Fußball als seelische Vereinigungsmacht
"Die säkularisierte Gesellschaft der Moderne leidet unter einem Mangel an verbindlichen Feiern, an Ritualen", meint der Autor Manfred Koch - und gibt in seinem Buch "Brot und Spiele" dem Fußball eine besondere Rolle, um dem entgegenzuwirken.
Aus grölenden Fans formiert sich ein Schweigemarsch, entsteht eine Trauergemeinde. Die Schlacht- und Hassgesänge weichen der Stille. Ein Stadion, die Fußball-Arena von Hannover 96, wird zur Kathedrale. Eigentlich kaum verwunderlich, wenn man den Sport als "Religion" begreift, wie der Literaturwissenschaftler Manfred Koch:
"Die säkularisierte Gesellschaft der Moderne leidet unter einem Mangel an verbindlichen Feiern, an Ritualen, die das Ganze Kollektiv zusammenschließen. Der Fußball scheint heute am ehesten die Rolle einer seelischen Vereinigungsmacht übernehmen zu können. 'Gott ist tot', lautete vor mehr als hundert Jahren Nietzsches Diagnose. 'Gott ist rund', antworten die Kulturkritiker der Gegenwart."
Um auch in diesen Kulturkritiker-Chor akademisch gebildeter Fußball-Fans aufgenommen zu werden, schlägt Koch erst einmal einen weiten Pass zurück nach Rom, in die Zeit um Christi Geburt, sozusagen in die gegnerische Spielfeld-Hälfte. "Kulturkritiker" wie Juvenal waren damals gar nicht gut zu sprechen auf alles, was die Massen in die Arena zog: Als panem et circenses, "Brot und Spiele", kritisierte der römische Satiriker blutrünstige Gladiatorenkämpfe und aufwendig inszenierte Wagenrennen, die Roms Bürger von wichtigeren Dingen wie etwa der Politik fernhielten.
Diese Argumente gegen Sport und Spiele als Staatsreligion führt der Philologe ausführlich vor – um sie dann mit einer Phalanx anachronistischer Vergleiche vom Feld zu fegen: Wagners elitäre Bayreuther Opern-Festspiele mit Sport als Massen-Kult, Stefan Georges Gedicht "Das Fest" aus der fußballfernen Zeit von 1907 mit einem Europacup-Spiel von Bayern München heutzutage.
Auch Verweise auf Fußball als Vorform des Krieges lässt Koch erst einmal gelten – schließlich bedient er sich mit Zitaten ja ausgiebig bei Ryszard Kapuscinski und dessen "Fußballkrieg", einer brillanten Reportage über das blutige Match zwischen Honduras und El Salvador . Dieser Glanzvorstellung seines Gewährsmanns nimmt der Autor dann aber jeden Effet mit der Formulierung, die derzeit allwöchentlich geschlagenen Hooligan-Schlachten in europäischen Stadien würden belegen,
"dass es mitten in unserer zivilisierten Gesellschaft eine vergleichsweise junge, aparte Form des Bürgerkriegs gibt."
Spätestens nach dieser grotesken Analogie wünscht man sich, ein Thomas Hobbes, also ein Theoretiker, der den religiösen Bürgerkrieg vor Jahrhunderten am eigenen Leibe erfahren hat, könnte dem eher leichtfertigen denn leichtfüßigen Essayisten noch eigenhändig in die Parade fahren. Stattdessen aber geht es mit beliebigen Kreuz- und Querzügen munter weiter durch die Kulturgeschichte:
"Die Formel 1 der Antike startete im Circus Maximus zu Rom, ihr Michael Schumacher hieß Gutta. Die größte Massenmobilisierung brachten die Wagenrennen zustande. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat bei uns unstrittig der Fußball diese Rolle übernommen. Die Rennfahrer werden immer noch geliebt; selbst ein Deutschland im Michael-Schumacher- oder Sebastian-Vettel-Fieber erreicht aber nicht die Seelentemperaturen, die bei einer Fußball-WM entstehen."
Aufgebauschte Begriffe wie "Seelentemperaturen", feuilletonistische Wortklingeleien entheben den vorgeblichen Analytiker sportbegeisterter Massen der Mühen einer detaillierten Feldforschung: Noch gibt es kein Psycho-Thermometer, mit dem die mentale Erhitzung in Fanblock und VIP-Loge, vor heimischen Fernseher oder in der Sportkneipe zu bestimmen wäre. Deshalb bedient sich Koch einschlägiger literarischer Größen, bemüht psychoanalytische Erklärungsmuster von Freud, die Massenpsychologie Gustave Le Bons oder Elias Canettis immer noch unübertroffene Abhandlung über Hetz- und Hassmeuten, den Bestseller "Masse und Macht". Zumindest als Titel laufen auch "Brot und Spiele" eben so gut auf.
