Fußball-WM in Katar

Moralische Verrenkungen an der Seitenlinie

04:52 Minuten
Das Lufthansa-Flugzeug der deutschen Fussball-Nationalmannschaft auf dem Rollfeld am Flughafen Frankfurt. Die Mannschaft steht auf der Zugansgtreppe des Flugzeugs.
Haltung zeigen fürs Pressefoto: die deutsche Mannschaft vor ihrem Abflug mit der "Diversity Wins"-Lufthansa-Maschine nach Katar. © picture alliance / GES / Helge Prang
Ein Kommentar von Arnd Pollmann · 20.11.2022
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Zum Anpfiff der Fußball-WM flammt die Moraldebatte auf: Die einen verurteilen diejenigen, die trotz aller Kritik an Katar einschalten. Die anderen erklären, dass Boykott überhaupt nicht nötig sei. Ein Spielfeld für Opportunismus, meint Arnd Pollmann.
Manchmal bleibt die Moral buchstäblich auf der Strecke: Vor wenigen Tagen flog die deutsche Fußball-Nationalmannschaft zur Herren-WM in Richtung Katar. Die Lufthansa hatte einen ihrer Flieger hübsch bunt mit Menschen aus aller Welt bemalt und mit dem Slogan versehen: „Diversity wins“.
Die Bilder gingen um die Welt, der Airbus aber kam nur bis Oman. Von dort ging es aus Gründen der „Nachhaltigkeit“, wie der DFB betonte, mit einem eher schmucklosen Regionalflieger weiter nach Katar. Die Message schien deutlich, aber die Botschaft kam wortwörtlich nicht an.

Wenn der Wind sich dreht

Ex-Nationaltorhüter Toni Schumacher hat einmal gesagt: „Doppelmoral im Fußball? Natürlich gibt es die! Doppelt hält immer besser.“ Man trifft auf solche Bigotterie meist in Momenten moralischer Verunsicherung, wenn Menschen spüren, dass sie anderen besser rasch und öffentlichkeitswirksam die richtigen Signale senden sollten.
Gestern noch vehement den Corona-Lockdown verteidigt, prangert man heute die einstigen Kita-Schließungen an. Eben noch Power-User:in auf Twitter, versichert man sich unmittelbar nach der Machtübernahme durch Elon Musk, dass die Plattform ja schon immer das Allerletzte gewesen sei. Journalist:innen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks kritisieren ihre eigenen Anstalten, von denen sie bisher gut gelebt haben, weil doch inzwischen niemand mehr übersehen kann, dass „die Kacke am Dampfen ist“, wie jüngst Jan Böhmermann reichlich scheinheilig schimpfte.
Porträt von Arnd Pollmann
Moralisch opportun verhält sich, wer sich einflussreichen Gruppen anbiedert, anstatt den eigenen Wertmaßstäben zu folgen, argumentiert Arnd Pollmann.© privat
Man nennt dieses Verhalten „opportunistisch“. Das Wort kommt aus dem Lateinischen und ist der Seemannsprache entlehnt. Es enthält den „portus“, den schützenden Hafen, und meint den Wind, der günstig und bequem dorthin geleitet. Opportunist:innen hängen ihr sogenanntes Fähnchen stets in diesen günstigen Wind, um auf der sicheren Seite zu sein.
Das Gegenteil wäre eine „integre“ Person, die einen eigenen Kompass, feste Werte und damit Charakter besitzt. Eine integre Person ist unbestechlich, sie „steht“ zu dem, was sie tut und sagt. Und sie tut und sagt, was sie meint. Da ist kein doppelter Boden!

Von Katar zur "Katarsis"

Während integre Menschen darauf aus sind, nach ihren eigenen Wertmaßstäben zu leben, geht es opportunistischen Wendehälsen darum, dass andere glauben sollen, sie lebten nach den ihren. Die neuere Kommunikationstheorie benutzt das Schlagwort „Virtue Signaling“. Man ist bloß zum Schein heilig. Doch warum verhalten sich manche Menschen so?
Verhaltensbiologie und Soziologie sind sich da weitgehend einig: Man versichert sich wechselseitig der Zugehörigkeit zur „richtigen Gruppe“, einer Gruppe, die zugleich schützt und Status verspricht. Demnach dient ein ethisch pfauenhaftes Gebaren vor allem dem eigenen Reputationsmanagement.

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Doch eine tiefenpsychologische Diagnose hätte weiter zu bohren: Das Virtue Signaling ist immer auch ein symbolisches Reinigungsritual. Es dient dazu, den eigenen Schmutz unter den Teppich zu kehren, ja, dem Verdruss über die eigene Rückgratlosigkeit ein Ventil zu bieten.
Der Sinn dieser simulierten "Katarsis" besteht also darin, auch in Zeiten verwirrender Inkonsequenz noch in den Spiegel schauen zu können: Ich gucke die WM zwar, aber wenn ich anderen erzähle, dass man sie unbedingt boykottieren muss, dann sehe ich mir fast selbst dabei zu, wie ich Katar heldenhaft die Stirn biete.

Ehrliche Haut

Es gibt eine alte Redewendung, die aus einer Zeit stammt, als der Fußball noch aus Leder war und die Ledergerber noch am Fluss ihr Handwerk verrichteten. Wenn sie nicht aufpassten, riss das Wasser den Gegenstand ihrer Arbeit mit. Seither spricht man davon, dass einem „die Felle davon schwimmen“.
Und das lederne Fell, das einem in Momenten moralischer Inkonsequenz wegzuschwimmen droht, das ist nichts anderes als die eigene „ehrliche Haut“.

Arnd Pollmann schreibt Bücher über Integrität und Unmoral, Menschenrechte und Menschenwürde. Er ist Professor für Ethik und Sozialphilosophie an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin und Mitherausgeber der Zeitschrift für Menschenrechte.

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