Sendung hier bei uns zu Gast. Ich habe Gaël Faye zuerst gefragt: Haben Sie denn erfahren, was die Schüler so bewegt, so begeistert hat an Ihrem Buch, dass sie Ihnen diesen Preis zuerkannt haben?
Gaël Faye: Ja, das ist eine interessante Frage. Die Gymnasiasten haben mir erzählt, dass sie ein Land entdeckt haben, das sie bisher nicht kannten oder kaum kannten, genauso wie den Genozid, und dass ihnen aber gleichzeitig dieses Land überhaupt nicht exotisch vorkam, weil meine Erzählperspektive aus der Sicht des Jungen Gabriel… weil sie daran sehr stark anknüpfen konnten. Und das war ihnen deswegen sehr, sehr vertraut und sehr nah.

Auf der Suche nach dem Vorkriegs-Burundi

Meyer: Es geht in dem Roman um den Völkermord in Ruanda unter anderem, aber Sie haben auch gesagt über dieses Buch, der Roman sei eine Suche nach einem verlorenen Paradies. Was meinen Sie damit, mit diesem verlorenen Paradies?
Faye: Ich habe diesen Roman geschrieben aus einem sehr persönlichen Gefühl heraus. Ich selbst habe Burundi mit 13 Jahren verlassen, und was mir blieb, waren die letzten Bilder des Krieges, das ist das, was in meiner Erinnerung geblieben ist – die Angst, die Gewalt. Ich wurde Musiker, und dann wollte ich wiederfinden, was vor dem Krieg in meinem Land gewesen ist, in diesem wunderschönen Land, sowohl was die Natur betrifft als auch die Bevölkerung, genau das wollte ich durch diesen Roman wiederfinden.
Meyer: Sie erzählen, wie diese Kindheit endet, wie dieses Paradies verschwindet durch den Bürgerkrieg in Burundi, durch den Völkermord in Ruanda, der sich stark auf das Nachbarland Burundi auswirkt, und bei diesem Völkermord, das wissen wir alle, haben die Spannungen zwischen Hutu und Tutsi eine ganz große Rolle gespielt. Wann haben Sie denn zum ersten Mal erlebt als Kind in Burundi, dass es diese Spannungen gibt?
Faye: Ich kann nicht ganz genau sagen, wie alt ich war oder an welchem Zeitpunkt das war, dass ich diese Konflikte entdeckte. Ich dachte immer, ja, es gibt so regionale Konflikte, regionale Unterschiede, so wie in Frankreich zwischen Bretonen und den Leuten aus der Auvergne zum Beispiel. Als der Krieg kam, war das natürlich sehr deutlich, diese Rivalität, dieser Antagonismus zwischen den beiden Volksgruppen, aber eigentlich habe ich erst später in Frankreich mich intensiver damit befasst. Als ich etwa fünf Jahre in Frankreich war, habe ich in Lille ein Theaterstück gesehen, das hieß "Ruanda 1994", und in diesem Theaterstück, das eine belgische Gruppe aufgeführt hat, darin habe ich diese ganzen Konflikte erst kennengelernt.

