Friedrich Wilhelm Graf: „Ernst Troeltsch. Theologe im Welthorizont“

Kämpfer für die Verständigung der Völker

07:13 Minuten
Friedrich Wilhelm Graf: „Ernst Troeltsch. Theologe im Welthorizont“. Das Cover zeigt ein Porträt von Troeltsch, der leicht den Kopf dreht und in die Kamera blickt.
© C.H. Beck

Friedrich Wilhelm Graf

Ernst Troeltsch. Theologe im WelthorizontC.H. Beck, München 2022

638 Seiten

38,00 Euro

Von Marko Martin · 16.01.2023
Audio herunterladen
Wie die Religion mit der Moderne versöhnen, Frieden und Demokratie sichern? Friedrich Wilhelm Grafs Biografie des 1923 gestorbenen Theologen und Zeitdiagnostikers Ernst Troeltsch erinnert an einen deutschen Ausnahme-Intellektuellen.
Als der Religionssoziologe und Historiker Ernst Troeltsch am 3. Februar 1923, zwei Tage nach seinem Tod, in Berlin zu Grabe getragen wurde, war beinahe die ganze liberale Geisteselite der Weimarer Republik präsent: Friedrich Meinecke, Albert Einstein, Erich Auerbach, Hans Jonas, Gustav Radbruch, nicht zu vergessen das Ehepaar Theodor und Elly Heuss, das wie Troeltsch in der linksbürgerlichen Partei DDP engagiert war.
Späterhin würden in ihren Erinnerungen auch Erich Kästner und Ludwig Marcuse die geistige Neugier und den ganz und gar nicht akademisch-gediegenen Elan des 1865 bei Augsburg geborenen Arztsohns würdigen, der bereits mit 26 Jahren promoviert war und mit 41 zum Prorektor der Heidelberger Universität wurde, ehe er nach Berlin übersiedelte und auch dort Generationen von Studenten prägte – und in seinen letzten Lebensjahren sein Land für die Weimarer Republik und die Idee der Völkerverständigung zu gewinnen suchte.

Wuchtiger Bayer und feinnerviger Intellektueller

Friedrich Wilhelm Graf, selbst Theologe und Wissenschaftler von Rang, legt nun mit der Biografie „Ernst Troeltsch. Theologe im Welthorizont“ ein ausgereiftes Standardwerk vor, flüssig geschrieben und souverän changierend zwischen biografischer Nachzeichnung und Werkgenese. Völlig frei von rhetorischen Knalleffekten und auftrumpfenden Thesen ist dieses im Textteil über fünfhundertseitige Werk eine veritable intellektuelle Schatzkammer, deren Entdeckung vor allem jenen zu wünschen wäre, die sich nicht mit einer Readers-Digest-Version deutscher (Geistes-)Geschichte zufriedengeben möchten.

Abonnieren Sie unseren Weekender-Newsletter!

Die wichtigsten Kulturdebatten und Empfehlungen der Woche, jeden Freitag direkt in Ihr E-Mail-Postfach.

Vielen Dank für Ihre Anmeldung!

Wir haben Ihnen eine E-Mail mit einem Bestätigungslink zugeschickt.

Falls Sie keine Bestätigungs-Mail für Ihre Registrierung in Ihrem Posteingang sehen, prüfen Sie bitte Ihren Spam-Ordner.

Willkommen zurück!

Sie sind bereits zu diesem Newsletter angemeldet.

Bitte überprüfen Sie Ihre E-Mail Adresse.
Bitte akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung.
Denn auf welchem Niveau wurde bereits um die Jahrhundertwende – und dies im wilhelminischen Deutschland! - geforscht, geschrieben und debattiert, wie nuanciert um das Verhältnis zwischen Christentum und naturwissenschaftlich „entzauberter Welt“ gerungen! Und wie faszinierend muss dieser körperlich wuchtige Bayer und gleichzeitig feinnervige Intellektuelle auf seine Umwelt gewirkt haben, da er es frühzeitige wagte, Widersprüche als anregend wahrzunehmen, im Christentum die Freiheit des Einzelnen anstatt den Ritus des Gehorsams zu betonen und bei all dem kritisch-offen zu sein für die Neuerungen seiner Zeit.

Der aktivistische „Dennochglaube“

"Troeltsch sprach von der 'außerordentlichen Komplexität des ethischen Bewusstseins, dessen Normen aus sehr verschiedenen Quellen und Richtungen zusammenfließen´, was 'Spannungen' erzeuge. Er kombinierte eine kantianische Ethik der 'Persönlichkeits- und Gewissensmoral', die auf ein universalistisches Konzept von Menschenwürde und Menschenrechten hinauslief, mit einer 'Ethik der Kulturwerte' (...) Er dachte in Ambivalenzen und konnte Ambiguität ertragen. Troeltschs Frömmigkeit war ein mystischer, sozial aktivistischer Dennochglaube", schreibt Graf.
Dass jedoch auch dieser Gelehrte nicht frei war von den Prägungen seiner Zeit, dass er 1914 wie so viele andere den Krieg anfangs als „Verteidigungsschlacht“ begrüßte und in seiner Wahrnehmung mancher Juden – obwohl er sich die homogenisierende Phrase von „dem“ Judentum verbot – wenn nicht zum Antisemitismus, so doch zu deutschem Kulturdünkel neigte: Es wird in dieser Biografie weder verschwiegen noch relativierend kleingeredet.

Versöhnung von Moderne und Christentum

Versöhnung von protestantischem Christentum mit der demokratischen Moderne – ohne Aufgabe des religiösen Kerns, weder in Unter- noch Überschätzung sozialen Aktivismus: Dafür schrieb und stritt Ernst Troeltsch. Letztlich freilich erfolglos, wie schon zehn Jahre nach seinem Tod die Kollaboration evangelischer Landeskirchen mit dem Nazi-Regime bewies.
Auch seine Aufsätze, die er in der Frühphase der Weimarer Republik publizierte, um gleichermaßen vor der Gefahr bolschewistischer Revolution und reaktionärer Konterrevolution zu warnen, wurden seinerzeit zwar viel gelesen, führten aber eben nicht zu einer Hinwendung der Mehrheit des deutschen Bürgertums zur moderaten Sozialdemokratie, so wie sie sich Troeltsch erhofft hatte.
Kein Geringerer als Thomas Mann aber fand damals unter dem Einfluss dieses Gelehrten vom ressentiment-gesteuerten „Apolitischen“ zum luziden „Vernunftrepublikaner“. Auch daran erinnert Friedrich Wilhelm Grafs eindrucksvolles Buch – ebenso wie an die schmachvolle Weigerung des Berliner Senats im Jahr 2022, an Ernst Troeltschs einstigem Berliner Wohnhaus eine Gedenktafel anbringen zu lassen.
Mehr zum Thema