Frieden schaffen mit Waffen

Rezensiert von Udo Scheer · 01.04.2013
War die DDR ein Friedensstaat? Diese Frage beantworten dürfte am ehesten eine kritische Studie über ihre Armee und deren Kampfauftrag. Rüdiger Wenzke war schon in der DDR Militärhistoriker und forscht jetzt in Potsdam am Militärgeschichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr.
800 Seiten schreibt Rüdiger Wenzke und doch hält er sie nicht für umfassend genug. Schon in der Einleitung kündigt der Autor an, dass noch eine Studie des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes folgen werde.

""Eine Gesamtdarstellung über das ostdeutsche Militär in der Ulbricht-Ära liegt damit noch nicht vor. Sie war auch nicht das Ziel dieser Arbeit." (S. 13)"

Wenzke umreißt, wie sich die Nationalen Volksarmee von ihrer Gründung 1956 bis zum Machtantritt Erich Honeckers 1971 zu einer anerkannt modernen Armee entwickelt hat. Dabei ist nicht zuletzt das Bemühen um Integration der NVA in das osteuropäische Militärbündnis aufschlussreich zu lesen. Das Hauptaugenmerk liegt allerdings weniger auf Struktur und Auftrag als auf zahlreichen Facetten der inneren Verfasstheit dieser Armee.

Zur Militärdoktrin der SED-Führung zitiert der Autor den Staatsratsvorsitzenden - und zugleich selbsternannten obersten Militär - Walter Ulbricht. Danach hatte die NVA den Auftrag:

""… im Falle der Entfesselung einer imperialistischen Aggression den Feind auf seinem eigenen Territorium zu vernichten." (S. 1)"

Es galt immer eine Erstschlagstrategie
Klarer formuliert: Es galt immer eine Erstschlagstrategie, bis Michail Gorbatschow 1987 eine defensive Verteidigung im Warschauer Pakt durchgesetzt hatte.
Für diese Strategie stützten sich die sowjetischen Besatzungstruppen in der DDR mit ständig einsatzbereiten 350.000 Soldaten und die Einheiten der NVA mit 125.000 Mann plus 45.000 in den Grenztruppen vorrangig auf starke Panzer- und Motorschützendivisionen. In vier Angriffskorridoren sollten sie in die Bundesrepublik und in einem weiteren in Westberlin einfallen.

Für eine zweite Front, geplant von der Ostsee über die Kieler Bucht bis in die Nordsee hinein, war die Volksmarine im Verbund mit der Polnischen Seekriegsflotte und der Baltischen Rotbanner-Flotte vorgesehen. Verstärkt werden sollte der Vormarsch durch neun Jagdbombergeschwader und einen sowjetischen Raketengürtel in der DDR und CSSR, teilweise nur fünfzig Kilometer von der Westgrenze entfernt.

Ab 1963 wurde die NVA mit atomwaffenfähigen Trägersystemen, mit modernen Selbstfahrlafetten als mobilen Startrampen, mit atomwaffenfähigen Jagdbombern und Raketenschnellbooten ausgerüstet. Rüdiger Wenzke zitiert Günther Schmidt, Generalmajor a. D. der Luftstreitkräfte:

"" … die NVA-Kräfte aller Waffengattungen … unterstanden als Teilkräfte in der Angriffsoperation … dem sowjetischen Frontoberbefehlshaber. Der Angriff wurde auf riesigen Karten mit der Stoßrichtung "West" unter Einbeziehung von Atomwaffen geplant. (…) Der gesamte Zeitplan, der dazu erarbeitet wurde, umfasste einen Zeitabschnitt von sechs, sieben Tagen." (S. 729)"

Das Präventivschlagszenario wird in der Studie nur am Rande dargestellt. Stattdessen bietet der Autor primär eine bemerkenswerte Innenschau des sozialistischen Kasernenhofs.

