Freiheit oder Liberalismus (1/4)

Eine Spurensuche im politischen Alltag

Von Wolf-Sören Treusch · 09.02.2015
Was soll der Staat regeln und von welchen Aufgaben sollte er besser die Finger lassen? Bis zu ihrem Abschied aus dem Bundestag besetzte die FDP dieses Thema. Nun haben auch Politiker anderer Parteien ihr liberales Herz entdeckt. Aber vielleicht hat die liberale Idee ja gar keine eigene Partei nötig.
Meinhard Starostik:
"Mein Vater war FDP-Anhänger. Tatsächlich. Was mein Vater mir mitgegeben hat, war so der bürgerlich-liberale Freiheitsdrang des Individuums."
Anton Hofreiter:
"Ich hatte als junger Mensch durchaus einen Begriff von liberal sein, von freiheitlich sein, ich bin aufgewachsen im Bayern der Strauß-CSU, und wenn man da nicht völlig konform war, wusste man sehr schnell, was Freiheit bedeutet."
Friedhelm Boginski:
"Meine Fähigkeit, parteiübergreifend zu denken und versuchen alle mitzunehmen, das halte ich schon für einen liberalen Grundgedanken."
Drei Männer zwischen 45 und 65, alle drei politisch aktiv. Wohin sie ihr Weg führt, sei nicht immer klar, sagen sie, aber eine liberale Grundüberzeugung begleitet sie stets. Mitglied der Partei, die im parlamentarischen System der Bundesrepublik ursprünglich für diese Haltung steht, der FDP, ist nur einer von ihnen.
Bestandsaufnahme
Am 22. September 2013 erlebt die FDP ein Wahldebakel, dessen Wucht noch immer nachwirkt. Zum ersten Mal seit 1949 verpasst sie den Einzug in den Bundestag. Auch in Landtagen und kommunalen Parlamenten finden sich nur noch wenige liberale Parteigänger. Thomas Kliche, Experte für Politische Psychologie und Professor an der Hochschule Magdeburg/Stendal:
"Die FDP wird auch bestraft für ein Versagen, das alle unsere Parteien begangen haben, das aber bei den großen Volksparteien nicht so auffällt. Nämlich das Versagen, sich wirklich Gedanken über die Zukunft dieses Landes gemacht zu haben. Bei den großen Volksparteien fällt das nicht so auf, weil die von diesem und von jenem etwas haben und sich öfters mal streiten, und da hat man den Eindruck: 'Na, da gibt es wenigstens Leute mit Ideen'. Aber wenn dann eine Schlüsselidee einer kleinen Partei so offenkundig scheitert, dann fällt das auf die Partei zurück. Und dann wird deutlich, die haben sich keine Ideen einfallen lassen, wie sollen wir in 20 Jahren leben? Mehr Markt? Das können wir uns doch ins Haar schmieren."
Die gescheiterte "Schlüsselidee", das ist nach Thomas Kliche der Marktliberalismus der Westerwelle-Ära. Dieter Schnaas, Chefreporter und Essayist der WirtschaftsWoche, erkennt ein viel grundsätzlicheres Problem:
"Der Liberalismus hat im Vergleich zu den anderen politischen Angeboten einen entscheidenden Nachteil: Er steht für nichts. Der Konservative bietet einen Rückzug auf Tradition, auf Herkunft an, er bietet ein verlässliches Weltbild an: 'Hier bitte, das kannst du wählen.' Der Sozialdemokrat bietet die Zukunft an, er bietet an, wir wollen gemeinsam, solidarisch einer besseren Welt entgegensehen. Allein der Liberalismus hat den großen Nachteil, dass er dem Wähler gar nichts anbietet. Der Liberalismus gibt dem Menschen einen Stups und sagt: 'Hier hast du deine Freiheit, mit der musst du etwas anfangen. Wir können dir nichts an belastbaren Inhalten anbieten.' Entscheidend ist also: Wie kann man dieses Nicht-Angebot irgendwie politisch attraktiv machen?"