Die Völkermorde in Ruanda wurzeln in der Kolonisierung

Ich muss dazusagen, dass die Konflikte in meinem Land erst durch die koloniale Besetzung richtig zum Ausbruch gekommen sind, denn es gab vorher zwar einen Unterschied zwischen den beiden Volksgruppen, zwischen Hutu und Tutsi, aber die waren mehr sozialer Natur. Wohingegen während des Kolonialismus erst durch die Deutschen, dann durch die Belgier wurde diese Rassenfrage so wichtig, also auch die physischen Unterschiede zwischen den beiden Volksgruppen wurden so stark betont, und das hat dann zu diesen Konflikten geführt. Also man kann sagen, früher gab es auch Konflikte, aber die waren nicht aufgrund des unterschiedlichen Aussehens oder der unterschiedlichen Volkszugehörigkeit, sondern es waren Konflikte zwischen verschiedenen Clans. Da gab es die Hutu, da gab es die Tutsi und noch einen dritten Clan, das waren die Twa. Das ist ein Clan oder eine Volksgruppe, von der man sehr selten spricht.
Meyer: Ich würde auch gern noch zurückkommen auf das, was Sie sagen über die Rolle des Kolonialismus in Burundi und Ruanda, aber ich würde gern noch den Weg zu Ihrem Roman verstehen und deshalb gerne wissen: Als Sie dann nach Frankreich kamen, 1995, nach dem Völkermord in Ruanda und den vielen Morden auch in Burundi, wurde in Ihrer Familie eigentlich darüber gesprochen, was da passiert war, was Sie überlebt haben, wovor Sie eben auch geflohen sind?
Faye: Nein, überhaupt nicht wurde darüber gesprochen, und deshalb fing ich auch an zu schreiben. Meine Eltern, die empfanden eine Scham, über diese ganze Zeit zu sprechen, sie wollten eine neue Seite aufschlagen. Sie haben nicht über den Genozid und die anderen Tabus reden wollen, das wollten sie abschließen. Ich hab als Kind sehr viele Fragen gestellt, aber nie eine Antwort bekommen, und das ist genau der Grund, warum ich angefangen habe, mich darüber zu informieren, und auch warum ich angefangen habe zu schreiben.

Die Erfahrung der Entwurzelung im Exil

Meyer: Und wenn ich es richtig verstanden habe, haben Sie sich zuerst in Ihrer Musik beschäftigt mit Ihren Erinnerungen an Ihre Vergangenheit, auch an das Leid in Burundi. Eins Ihrer Lieder heißt genauso wie der Roman, "Kleines Land". Können Sie uns vielleicht kurz skizzieren – wir wollen das Lied gleich hören –, worum es geht in dem Lied?
Faye: Ja, dieses Lied spricht von den Erfahrungen der Entwurzelung und des Exils und davon, dass ich schlaflose Nächte hatte, seitdem ich dieses kleine Land, mein Land verlassen habe. Ich will schlafen können endlich einmal, und im Refrain dieses Liedes heißt es dann: "Kleines Land – Petit Pays –, kleines Land, man hat dich zerstört, aber du bist immer noch da."
Meyer: "Petit Pays – Kleines Land", ein Lied von Gaël Faye. Das heißt genauso wie sein Roman, "Kleines Land", der bei uns jetzt im Piper-Verlag erschienen ist. Wir haben vorhin kurz darüber gesprochen, dass Sie in diesem Lied, in Ihrer Musik überhaupt über Ihre Erfahrungen in Burundi, über Ihr Leben gesungen haben. Warum haben Sie sich dann entschieden, auch einen Roman zu schreiben darüber hinaus, über Ihre Musik hinaus, über das, was Sie erlebt haben?
Faye: Na ja, Lieder sind eben sehr kurz. Das ist ein kleines Format, da kann man jetzt nicht seine Gefühle so ausführlich ausbreiten, wie man es in einem Roman kann. Dort kann man die Psychologie, die Gefühle, die Seele wesentlich ausführlicher schildern, und man kann den Leser wirklich in ein ganzes Universum führen, was man in einem Lied meistens nicht kann.

