Jahreszeiten im Wandel

Trügerische Frühlingsgefühle

29:04 Minuten
Vereiste Zweige eines blühenden Pflaumenbaums
Späte Fröste sind tückisch: vereiste Zweige eines blühenden Pflaumenbaums. © imago/Xinhua
Von Ulrich Land · 23.03.2022
Audio herunterladen
In Zeiten des Klimawandels sind auch die Jahreszeiten nicht mehr das, was sie mal waren. Der Frühling war früher die Zeit befreiender Gefühle – der Winter war überstanden, die Natur blühte auf. Zugleich bargen diese Monate aber auch Gefahren.
"Vom Eise befreit sind Strom und Bäche
Durch des Frühlings holden, belebenden Blick;
Im Tale grünet Hoffnungs-Glück."
Das Frühlingsgefühl, das Goethe im Osterspaziergang in Faust I zum Ausdruck brachte, ist uns auch heute nicht fremd, aber die Bilder passen nicht mehr. Weder Strom noch Bäche waren im Winter vereist. Und die Inbrunst, mit der der Frühling begrüßt wurde, ist kaum mehr nachvollziehbar. Dabei ist der Frühling das, was er früher schon war: die Zeit, in der sich das neue Leben in der Natur regt.

In seiner "Geschichte der vier Jahreszeiten" mit Erinnerungen und Wahrnehmungen in Zeiten des Klimawandels hat sich Ulrich Land auch schon dem Winter gewidmet - hier nachzuhören.

„Blätter schieben sich raus in den unterschiedlichsten Strukturen, das ganze Leben erwacht, Insekten, Bienen fliegen, Hummeln, Vögel, Zugvögel kehren zurück, da ist im Frühling die größte Veränderung aus dem Nichts heraus, plötzlich ist alles lebendig.“
So schwärmt der Landschaftsarchitekt Peter Schnitzler. Aber auch er muss in diesem Jahr auf den Regen warten, der von einer stabilen Hochdruckwetterlage ausgerechnet in der Keimzeit der Natur wochenlang ausbleibt.

Minusgrade als existenzielle Gefahr

Ein anderes befreiendes Frühlingsgefühl gehört der Vergangenheit an: den Winter überlebt zu haben. Eisige Temperaturen, bis zu 15 Grad minus noch im März, bedeuteten eine existenzielle Gefahr, die in den beheizten Wohnungen unserer Zeit gebannt ist.
Vor 200 bis 300 Jahren war aber nicht einmal der Winter die gefährlichste Zeit für das Überleben, sondern das Frühjahr, betont der Historiker Javier Francisco: „Anfang des Frühlings hat man noch nicht ernten können, da wurden die Reserven knapp, ungefähr sechs Wochen von Ende März bis Anfang Mai. Da wurde es kritisch.“
Beim Blick auf die vom vergangenen Herbst übriggebliebenen Vorräte waren die Frühlingsgefühle daher trügerisch. Es galt, die Zeit bis zur nächsten Ernte noch zu überstehen. Akuter Vitaminmangel war ein verbreitetes Problem früherer Jahrhunderte.

Späte Fröste zerstören Blüten

All das haben wir mit der Industrialisierung in den Griff bekommen. Stattdessen plagen uns heute andere Sorgen. Wenn die Temperaturen zu früh steigen, wenn die Natur zu früh erwacht, lockt sie die Pflanzen zu früh hervor. Späte Frühjahrsfröste zerstören die Blüten. Die Pflanzenzellen werden durch den Frost, durch das Wasser, das sich beim Gefrieren ausdehnt, förmlich gesprengt. Kirschbaumblüten beispielsweise sind Spätfrösten hilflos ausgeliefert - nicht zuletzt, weil die Bäume ursprünglich aus den wärmeren Regionen der Türkei stammen.
„Spürbar ist die Verschiebung des Austriebs der meisten Pflanzen nach vorne raus. Im Moment um circa zwei Wochen. Alles zwei Wochen früher. Das kann Probleme machen, weil es gehäuft auch spätere Fröste dadurch geben kann, und die Kulturen kaputtgehen“, so Landschaftsarchitekt Peter Schnitzler.

Sinkende Inzidenzen als neue Frühlingsboten

Waren die Frühlingsgefühle in früheren Zeiten intensiver, aber auch trügerisch, so ist ein ganz anderes Frühlingsgefühl ein welthistorisches Novum: unser Warten auf sinkende Inzidenzen in der Corona-Pandemie, auf die Möglichkeit, wieder die Masken fallen zu lassen und ins soziale Leben einzutauchen. „Vom Eise befreit“ müsste heute heißen: „Von Covid befreit“.
(wist)
Mehr zum Thema