Der Kommunalpolitiker
Friedhelm Boginski:
"Das hat mich schon sehr beeindruckt, also hier im ersten Wahlgang gewählt zu werden, das fand ich schon sehr beeindruckend, trotz des Niedergangs der FDP."
Wache Augen, kräftiger Schnauzer, kahler Schädel, hohe Statur: Das ist Friedhelm Boginski, Mitglied der FDP, Bürgermeister der Stadt Eberswalde in Brandenburg. Im September 2014 mit 64,6 Prozent von den Wählern im Amt bestätigt. Bei der ersten Wahl 2006 war sein Vorsprung noch hauchdünn.
"Mir haben ganz viele gesagt, sie mussten bei 'FDP' den Daumen rauf halten, um bei mir das Kreuz zu machen. Also ich habe ja 25 Jahre de facto als Lehrer gearbeitet, davon 15 Jahre als Schulleiter und erfolgreich. Ich glaube einfach, das war eine gute Ausgangsbasis für die Eberswalder, dass sie gesagt haben: Mit dem wollen wir es mal probieren. Aber das ist schon eine ganz andere Nummer, wenn Sie die damals noch fünftgrößte Stadt Brandenburgs übernehmen als Bürgermeister, mit einer ganz schwachen Hausmacht, drei Mitglieder der FDP, mit einer total schockierten SPD und Linken, die völlig von den Socken waren, dass jetzt auf einmal ein Liberaler hier die Stadt regieren soll - und dazu noch ein desolates Rathaus übernommen. Ja, und dann kommt da so ein Neuer und will natürlich auch was verändern."
Und bekommt acht Jahre später bei der Wiederwahl knapp zwei Drittel aller Stimmen. Irgendetwas muss Friedhelm Boginski also richtig gemacht haben. Er scheint es hinzubekommen, das "Nicht-Angebot" der Liberalen "politisch attraktiv" zu gestalten. Eine solide Haushaltspolitik, keine Kürzungen im Sozial- und Bildungsbereich: das zählt er selbst als erstes auf.
"Punkt zwei habe ich immer gesagt, dass das bürgerschaftliche Engagement, das Mitnehmen der Bürgerinnen und Bürger mir besonders wichtig ist. Und ich glaube, das ist einer der größten Erfolge, die überhaupt in einer brandenburgischen Stadt in den letzten Jahren erzielt wurden. Was wir hier in Eberswalde gemacht haben, dass wir also eine breite Bürgerbeteiligung eingeführt haben, ob das der Bürgerhaushalt ist, ob das Foren sind, bei allen Sachen, Straßenausbaumaßnahmen, immer werden Bürgerversammlungen vorgeschaltet, wird zuerst mit den Bürgern geredet; oder auch mit Kindern und Jugendlichen bei Spielplätzen, was wollt Ihr, wie stellt ihr euch das vor, was ist machbar, wie sehen die Finanzen aus, wie können wir es gemeinsam machen. Und dadurch gibt es auch wesentlich weniger Zoff und Ärger. Also, das war mir schon immer sehr wichtig."
Erst die Stadt, dann das Parteibuch. Das ist sein liberaler Grundgedanke. Das Ergebnis stimmt: Eberswalde hat sich zu einem vitalen Provinzstädtchen entwickelt. Die politische Opposition kann wenig dagegenhalten. Volker Passoke, Boginskis Gegenkandidat von der Linken:
"Na ja gut. Er hat erstmal ein hohes Arbeitspensum, das will man ihm nicht abstreiten, er ist sehr fleißig. Und das zeichnet ihn auch aus eigentlich, dass er die Leute versucht mitzunehmen. Und er ist in der Stadt, wie man es gesehen hat, sehr beliebt."
Ein Neujahrsempfang, zu dem alle Mitbürger eingeladen sind: auch das gehört zu den Neuerungen unter Friedhelm Boginski. Dass die Feier in diesem Jahr ausfallen muss, weil ein schwerer Orkan über dem Nordosten Deutschlands tobt: geschenkt. Der Bürgermeister nimmt sich die Zeit, viele der knapp einhundert Gäste, die dennoch zum Veranstaltungsort gekommen sind, persönlich zu begrüßen.
