Gabor Steingart zu Frankfurt

"Mordfall ist über die Einzeltat hinaus politisiert worden"

06:26 Minuten
Am Gleis 7 des Hauptbahnhofs liegt eine Rose auf den Schienen an jener Stelle, an der ein achtjähriger Junge am 29. Juli von einem Mann vor einen einfahrenden ICE gestoßen und getötet worden war.
Eine Rose auf den Gleisen erinnert an das schreckliche Geschehen am Frankfurter Hauptbahnhof. © Arne Dedert/dpa/picture alliance
Gabor Steingart im Gespräch mit Anke Schaefer  · 31.07.2019
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Ein Teil des rechten Spektrums warte regelrecht auf solche Anlässe, wie die Frankfurter Tat, sagt der Journalist Gabor Steingart. Sie benutzten die sozialen Medien für ihre Kampagnen, wie auf Knopfdruck. Aber auch Linke trügen zur Polarisierung bei.
Nachdem ein Junge am Frankfurter Hauptbahnhof vor einen Zug gestoßen wurde, ist ein Haftbefehl ergangen. Der Beschuldigte ist ein Mann, der seit Jahren in der Schweiz lebt und aus Eritrea stammt. Er soll sich in psychiatrischer Behandlung befunden haben.

Lob für Seehofers Auftritt

"Dieser Mordfall ist über die Einzeltat hinaus politisiert worden", sagte unser Studiogast, der Berliner Journalist Gabor Steingart, im Deutschlandfunk Kultur. "Wir erleben immer noch die Politisierung, also die Vergrößerung und auch Vergröberung." Da müsse ein regierender Innenminister Flagge zeigen.
Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) hatte wegen des Vorfalls seinen Sommerurlaub abgebrochen und am Dienstag eine Pressekonferenz gegeben. "Es war klug, empathisch und natürlich steckt dahinter, wenn ein Minister seinen Urlaub unterbricht, auch eine Strategie", urteilte Steingart über den Seehofer-Auftritt. "Kommunikativ war es richtig." Es habe sich in der Bevölkerung einiges aufgestaut.
Der Journalist Gabor Steingart
Der Journalist Gabor Steingart © Sven Simon/dpa/picture alliance

Verhärtete Fronten

"Die Fronten sind verhärtet, man hört sich nicht mehr zu", sagte Steingart über das gesellschaftliche Klima. Ein Teil des rechten Spektrums warte regelrecht auf solche Anlässe wie die Frankfurter Tat. Sie benutzten die sozialen Medien wie auf Knopfdruck. Ihre Kampagne laufe schon, bevor die Informationen der Polizei vorlägen.
"Das ist die Munition aus den Waffenfabriken der AfD – eindeutig, geliefert von der Wirklichkeit."
Dabei kämen Abstufungen und Grautöne zu kurz. Indes klebten die Regierungsparteien CDU und SPD nur "brav Plakate" in Sachsen und anderswo, sagte der Journalist. In drei Bundesländern, in Sachsen, Thüringen und Brandenburg liefen derzeit entscheidende Wahlkämpfe.

Sorge vor einem Bürgerkrieg

Nicht nur die Rechte, sondern auch die Linke trage zur Polarisierung bei: "Insofern haben wir eine Debatte mit feuchter Aussprache, wo wir viele Redner und wenig Zuhörer haben", sagte Steingart.
Der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger habe schon früher auf die Gefahr einer Polarisierung als Vorgeschmack auf einen kommenden Bürgerkrieg hingewiesen. Damals sei es noch um die Krawalle der autonomen Szene rund um den 1. Mai in Berlin-Kreuzberg und die Ausschreitungen in Hoyerswerda gegangen. 1993 erschien von Enzensberger der vieldiskutierte Essay: "Aussichten auf den Bürgerkrieg".
Auch in den USA bedeute "Bürgerkrieg" nicht, dass hinter jeder Straßenecke dann ein Freischärler kämpfe, sagte Steingart. "Das zeigt sich nur sehr situativ, in Biotopen von Gewalt." Er beobachte bei der AfD einen Trend zur Selbstradikalisierung.
Gleichzeitig zeigten Umfragen, dass sie in Ostdeutschland bei den Landtagswahlen stärkste Kraft werden könne. "Wer das vor zehn Jahren geglaubt hätte, dass irgendeine kleine Partei doppelt so stark ist wie die FDP und von rechts kommt, den möchte ich gerne kennenlernen", so der Journalist.

Vergleich mit Weimarer Republik

"Der Bürgerkrieg beginnt immer geistig, der beginnt nicht am Anfang mit Toten", sagte Steingart. 2018 habe es bereits 1200 Angriffe auf Amts- und Mandatsträger gegeben.
"Das ist nicht die Bundeskanzlerin, nicht der Innenmister, sondern wirklich die Ebene drunter: Bürgermeister, Beigeordnete, kommunale Würdenträger aller Art."
Das seien alles Menschen, die keine Leibwächter hätten. "Da sind wir nicht weit entfernt von den Beginnen von Weimar."
In der Weimarer Republik sei es einmal genauso losgegangen: "Polarisierung, Sprachunfähigkeit, die Fäuste haben gesprochen, Saalschlachten und politische Morde."
(gem)

Der Hauptstadtkorrespondent Gabor Steingart betreibt in Berlin ein eigenes Online-Angebot, mit dem er jeden Morgen über das Weltgeschehen informiert, einen eigenen Newsletter sowie einen Podcast anbietet. Er war zuvor Herausgeber und Chefredakteur der Wirtschaftszeitung "Handelsblatt", Washington-Korrespondent des Nachrichtenmagazins "Der Spiegel" und leitete mehrere Jahre dessen Berliner Hauptstadtbüro.

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