Shen Fu: "Aufzeichnungen aus einem flüchtigen Leben"
Übersetzt und herausgegeben von Richard von Schirach
Matthes & Seitz Berlin, 250 Seiten, 17,99 Euro
Erscheint voraussichtlich am 30. August 2019
Lebensbericht eines chinesischen Taugenichts
06:36 Minuten
Als Shen Fu Anfang des 19. Jahrhunderts sein Leben aufschrieb, dachte er nicht an eine Veröffentlichung. Sein frischer, offenherziger Bericht gehört in China und Taiwan zum Literaturkanon - und erscheint jetzt in deutscher Neuübersetzung.
"Von Natur aus bin ich eher unbekümmert und unkonventionell", stellt Shen Fu fest. Damit hat der 1763 geborene Gelehrtensohn, der es zeitlebens nicht wirklich zu etwas bringt, sicherlich Recht. Schon als junger Mann rasselt er zweimal durch die für das Fortkommen eines jungen Chinesen so wichtige Beamtenprüfung. Doch er nimmt es gelassen – oder lässt sich in seinen "Aufzeichnungen aus einem flüchtigen Leben" zumindest keinen tieferen Kummer anmerken. Zumal er unbändig verliebt ist in seine Cousine Chen Yun. Mit 16 Jahren heiratet er sie.
Liebevolle Schilderungen alltäglicher Zuwendung
Die beiden verstehen sich ausgezeichnet, diskutieren viel über Literatur, betrachten gerne gemeinsam den Mond und schreiben dabei Gedichte. Ästhetische Handlungen nehmen in ihrer Beziehung viel Raum ein. So beschreibt Shen Fu genau, wie seine fingerfertige Frau Weihrauch entzündet oder Blumen arrangiert. Liebevolle Schilderungen alltäglicher Zuwendung. Auch ein Picknick richtet Chen Yun für die Freunde aus, denn Freundschaft spielt in dieser empfindsamen Lebensbilanz ebenfalls eine wichtige Rolle – genau zu jener Zeit übrigens, in der auch in Deutschland der Freundschaftskult der Goethe-Zeit gepflegt wurde. Shen Fu schätzt es daher sehr, dass seine Frau bei Geldnot lieber ihre wertvolle Haarnadel versetzt, "statt leichtfertig auf einen schönen Tag in angenehmer Gesellschaft zu verzichten."
Von der Familie verstoßen
Als Yun sich allerdings in die hübsche Hanyuan verguckt, kommt es zum Wendepunkt in ihrer beider Leben. Denn die Schwiegereltern reagieren wenig amüsiert. Als es dann auch noch ein Missverständnis um geliehenes Geld gibt, wird das junge Paar von der Familie verstoßen. Sparsam mussten sie auch vorher schon leben, da Shen Fu nur gelegentlich gejobbt hat. Nun aber sind sie richtig verarmt.
Shen Fu erzählt seine Lebensgeschichte im Rückblick, so dass seine spätere Havarie schon früh durchschimmert und der Text trotz seines feinsinnigen Humors eine wehmütige Note bekommt. "Jetzt bin ich 46 Jahre alt und treibe alleine im weiten Ozean des Lebens", notiert er einmal.
In vier Kapiteln erzählt er von seiner Kindheit, der Ehe mit Chen Yun, seinen Freundschaften und Reisen. Eigentlich sollte der Text nie veröffentlicht werden, doch wurde die Handschrift 1877 bei einem Straßenhändler entdeckt und rasch publiziert. Heute gehört der autobiografische Text zum literarischen Kanon in China und in Taiwan. Dies liegt vor allem an seiner erzählerischen Frische und an Shen Fus persönlicher Offenheit. Nicht selbstverständlich zu einer Zeit, in der die chinesische Literatur von den blutleeren Werken konfuzianischer Scholasten geprägt war.
Zwei weitere Kapitel gelten als verschollen
Vier Kapitel geben dem Text – der zuweilen romanhaft wirkt, für einen Roman aber zu disparat angelegt ist – eine grobe Struktur. Zwei weitere Kapitel gelten als verschollen. Über den Autor ist über seinen Text hinaus nichts bekannt. Im Buch erfährt man viel über seinen Alltag in der Qing-Dynastie, doch spielt er sich nie in den Vordergrund.
Aus seiner Misere macht er – wie es häufig vorkommt in der chinesischen Literatur – keine Loser-Burleske, sondern er erzählt ehrlich von den Dingen, die ihm in seinem Leben wichtig waren. Das macht seine Schilderungen so erstaunlich modern und dieses Buch auch für heutige Leser zu einer faszinierenden Lektüre.