Reden, zuhören, Vorschläge machen, sich den Realitäten anpassen: Auch zu DDR-Zeiten ging Friedhelm Boginski Kompromisse ein. Er war Geschichtslehrer, der Westen der Klassenfeind und die eigene Regierung kompromisslos.
Boginski:
"86/87 gab es eine klare Anweisung, Kinder, die religiös gebunden waren, dürfen nicht in Pionier- und FDJ-Leitung rein. Da war 'ne klare Ansage an die Eltern und an die Schüler: Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß, ich weiß nichts von Euren religiösen Bindungen. 'Sophie: Du bist jetzt mein Schriftführer und Silke, du machst hier Vorsitzender', und dann ist gut, anderes weiß ich nicht. Und so 'ne Sachen, die hat man einfach gemacht. Also ich selber würde es nicht als liberales Denken definieren, aber ich glaube schon, dass ich dort so ein ähnliches hatte."
Nach dem Ende der DDR leitete er eine Realschule, Politiker wurde Friedhelm Boginski erst spät, im Jahr 2003. Parteiübergreifend Bündnisse schmieden, Lösungen finden: Das treibt ihn an. Dabei beruft er sich auch auf die klassischen bürgerlich-liberalen Tugenden: Freiheit und Eigenverantwortung:
"Diese Frage der Freiheit, die können wir gar nicht mehr schätzen in Deutschland. Ich staune zwar immer wieder, weil gerade meine Generation in der DDR sehr viel erlebt hat, aber mich betrübt so ein Ruf nach mehr Staat. Weil: ich finde diese Regelwut nimmt ja enorm zu. Ich habe das immer so als Schulleiter gemacht: Als ich 1991 angefangen habe, da hatte ich so einen kleinen Hefter, ich glaube, da waren 15 Seiten drin. Mit Vorschriften, wie man eine Schule zu leiten hat.
Als ich aufgehört habe, hatte ich 15 Novellierungen des Schulgesetzes, ich hatte eine ganze Schrankwand voll Akten, wo genau drinsteht, was man darf, was man nicht darf. Man hat also die Schulen in ein Korsett gepresst, das kaum noch Freiräume offen gelassen hat. Und ich glaube einfach: Wenn man mehr Selbständigkeit zulässt, wird man viel mehr Kreativität ernten."
Wer mit guten Vorschlägen kommt, die Geld kosten, dem sagt er: "Hole Sponsoren, dann ist die Stadt mit dabei." So funktioniert Eigenverantwortung à la Boginski. Seitdem finden in Eberswalde regelmäßig ein Filmfest und weitere kleine Kulturereignisse statt.
Friedhelm Boginski macht erfolgreiche Politik. 64,6 Prozent der Wähler haben es ihm zuletzt bestätigt. Ein Ergebnis, von dem die FDP auf Bundes- oder Landesebene noch nicht einmal träumen kann. Hat sich denn die Parteispitze schon einmal bei ihm gemeldet?
"Kein Kontakt. Null. Ich weiß gar nicht, ob die zur Kenntnis genommen haben, dass es hier in Eberswalde einen liberalen Bürgermeister gibt. Weiß ich nicht."
Seitdem die FDP 2013 aus dem Bundestag geflogen ist, entdeckt die politische Konkurrenz ihr liberales Herz. Spitzenpolitiker von SPD und Bündnis 90/Die Grünen reklamieren das liberale Erbe für sich und ihre Parteien. In Grundsatzdebatten wollen sie eine Antwort finden auf die Kernfrage des Liberalismus: So viel Freiheit wie möglich, so wenig Staat wie nötig – wie passt das zusammen? Dieter Schnaas, Chefreporter der "WirtschaftsWoche", schreibt dazu regelmäßig Essays.