Die grausamen Details würden Leser abschrecken

Meyer: Sie haben gesagt über den Roman, ich habe das Buch nicht geschrieben, um mir eine Bürde von der Seele zu schreiben, das habe ich vorher schon mit meiner Musik getan, das Buch habe ich eher lachend als weinend geschrieben. Und ich muss sagen, dass ich das eigentlich kaum glauben kann, weil das Buch – also dieses eher lachend als weinend –, weil das Buch auch entsetzlich traurig ist, muss ich sagen, wenn zum Beispiel die Mutter des Erzählers berichtet, wie sie die Leichen ihrer toten Nichten und Neffen in Ruanda findet. Also in dem Buch steckt schon auch Ihre Trauer über das, was dort passiert ist, oder?
Faye: Diese Szene, die Sie beschreiben, ich habe das eigentlich beim Schreiben selbst gar nicht so empfunden. Wenn die Mutter ihren Kindern erzählt, was sie erlebt hat in Ruanda, diese Grausamkeiten, dann, muss ich Ihnen sagen, habe ich tatsächlich das alles etwas abgemildert, denn wenn ich die Realität, wie sie stattgefunden hat, tatsächlich in allen ihren grausamen Details so beschrieben hätte, dann wären die Leser mit Sicherheit abgeschreckt gewesen. Das hätte man überhaupt nicht verkraften können, das hätte man nicht schreiben können und auch nicht lesen können.
Ich wollte eine Geschichte schreiben in diesem Buch, die gleichzeitig eben nicht nur abschreckt, sondern die auch in gewisser Weise zärtlich ist. Ich wollte zeigen, dass nicht alles verloren ist in so einem Land, und wenn man sich heute das Land anschaut, sieht man, es ist tatsächlich möglich, aus der Asche wieder aufzusteigen, also aus dieser Grausamkeit, aus diesem Krieg, aus dieser Zerstörung wieder ein neues Leben zu beginnen.

Offziell gibt es in Ruanda jetzt keine Ethnien mehr

Meyer: Empfinden Sie das auch so, wenn Sie nach Burundi zurückkehren, dass dort der Hass – verschwunden ist er sicherlich nicht, aber weniger geworden ist, der Hass zwischen Hutu und Tutsi?
Faye: Man muss da sehr unterscheiden. Ich lebe seit zwei Jahren wieder in Ruanda, und dort ist es so, es gibt offiziell keine verschiedenen Ethnien mehr, man darf sich nicht als Hutu oder Tutsi selbst definieren. Und es gibt dort auch eine neue Generation, ich würde sagen, das ist eine postethnische Generation, die versucht, über diesen Konflikt hinwegzukommen, wobei man sagen muss, das Ganze ist vor 24 Jahren passiert, also es ist eigentlich noch sehr, sehr nah.
In Burundi ist das ganz anders, denn dort ist die politische Situation sehr instabil. Es gibt eine politische Klasse, die sich die ethnischen Differenzen vornimmt, um damit soziale und wirtschaftliche Fragen zuzudecken – das ist eine desolate Situation. Die Leute dort hassen sich eigentlich nicht, aber es sind immer die Politiker und die Medien, die dauernd immer neu diesen Hass schüren. Die Hutu und die Tutsi, das sind eigentlich keine unterschiedlichen Völker, das möchte ich noch mal betonen. Sie leben oft zusammen, sind Freunde, es gibt gemischte Ehen, es ist eigentlich ganz normal, aber es wird immer wieder dann darauf hingewiesen von den Politikern. Sie sprechen auch dieselbe Sprache und haben die gleiche Religion, also sie unterscheiden sich eigentlich gar nicht so sehr, dass man sich hassen müsste.

Keine Verantwortung Deutschlands

Meyer: Sie haben ja vorhin schon darüber gesprochen, wie die Kolonialherren in Burundi und Ruanda sich diese Aufteilung eigentlich erst geschaffen haben, so wie wir sie dann jetzt so schrecklich kennengelernt haben in den letzten Jahrzehnten, zwischen Hutu und Tutsi. Jetzt stellen Sie das Buch in Deutschland vor – Deutschland war eben die erste Kolonialmacht in Burundi bis zum Ersten Weltkrieg. Wie sehen Sie das, hat aus Ihren Augen Deutschland da auch eine Verantwortung auch für die heutige Situation in Burundi?
Faye: Nein, ich sehe da heute überhaupt keine Verantwortung Deutschlands. Der Genozid war 1994, und die ersten Kolonisatoren, die sind ja mehr als hundert Jahre vorher schon nach Afrika gekommen. Wenn Sie sich erinnern an die Konferenz von Berlin Ende des 19. Jahrhunderts in den 1880er-Jahren, damals wurde Afrika wie eine Torte aufgeteilt zwischen den verschiedenen europäischen Kolonialmächten, und ich habe in meinem Buch auch eine Persönlichkeit, die von Gotzens, eingeführt. Das sind ehemalige deutsche Kolonisatoren gewesen, das ist eine kleine Referenz an diese Zeit.
Aber wie gesagt, das liegt alles sehr, sehr lange zurück, und als die Europäer kamen, haben sie nach Afrika einfach diese rassistischen Stereotypen aus Europa nach Afrika mitgebracht, das stimmt schon, aber heute, mehr als hundert Jahre danach, sind alleine die [...] Extremisten für diese Situation verantwortlich, das kann man nicht auf andere abschieben. Natürlich sind Frankreich und andere Mächte als Geldgeber der ein oder anderen Seite mit daran beteiligt, aber es sind in der Tat die Leute dort vor Ort, die Extremisten in Ruanda, die für diese Situation alleine verantwortlich sind.