Cover Rüdiger Wenzke: "Ulbrichts Soldaten"
Cover Rüdiger Wenzke: "Ulbrichts Soldaten"© Ch. Links Verlag
Einführung von Uniformen, Drill und Ritualen
Ausführlich dokumentiert er, wie die Fachkompetenz umerzogener Wehrmachtoffiziere für die Aufbauphase der Armee genutzt wurde, einschließlich der Einführung von wehrmachtähnlichen Uniformen, Drill und Ritualen entsprechend der deutschen Militärtradition. Mit dieser Traditionslinie rechneten Walter Ulbricht und Verteidigungsminister Willi Stoph sich eine höhere Akzeptanz in der Bevölkerung für "ihre Soldaten" aus.

Auch wenn mancher Offizier sich nur als Militär sehen wollte, so wurde das gesamte Offizierskorps - und mit ihm die Armee – zu einem maßgeblicher Pfeiler für den SED-Machterhalt: bei Durchsetzung des Grenzregimes, in Einsatzkonzeptionen gegen die eigene Bevölkerung, bei der Absicherung des Mauerbaus 1961 und selbst durch Produktionseinsätze in planwirtschaftlichen Krisensituationen.

Im Gegensatz zur propagierten "sozialistischen Menschenführung" war Abstumpfung der Rekruten durchaus beabsichtigt. Besonders nach Einführung der Wehrpflicht 1962 wurden junge Wehrdienstleistende bewusst schikaniert und gedemütigt – beispielsweise durch überpenible Stubenkontrollen oder Urlaubssperren, unmotivierte Sonderapelle, extrem verkürztes "Essen fassen" oder so, wie ein Soldat berichtet:

""Eines Tages war ich als Ordonanz im Offizierskasino eingesetzt. Da konnte ich mich überzeugen, dass Offiziersessen ein reines Sonntagsessen war …, und am selben Tag war das Essen von uns saumäßig.

(…) In das Essen und in den Tee wurde zur Dämpfung der Sexualität ein von uns sogenanntes Hängolin gegeben. Das war eindeutig entsprechend den DDR-Gesetzen eine vorsätzliche Körperverletzung." (S. 719)
"

Gelenkte Freizeit
Ausführlich geht die Studie ein auf: Unterkunft, Tagesablauf und Politschulungen, welche die Feindbilder "Bundesrepublik" und "NATO" vermittelten. Sie bietet Einblicke in gelenkte Freizeit im Kollektiv, in den Sport, auch Leistungssport im Armeesportklub ASK bis hin zu Testgruppen für die Wirkung von Dopingmitteln. Und sie dokumentiert die Folgen der Entindividualisierung: Alkoholexzesse, Wehrdienstverweigerung, Fahnenflucht und Suizid.

Das wenig ruhmreiche Verhältnis von Kirche und NVA wird ebenso behandelt wie Militärgerichtsbarkeit oder Staatssicherheit in der Armee.

Und der Autor untersucht das Bild der NVA in Literatur und Bildender Kunst, in Liedern und Filmen. Dieses Kapitel zeigt zugleich, wie sich "Kulturschaffende" für gut dotierte Auftragswerke korrumpierten. So erinnert ein Generalleutnant a. D. an die Uraufführung des DEFA-Spielfilms "Der schweigende Stern" nach dem Mauerbau 1961:

""Hauptdarsteller Günther Simon bekannte sich in einer flammenden Rede zu den Sicherungsmaßnahmen und teilte mit, dass eine der Hauptdarstellerinnen anlässlich dieser Ereignisse um Aufnahme in die Partei gebeten hatte." (S. 722)"
"Ulbrichts Soldaten" ist eine breit angelegte und kompetente Studie über die Anfangsjahre der Nationalen Volksarmee und ihren Umbau in eine kampfstarke, moderne Angriffsarmee hinter der Legende einer "Friedensarmee".

Hätte Rüdiger Wenzke straffer geschrieben und stärker den strategischen Auftrag an der vordersten Front im Warschauer Pakt herausgearbeitet, wäre ihm durchaus ein umfassendes Standardwerk gelungen. Diese Möglichkeiten hat er nicht ausgeschöpft.


Rüdiger Wenzke: Ulbrichts Soldaten. Die Nationale Volksarmee 1956-1971
Ch. Links Verlag Berlin, Jan. 2013
816 Seiten, 49,90 Euro
Mehr zum Thema