Aber weil sich derzeit die "Religion" noch besser verkauft, kam auch dieser Faktor ins Spiel – und steht nun reichlich unvermittelt in der Unterzeile. "Die Religion des Sports also" – und der Fußball als "runder Gott" mitten drin. Allerdings fehlt zur Religion wohl doch mehr als nur ein wenig kirchliches Drumherum, denn in der Arena gibt es weder Beichte noch stille Andacht, kein Abendmahl oder Gebet, nicht "Brot für die Welt" noch eine "Theologie der Befreiung".
Für seine steile These ist Koch nicht sonderlich gut aufgestellt, und in dieser Not bringt er als Ausputzer Hans Ulrich Gumbrecht, der vor Jahren schon bei Suhrkamp seine umfangreiche Studie "Sport" herausgab. Darin trat wiederum Ronaldhino an , das brasilianische Fußball-Idol, um mit seinem berühmt gewordenen Fallrückzieher für die religiöse Erleuchtung, den magischen Moment der "Epiphanie" einzustehen:
"Epiphanien sind plötzliche Göttererscheinungen, Offenbarungsaugenblicke. Gumbrecht will mit dem Wort Epiphanie gerade verdeutlichen, dass der Sport falsch verstanden wird, wenn man Ronaldinhos Flugeinlage und zahllose andere zauberhafte Aktionen als 'Leistung' begreift.
Leistungen sind gewollt, planbar, steigerbar. Epiphanien hingegen sind Geschenke, Göttergaben. Unverhofft wird der Athlet Teil eines höheren Geschehens - in diesem Fall einer Naturgewalt, die von seinem Körper regelrecht Besitz ergreift und ihn Übermenschliches vollbringen lässt."
Zauber, Naturgewalt und "Übermenschliches" – drei Dinge braucht ein Spieler, um zum Fußball-Gott aufzusteigen. Einen höchst profanen, vom Boulevard verliehenen Prominentenstatus, die eher bedauernswerte Existenz am Tropf der Unterhaltungs- oder gar Pharma-Industrie und das sehr weltliche Millionen-Salär dagegen blendet der gutgläubige Fan tunlichst aus, denn das alles – so der Fußballprediger Koch – mache "uns", das Publikum, nur ärmer.
Ärmer im Glauben sicherlich, aber ganz gewiss nicht ärmer im Geiste. Denn wo steht geschrieben, dass waches Auge und ungetrübter Verstand dem Genuss von Sport und Spiel abträglich sind?
Manfred Koch: Brot und Spiele - Über die Religion des Sports
Wallstein Verlag Göttingen
"Die säkularisierte Gesellschaft der Moderne leidet unter einem Mangel an verbindlichen Feiern, an Ritualen, die das Ganze Kollektiv zusammenschließen. Der Fußball scheint heute am ehesten die Rolle einer seelischen Vereinigungsmacht übernehmen zu können. 'Gott ist tot', lautete vor mehr als hundert Jahren Nietzsches Diagnose. 'Gott ist rund', antworten die Kulturkritiker der Gegenwart."
Um auch in diesen Kulturkritiker-Chor akademisch gebildeter Fußball-Fans aufgenommen zu werden, schlägt Koch erst einmal einen weiten Pass zurück nach Rom, in die Zeit um Christi Geburt, sozusagen in die gegnerische Spielfeld-Hälfte. "Kulturkritiker" wie Juvenal waren damals gar nicht gut zu sprechen auf alles, was die Massen in die Arena zog: Als panem et circenses, "Brot und Spiele", kritisierte der römische Satiriker blutrünstige Gladiatorenkämpfe und aufwendig inszenierte Wagenrennen, die Roms Bürger von wichtigeren Dingen wie etwa der Politik fernhielten.
Diese Argumente gegen Sport und Spiele als Staatsreligion führt der Philologe ausführlich vor – um sie dann mit einer Phalanx anachronistischer Vergleiche vom Feld zu fegen: Wagners elitäre Bayreuther Opern-Festspiele mit Sport als Massen-Kult, Stefan Georges Gedicht "Das Fest" aus der fußballfernen Zeit von 1907 mit einem Europacup-Spiel von Bayern München heutzutage.
Auch Verweise auf Fußball als Vorform des Krieges lässt Koch erst einmal gelten – schließlich bedient er sich mit Zitaten ja ausgiebig bei Ryszard Kapuscinski und dessen "Fußballkrieg", einer brillanten Reportage über das blutige Match zwischen Honduras und El Salvador . Dieser Glanzvorstellung seines Gewährsmanns nimmt der Autor dann aber jeden Effet mit der Formulierung, die derzeit allwöchentlich geschlagenen Hooligan-Schlachten in europäischen Stadien würden belegen,
"dass es mitten in unserer zivilisierten Gesellschaft eine vergleichsweise junge, aparte Form des Bürgerkriegs gibt."
