Fußball

Vom Proletensport zur globalen Unterhaltung

Paul Breitner und Franz Beckenbauer bei der WM 1972
Paul Breitner und Franz Beckenbauer bei der WM 1974 © dpa / picture alliance / Sanden
Von Thomas Jaedicke · 12.06.2014
Innovatives Angriffsspiel, spektakuläre Sponsorenverträge: Bei der WM 1974 in Deutschland schlug die Geburtsstunde des modernen Fußballs, schreibt Kay Schiller in diesem unterhaltsamen Buch.
1974 waren die Haare lang, die Koteletten breit und die Ansichten locker; zumindest bei den Jüngeren. Dass bei der ersten Weltmeisterschaft in Deutschland, die Kay Schiller als Geburtsstunde des modernen Fußballs sieht, trotzdem kaum Stimmung aufkam, führt der Historiker in erster Linie auf psychologische Effekte deutscher Nachkriegsgeschichte, die jede Form exzessiver nationaler Begeisterung verdächtig machte, und auf das schlechte Wetter zurück.
Auf dem Spielfeld sorgten dagegen kreative Individualisten wie Johann Cruyff, Kazimierz Deyna oder Franz Beckenbauer, die ersten Popstars des Fußballs, für einen mitreißenden "Thrill" (Karl Heinz Bohrer). Sie verkörperten den neuen Zeitgeist und machten den gesellschaftlichen Wandel sichtbar. Dieser lässigen, spielerischen Freiheit standen aber auf Funktionärsebene noch Spaßbremsen wie der knochentrockene Pragmatiker Hermann Neuberger gegenüber.
Der ehemalige Wehrmachtsoffizier hatte als WM-Cheforganisator in Zeiten des RAF-Terrors für ein reibungsloses Turnier zu sorgen. Penible Perfektion, Angst vor Anschlägen – wie bei den Olympischen Spielen 1972 in München - und die nüchtern-sachliche Architektur der Stadien - dieser riesigen Suppenschüsseln, "in denen auch der heißeste Inhalt schnell abkühlt" -, verhinderten, dass der Funke des genialischen Spielwitzes auch auf den Zuschauerrängen zündete.
Wendepunkt für die weltweite Bedeutung des Fußballs
Trotz der mäßigen Begeisterung ist die WM '74 nach Schillers Erkenntnissen der Wendepunkt für die weltweite Bedeutung des Fußballs: Dafür stehe nicht nur moderner Angriffsfußball, den die Polen als Turnierdritte und besonders die Niederländer präsentierten, die das Finale gegen die Bundesrepublik unglücklich 1:2 verloren. Vor allem war es die Wahl von Joao Havelange am Vorabend des Turniers zum FIFA-Präsidenten, die einen grundlegenden Wandel einleitete.
Durch bahnbrechende Sponsorenverträge und den immer lukrativer werdenden Verkauf der Fernsehrechte machte der brasilianische Geschäftsmann in seiner fast 25-jährigen Amtszeit aus dem einst verpönten Proletensport eine globale Unterhaltungsindustrie. Inzwischen ist der 98-Jährige allerdings restlos diskreditiert. Schiller: "Erwiesen ist, dass Havelange Bestechungsgelder in Höhe von mindestens einer Million US-Dollar von der Schweizer Sportmarketingagentur ISL einsteckte."
Kay Schiller stützt seine These, dass die Geburtsstunde des modernen Fußballs beim WM-Turnier-74 schlug, mit einer großen Menge plausibler Erklärungen, die er in gründlicher Quellenauswertung zusammengetragen und gut lesbar aufgeschrieben hat. Bahnbrechend neue Erkenntnisse darf man von seinem unterhaltsamen Buch allerdings nicht erwarten.

Kay Schiller: WM 74 – Als der Fußball modern wurde
Rotbuch
224 Seiten, 14,95 Euro

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