Friederike Mayröcker

Lektüre zum süchtig werden

Die österreichische Schriftstellerin vor einer Bücherwand Friederike Mayröcker am 9. Dezember 1999.
Die österreichische Schriftstellerin Friederike Mayröcker im Dezember 1999 © picture-alliance / dpa / apa Klaus Techt
Von Katharina Döbler · 29.12.2014
Zu Friederike Mayröckers 90. Geburtstag ist jetzt ein "cahier", ein Schreibheft erschienen. Nach "études" ist auch dieses chronologisch nach Tagen geordnet, aber vielleicht wäre "Lebensschrift" die bessere Bezeichnung für dieses ganz eigene Mayröcker’sche Genre.
Friederike Mayröcker ist etwas anderes als eine Schriftstellerin. Ihre poetischen, schwebenden, sich zu Wolken formenden und in Partikeln niedersinkenden Wortgebilde wirken nicht wie hergestellte Schriften, sondern wie fast organische Wesen, die, in ständiger Transformation begriffen, ein eigenes Leben besitzen.

Niemand sonst in der literarischen Landschaft deutscher Zunge hat sich so konsequent und so radikal, über ein ganzes Leben hin, der Einheit von Sprache und Leben verschrieben.

Nun, zu Friederike Mayröckers 90. Geburtstag, ist ein neues Werk herausgekommen, ein "cahier", ein Heft also, in Fortführung der "études", die im vergangenen Jahr erschienen. Auch dieses Heft ist eine Lebensmitschrift, nach Tagen chronologisch geordnet. Aber es ist keine Selbsterzählung. Vielleicht wäre "Lebensschrift" die richtige Bezeichnung für dieses ganz und gar eigenartige, spezifisch Mayröcker’sche Genre.
Friederike Mayröcker erzählt nicht. Niemals. Sobald so etwas wie ein Erzählfluss in Gang kommen könnte, stehen da drei prohibitive Pünktchen oder ein "etc": bitte schön, Leser, denkt euch den Rest, ich habe anderes vor.
Die Verschmelzung von Erinnerung und Gefühl
Es geht in diesen Texten eben nicht um den Hergang von Ereignissen, sondern um die wundersame Verschmelzung von Eindruck, Erinnerung, Gefühl und Worten. Es geht um "das Hissen von Gedanken", nicht um Mitteilungen; denn, so heißt es einmal, das Reden sei "eine Ablenkung vom Eigentlichen = vom Schreiben, nicht wahr".

Und dieses Schreiben ist zugleich extrem künstlich und außerordentlich intim. Über die Buchseiten hinweg entfaltet sich ein Raum, der mit seinen Erinnerungsstücken, seinen Wirklichkeitsfragmenten, seinen Empfindungen und Sinneseindrücken im Lesen immer vertrauter wird. Es ist ein Raum, der sich ständig verändert und dabei immer erkennbarer wird. Ein Raum, in dem man sich lesend bewegt - und der sich zugleich, wie Staub, um seine Leser herum bewegt.

Eine leichte Lektüre ist das nicht; eher eine, die Sucht erzeugen kann bei allen, die für Schönheiten und Möglichkeiten von Sprache anfällig sind.

Friederike Mayröcker: Cahier
Suhrkamp, Berlin 2014

162 Seiten, 19,95 Euro

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