Spätestens nach dieser grotesken Analogie wünscht man sich, ein Thomas Hobbes, also ein Theoretiker, der den religiösen Bürgerkrieg vor Jahrhunderten am eigenen Leibe erfahren hat, könnte dem eher leichtfertigen denn leichtfüßigen Essayisten noch eigenhändig in die Parade fahren. Stattdessen aber geht es mit beliebigen Kreuz- und Querzügen munter weiter durch die Kulturgeschichte:
"Die Formel 1 der Antike startete im Circus Maximus zu Rom, ihr Michael Schumacher hieß Gutta. Die größte Massenmobilisierung brachten die Wagenrennen zustande. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat bei uns unstrittig der Fußball diese Rolle übernommen. Die Rennfahrer werden immer noch geliebt; selbst ein Deutschland im Michael-Schumacher- oder Sebastian-Vettel-Fieber erreicht aber nicht die Seelentemperaturen, die bei einer Fußball-WM entstehen."
Aufgebauschte Begriffe wie "Seelentemperaturen", feuilletonistische Wortklingeleien entheben den vorgeblichen Analytiker sportbegeisterter Massen der Mühen einer detaillierten Feldforschung: Noch gibt es kein Psycho-Thermometer, mit dem die mentale Erhitzung in Fanblock und VIP-Loge, vor heimischen Fernseher oder in der Sportkneipe zu bestimmen wäre. Deshalb bedient sich Koch einschlägiger literarischer Größen, bemüht psychoanalytische Erklärungsmuster von Freud, die Massenpsychologie Gustave Le Bons oder Elias Canettis immer noch unübertroffene Abhandlung über Hetz- und Hassmeuten, den Bestseller "Masse und Macht". Zumindest als Titel laufen auch "Brot und Spiele" eben so gut auf.
Aber weil sich derzeit die "Religion" noch besser verkauft, kam auch dieser Faktor ins Spiel – und steht nun reichlich unvermittelt in der Unterzeile. "Die Religion des Sports also" – und der Fußball als "runder Gott" mitten drin. Allerdings fehlt zur Religion wohl doch mehr als nur ein wenig kirchliches Drumherum, denn in der Arena gibt es weder Beichte noch stille Andacht, kein Abendmahl oder Gebet, nicht "Brot für die Welt" noch eine "Theologie der Befreiung".
Für seine steile These ist Koch nicht sonderlich gut aufgestellt, und in dieser Not bringt er als Ausputzer Hans Ulrich Gumbrecht, der vor Jahren schon bei Suhrkamp seine umfangreiche Studie "Sport" herausgab. Darin trat wiederum Ronaldhino an , das brasilianische Fußball-Idol, um mit seinem berühmt gewordenen Fallrückzieher für die religiöse Erleuchtung, den magischen Moment der "Epiphanie" einzustehen:
"Epiphanien sind plötzliche Göttererscheinungen, Offenbarungsaugenblicke. Gumbrecht will mit dem Wort Epiphanie gerade verdeutlichen, dass der Sport falsch verstanden wird, wenn man Ronaldinhos Flugeinlage und zahllose andere zauberhafte Aktionen als 'Leistung' begreift.
Leistungen sind gewollt, planbar, steigerbar. Epiphanien hingegen sind Geschenke, Göttergaben. Unverhofft wird der Athlet Teil eines höheren Geschehens - in diesem Fall einer Naturgewalt, die von seinem Körper regelrecht Besitz ergreift und ihn Übermenschliches vollbringen lässt."
Zauber, Naturgewalt und "Übermenschliches" – drei Dinge braucht ein Spieler, um zum Fußball-Gott aufzusteigen. Einen höchst profanen, vom Boulevard verliehenen Prominentenstatus, die eher bedauernswerte Existenz am Tropf der Unterhaltungs- oder gar Pharma-Industrie und das sehr weltliche Millionen-Salär dagegen blendet der gutgläubige Fan tunlichst aus, denn das alles – so der Fußballprediger Koch – mache "uns", das Publikum, nur ärmer.
Ärmer im Glauben sicherlich, aber ganz gewiss nicht ärmer im Geiste. Denn wo steht geschrieben, dass waches Auge und ungetrübter Verstand dem Genuss von Sport und Spiel abträglich sind?
Manfred Koch: Brot und Spiele - Über die Religion des Sports
Wallstein Verlag Göttingen

Cover: "Manfred Koch: Brot und Spiele"© Wallstein Verlag