"Sobald Alternativlosigkeit oder systemische Zwänge von der linken wie von der rechten Seite für sich reklamiert werden, dass diese übermächtig seien, ist es geradezu Aufgabe einer Partei, die die Freiheit ernst nimmt, darauf zu beharren und zu sagen: "Nein. Es gibt die Entscheidungsfreiheit der Menschen, irgendetwas an irgendetwas zu ändern."
Was die Menschen zu Recht kaum noch ertragen können, ist die große Diskrepanz zwischen der Beschwörung des großen Ideals der Freiheit und dem Empfinden, dass sie sich doch in einer Welt bewegen, in der sie vielen Zwängen ausgesetzt sind. Die Grünen könnten diese Aufgabe erfüllen, sie bemühen sich ja, ihrerseits eine Idee von grüner Freiheit zu entwickeln, aber sie winden sich doch sehr, weil sie immer nie genau wissen, wie sie bei dem eben beschriebenen Dilemma optieren sollen."
Der Bundespolitiker
Anton Hofreiter:'
"Wir Grünen haben uns im Kern schon immer ganz massiv um das Thema 'Freiheit' gekümmert, wir haben es bloß ganz häufig 'Selbstbestimmung' genannt."
Anton Hofreiter, den bis vor kurzem alle nur "Toni" riefen, ist einer der beiden Fraktionsvorsitzenden von Bündnis90/Die Grünen im Bundestag. Das Auffälligste an ihm sind seine Haare: halblang und blond, wie die von Günter Netzer, damals in den 70ern. Sie geben ihm etwas Rebellisches.
"Das heißt dass wir in unseren Augen schon immer die Partei der Freiheit waren, weil: Es ist ein Begriff, der schon sehr lange zu unserer Geschichte gehört, und das muss man jetzt auch mal so richtig, richtig deutlich machen."
Gleich nach der Bundestagswahl 2013 veröffentlicht Anton Hofreiter einen Gastbeitrag in der Wochenzeitung "Die ZEIT". Titel: "Warum die Grünen die Partei der Freiheit sind".
"Wenn Sie an bestimmte Länder denken wie Österreich, die Niederlande, da wird der Freiheitsbegriff missbraucht von rechtspopulistischen Organisationen, um ihn genau gegen die Freiheit zu wenden. Und deshalb haben wir auch aus diesem Grund gesagt: "Nein, nicht nur 'Selbstbestimmung', sondern wir gehen offensiv dazu über, den Freiheitsbegriff progressiv zu prägen, damit dieser wunderschöne Begriff – Freiheit ist ja was richtig Schönes, das ist einer der Haupttriebkräfte, warum man Politik macht, dass man in einem freien Land leben kann – dass dieser wunderschöne Begriff eben nicht sozusagen missbraucht werden kann von im Kern den Gegnern der Freiheit."
Im September 2014 veranstalten die Bündnisgrünen einen großen Freiheitskongress. Das Signal ist klar: Sie wollen die Deutungshoheit erlangen. Und dem liberalen Bürgertum, dem Milieu enttäuschter FDP-Wähler, eine neue politische Heimat bieten.
Die linksliberale tageszeitung (taz) findet dazu die passende Überschrift: "Die neue Burger-Partei". Eine Anspielung auf die Debatte um den "Veggie-Day": Bündnis 90/Die Grünen hatte im vergangenen Wahlkampf einen fleischfreien Tag für alle Deutschen gefordert, seitdem steckt die Partei in der Verbotsecke fest. Mit dem Freiheitsbegriff ist das nicht wirklich vereinbar.
Hofreiter:
"Das mit dem Veggie-Day war halt schlichtweg auch ein Fehler. Es darf jeder nach seiner Facon entscheiden, ob er Fleisch isst. Aber derjenige, der das Fleisch produziert, darf nicht nach seiner Facon entscheiden, dass er Antibiotika-resistente Keime produziert, er darf nicht nach seiner Facon entscheiden, dass er dabei massenhaft Tiere quält. Das Gleiche ist mit dem SUV-Fahren: Wenn Sie einen SUV fahren, der so viel Diesel oder Benzin verbraucht, dass Sie da eine Klimakrise auslösen, die woanders Menschen tötet, entscheide ich das halt auch nimmer frei. Sie können sozusagen Auto fahren wie Sie wollen, aber die Autoindustrie hat verdammt noch mal Autos zu produzieren, das nicht unsere Lebensgrundlagen zerstört."
