Frevelnde Pfeifentöne

Von Gerald Beyrodt · 02.09.2011
Einst war die Orgel in den deutschen liberalen Synagogen ein Muss, seit der Schoa ist sie eine Rarität. In Berlin-Charlottenburg pflegen Kantor, Organistin, Chor und Gemeinde die Orgeltradition in der Synagoge Pestalozzistraße weiter.
Viele Jahrhunderte lang schwiegen Musikinstrumente in der Synagoge. Die ersten Orgeln in Tschechien im 18. Jahrhundert erklangen nur in der Woche - denn den Blasebalg des Pfeifeninstrumentes zu betätigen, galt als Arbeit - und Arbeit war am Schabbat verboten. In Deutschland ließ die zweite Rabbinerversammlung im Jahr 1845 die Orgel in der Synagoge zu.

In fast allen größeren Städten in Deutschland schafften sich die Gemeinden Orgeln an - was oft zu Gemeindespaltungen führte. Orthodoxe Juden betrachteten die Pfeifentöne als Frevel. Der Komponist Louis Lewandowski prägte die Orgelmusik maßgeblich. Er dirigierte in der Neuen Synagoge in Berlin - ein riesiger Bau mit vielen Hundert Sitzplätzen.

Regina Yantian, Organistin und Chorleiterin: "Lewandowski ist ja derjenige, der als erster jüdischer Komponist für das gesamte Festtags- und Feiertagesjahr Gottesdienste durchkomponiert hat, und deshalb ist er so herausragend für Berlin und letztlich für die ganze Welt, weil es gibt Partituren zu jedem Gebet, was man nur beten kann. Auch deswegen wollten wir die CD nicht ganz ohne ihn gestalten."

Heute sind Orgeltöne in jüdischen Gemeinden eine Rarität. Doch in der Synagoge Pestalozzistraße in Berlin-Charlottenburg führen Regina Yantian und Kantor Isaak Sheffer Lewandowskis Musiktradition weiter.

Neben Lewandowski ist eine breite Vielfalt von europäischen und amerikanischen Komponisten aus dem 19. und 20. Jahrhundert zu hören. Unter ihnen Kurt Weil - in Deutschland vor allem bekannt, weil er die Dreigroschenoper und andere Brecht-Werke vertont hat. Dass er aus einer jüdischen Kantorenfamilie aus Dessau stammte, ist weniger bekannt. Er schrieb auch eine Orchesterfassung der israelischen Nationalhymne Hatikwa und die Musik zu einem Schauspiel, das 1943 in New York auf den Mord an den europäischen Juden aufmerksam machte. Hier ein Kiddusch von Kurt Weill - ein Segen über Brot und Wein.

Traditionell besteht der jüdische Gottesdienst aus einem Wechselgesang von Vorbeter und Gemeinde. Doch manch ein Beter traut sich nicht mitzusingen, wenn Profiensembles ausgefeilte Arrangements zum Besten geben. Neuere amerikanische Komponisten legen großen Wert darauf, dass sich die Gemeinde beteiligt.

"Also, dass man nicht eine Art Konzert dort veranstaltet, von Kantor und Chor, was ja auch der Hauptkritikpunkt ist an Lewandowski, sondern dass immer wieder leichte, sich wiederholende Themen eingebaut werden, die man dann quasi die Gemeinde mitsingen lässt. Also es ist eine Kombination aus hoher kantoraler Kunst und schönen Chorteilen und auch immer wieder Teilen, in denen die Gemeinde einbezogen wird."

Großen Wert auf eingängige Stellen, die die Gemeinde singen kann, legt zum Beispiel Ben Steinberg. Der heute 81-jährige hat die Bitte um Frieden vertont: Sim Schalom.

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