In Ruanda und Burundi wird "sehr wenig" gelesen

Meyer: Wird Ihr Buch denn auch in Ruanda und Burundi gelesen, gibt es dort auch Ausgaben, die dort unterwegs sind?
Faye: In Ruanda und Burundi wird insgesamt sehr wenig gelesen. Es gibt eine starke orale Tradition, aber es gibt einfach nicht viele Leute, die lesen. Trotzdem wird gerade in Ruanda das Buch sehr stark wahrgenommen, besonders in Schulen wird es gelesen, und ich treffe auch viele Schülerinnen und Schüler dort und diskutiere mit ihnen. Es wird sogar in die Landessprachen dort übersetzt gerade.
Es ist interessant, wenn man sich fragt, warum mein Buch jetzt vielleicht besser funktioniert oder besser angenommen wird als andere Bücher über dieses Thema. Ich glaube, es geht darum, dass ich eben nicht nur diese historische Seite beschreibe, nicht nur von dem Massaker und vom Genozid spreche, sondern dass ich auch den Alltag beschreibe. 80 Prozent meines Buches gehen darum, wie eine Gruppe von Jugendlichen – eine kleine Jugendbande kann man sagen –, wie die irgendwo beim Nachbarn Mangos klauen oder Musik hören. Das ist der Alltag, den ich da beschreibe, und die Leute dort sind eben nicht gewöhnt, dass man sich um ihren Alltag kümmert, dass man das zum Thema eines Romans macht. Und deswegen, glaube ich, ist mein Buch dort auch ganz erfolgreich.

Die Ruhe und Langsamkeit des Alltags

Ich habe den Eindruck, dass Leser hier in Europa, vor allem in Frankreich, wenn sie das Buch lesen, sie warten die ganze Zeit darauf, wann passiert endlich was, wann kommt es denn zu dieser Gewalt, zu dem Genozid. Und wenn sie das Buch gelesen haben, merken sie, das dauert ja sehr, sehr lange. Ich lasse mir Zeit, und mir geht es eigentlich auch nicht darum, jetzt diese Gewalt zu beschreiben wie so in einem Actionfilm, wann kommt endlich der Höhepunkt, sondern mir geht es eben genau um das, dass ich diesen Alltag beschreibe, diese Ruhe, vielleicht auch diese Langsamkeit, die Menschen dadurch auch plastisch werden lasse, die in dem Buch vorkommen, die dort leben. Das ist das, was mir wichtig ist.
Meyer: "Kleines Land" heißt dieser sehr beeindruckende Roman, was den Alltag angeht und was den Ausbruch der Gewalt angeht, das Buch von Gaël Faye, aus dem Französischen übersetzt von Brigitte Große und Andrea Alvermann. Im Piper-Verlag ist das Buch erschienen mit 220 Seiten, 20 Euro ist der Preis. Merci beaucoup pour votre visite!
Faye: Danke schön!
Meyer: Und vielen Dank an Dirk Fuhrig für die Übersetzung dieses Gesprächs!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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