Lassen sich Liberalismus und Ökologie überhaupt vereinbaren? Eine Antwort auf diese Frage können auch die Bündnisgrünen nicht geben. Auf ihrem Kongress haben sie immerhin beschlossen, künftig nicht mehr gleich nach Verboten zu rufen, wenn der Freiheitsbegriff zu egoistisch ausgelegt wird. Werden sich nun die Veggie-Apostel mit den grünen Porschefahrern versöhnen? Dieter Schnaas ist skeptisch:
"Die Grünen wissen selbstverständlich, dass das ein kommunikatives Desaster war, aber ich bin mir manchmal nicht genau sicher, ob sie auch wissen, ob es tatsächlich auch ein inhaltliches Desaster war. Die Grünen möchten weiterhin die besseren Menschen sein."
Hofreiter:
"Ja selbstverständlich, das sollte ein Antrieb für jeden sein, der in der Politik Verantwortung übernimmt, dass er versucht, die Welt zum Besseren zu verändern. Zum umfassenden Freiheitsbegriff gehört dazu, dass wir auch ein Sozialsystem haben, das allen Menschen eine gleichberechtigte Teilnahme an der Gesellschaft ermöglicht. Dass wir ein ökonomisches System haben, dass nicht die starken und mächtigen Player die schwächeren erdrücken können. Die Freiheit des einen endet da, wo er die Freiheit des anderen einschränkt, und dafür sind Regeln notwendig, Regeln, die der demokratisch geprägte Rechtsstaat setzen muss."

Anton Hofreiter, Fraktionsvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag, spricht auf dem Bundesparteitag von Bündnis 90/Die Grünen in Hamburg.
Anton Hofreiter, Fraktionsvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen© Christian Charisius, dpa
Doch genau hier scheiden sich viele liberale Geister. Der Staat ist dazu da, seine Bürger zu schützen. Klar. Vor der Bedrohung der ökologischen Lebensgrundlagen, der Entmündigung der Verbraucher, der Übermacht von Konzernen und Banken. Aber wie weit darf er dabei gehen? Und wovon sollte er besser die Finger lassen?
553 Gesetze hat der Bundestag in der 17. Wahlperiode von 2009 bis 2013 verabschiedet. Anton Hofreiter plädiert für einen starken Staat:
"Regeln sind bei uns Gesetze, die werden im Parlament gemacht, und deshalb ist es wichtig, dass Menschen, die ganz stark auf Bürgerrechte und Selbstbestimmung setzen, auch im Parlament vertreten sind. Nach dem Wegfall der FDP ist es durchaus so, dass das nur noch die Grünen sind."
Schnaas:
"Dem Liberalismus kommt, weil er inhaltlich von Prinzip aus leer ist, kommt geradezu zwingend die Aufgabe zu, eine Wächterfunktion wahrzunehmen. Und das ist das Problem in der Großen Koalition: Wer nimmt diese Wächterfunktion wahr? Bei einer Opposition, die erstens klein ist und zweitens einem links-kulturellen Milieu entspringt."
Der Liberale ist im besten Fall ein Spielverderber. Er stellt ideologische Masterpläne in Frage. Das war auch die Rolle der FDP, bevor sie 2009 an die Regierung kam und vier Jahre später aus dem Bundestag flog. Sie war das parlamentarische Korrektiv, nicht umsonst galt Sabine Leutheusser-Schnarrenberger vielen als Jeanne d'Arc der Bürgerrechte. Und nun?
Der Verfassungsrichter
Starostik:
"Es ist eigentlich immer mein Thema gewesen, die Ohnmächtigen gegen die Mächtigen zu vertreten. Den einzelnen gegen solche übermächtige Machtstrukturen zu vertreten."
