Fuminori Nakamuras Roman "Der Dieb"

Die dunklen Seiten Tokios

Autoverkehr abends in der Einkaufsstraße Ginza in Tokio
Autoverkehr abends in der Einkaufsstraße Ginza in Tokio © dpa/picture alliance/Matthias Tödt
Von Claudia Kramatschek · 25.09.2015
In seinem Mafia-Roman "Der Dieb" entführt der Schriftsteller Fuminori Nakamura seine Leser in die japanische Unterwelt. Das Buch erlaubt Einblicke in menschliche Abgründe einer Kultur, die hierzulande undurchdringlich erscheint.
Seit 2004 erfreut der englischsprachige Verlag Akashic Books seine Leserschaft mit einer speziellen Reihe: Jede Anthologie dieser Reihe entführt in die Schattenseiten einer bestimmten Stadt oder eines bestimmten Landes; die einzelnen Bände heißen daher "Delhi noir", "Mumbai noir" oder "Haiti noir". Sollte der Verlag je planen, einen Band "noir" über Tokio oder Japan zu veröffentlichen: Der 1977 geborene Schriftsteller Fuminori Nakamura wäre der Mann der Stunde. Denn sein Roman "Der Dieb" ist nur dem äußeren Anschein nach ein Krimi, der davon erzählt, wie ein eher unscheinbarer Straßendieb in Tokio in die Fänge der Yakuza – der japanischen Mafia – gerät und auf diese Weise ein Spiel auf Leben und Tod beginnt.
In Wirklichkeit entführt der Roman in ein japanisches Schattenreich und erlaubt ungewohnte Einblicke in gesellschaftliche wie menschliche Abgründe einer Kultur, die hierzulande noch immer als eher reserviert und undurchdringlich erscheint. Dabei beginnt tatsächlich alles wie ein Spiel: Wie jeden Tag ist der Dieb in den Straßen von Tokio unterwegs und geht seinem Brotberuf nach, der eher eine Berufung ist. Denn Nakamuras Dieb stiehlt nicht, um sich selbst zu bereichern. Er stiehlt aus Prinzip, um die Reichen zu bestehlen. Die Geldbörsen, die so in seine Hände gelangen, offenbaren nicht nur den Charakter ihrer Besitzer: in welches Bordell sie gehen, bei welchem Eskort-Service sie Stammkunde sind. Nakamura beleuchtet anhand von ihnen auch die brisanten Verflechtungen der Reichen und Mächtigen mit den kriminellen Machenschaften der Unterwelt, besagter Yakuza. Wer über deren Machenschaften recherchiert geschweige denn öffentlich schreibt, ist eigentlich schon ein toter Mann.
Das Dunkle und Böse im Menschen
Fuminori Nakamura – der Name ist übrigens ein Pseudonym – gab in einem Interview daher auch unumwunden zu, dass er nur Fakten verwendet, die bereits bekannt seien – und alles andere der Imagination geschuldet ist. Dem Roman, der nur wenige Requisiten für die Erzeugung einer unheilvollen Atmosphäre benötigt, gerät das nicht zum Nachteil; im Gegenteil. Denn dessen eigentliches Thema ist das Böse, das Dunkle, das in den Menschen selbst lauert – und der Kampf, den auch sein Held, der Dieb, mit eben diesem Bösen ausfechten muss. Sein Widerspieler ist daher ein sadistischer Bandenboss der Yakuza, Kizaki genannt, für den er schon einmal eher unfreiwillig einen riskanten Deal ausführen musste – und der ihn nun wieder in einen Pakt mit dem Teufel verdingt.
Dass der Dieb sich darauf einlässt, hat nicht zuletzt mit einem Jungen zu tun, dem er durch Zufall begegnet und in dem er sich selbst erkennt, mehr als ihm lieb ist. Und dann ist da noch der geheimnisvolle Turm, der gleich zu Anfang des Romans in der Ferne schimmert, wie die Verheißung eines besseren Lebens, nach dem sich auch der Dieb tief in seinem Herzen bis zum Wurf der letzten Münze sehnt. Man ahnt: Kafka und Dostojewski sind die Ahnherren von "Der Dieb", dessen Sprache (in ein makellos schlankes Deutsch übertragen von Thomas Eggenberg) grandios schnörkellos und der dennoch von tiefer Melancholie, ja Metaphysik überzogen ist.

Fuminori Nakamura: Der Dieb
Roman. Aus dem Japanischen von Thomas Eggenberg
Diogenes Verlag, Zürich 2015
211 Seiten, 22 Euro

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