Auf die äußerlichen Attribute eines erfolgreichen Anwalts verzichtet er. Statt teurer Maßanzüge trägt er offenes Hemd und Fleece-Pulli. Nicht immer, aber oft. Meinhard Starostik, seit 2012 Richter am Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin.
Zwei Jahre zuvor wird er bekannt durch die größte Verfassungsbeschwerde aller Zeiten. Er prozessiert gegen das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung. Im Auftrag von 35.000 Menschen reicht Meinhard Starostik eine Sammelklage ein. Mit Erfolg. Das Bundesverfassungsgericht urteilt 2010: die anlasslose Speicherung praktisch sämtlicher Daten von Festnetz-, Mobiltelefon- und Email-Verbindungen verstößt gegen das Grundrecht, Artikel 10 Absatz 1.
"Es war ja auch bei dieser Sammelklage so, dass nicht nur die Grünen das unterstützt haben, sondern auch der bürgerrechtsliberale Teil in der FDP. Und ich finde es wichtig, wenn man ein so ein Thema hat, auf das man sich fokussiert, dann soll man den Parteienstreit hintanstellen und sich um das Thema kümmern.
Und dann ist es in der Tat so, dass eine 'Grassroots'-Bewegung, für die wir Deutschen ja so berühmt sind weltweit, dass die auch sehr mächtig werden kann. Und das ist in dem Fall geschehen, wobei das Bundesverfassungsgericht nicht wegen der Zahl der Beschwerdeführer so entschieden hat, sondern weil es sich mit den Argumenten auseinandergesetzt hat."
Auch wenn die EU-Kommission derzeit keine neue Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung plant: Nach dem Terroranschlag von Paris ist das Thema auf die politische Agenda zurückgekehrt. Den Berliner Verfassungsrichter wundert es nicht:
"Nach dem Urteil ist vor dem Urteil, und es wird weitergehen, weil: Das ist zumindest in Deutschland ein Thema, an dem man auch eine Sau durchs Dorf treiben kann. An dem die Parteien sich wirklich profilieren. Die einen schreien Sicherheit, die anderen schreien Freiheit, und der Bürger weiß letztlich nicht, wofür er sich entscheiden soll. Und wir haben natürlich immer solche Terrorakte als Aufhänger dafür, mehr Sicherheit durch mehr Überwachung zu fordern."
Im Großen und Ganzen ist Meinhard Starostik zufrieden mit den Bürgerrechten. "Nennen Sie mir zwanzig Länder, in denen wir den gleichen Level an persönlichen Freiheiten haben" wie in der Bundesrepublik, sagt er. Eine große Sorge treibt ihn dennoch um:
"Dass die technische Revolution des Internets, die ja unser aller Leben völlig umgestaltet, dass die eben auch dazu führt, dass alte Überwachungswahnvorstellungen bei Hoheitsorganen und komischerweise auch bei Riesenkonzernen hochkommen und uns tatsächlich bedrohen in unserer Freiheit. Facebook kann unser Verhalten vorhersagen aufgrund der Algorithmen, die sie haben aufgrund der Daten, die wir dort lassen. Und insofern sind wir eigentlich nicht mehr frei, wenn man uns in die Richtung steuern kann, die man bei uns vorhersieht. Also ich sehe die größten Gefahren für die persönliche Freiheit darin, dass wir hinter unserem Rücken überwacht, ausspioniert und manipuliert werden können."
Hier sei der Staat gefragt, sagt Meinhard Starostik. Und die Bürger, die möglichst zahlreich für ihre Rechte eintreten und dadurch auf den Gesetzgeber Druck ausüben. Seit 2006 tun sie das auch. Regelmäßig demonstrieren sie für Datenschutz und gegen staatliche Überwachung. Motto: Freedom not Fear – Freiheit statt Angst. 2008 nahmen an der Großdemonstration in Berlin mehrere Zehntausend Menschen teil, im vergangenen Jahr nur noch etwas mehr als 5000. Unter ihnen auch der Verfassungsrichter aus Berlin. Er blickt zurück auf die 60er-Jahre:
"Schauen Sie, das war eine Zeit, in der wir gerade erst die Freiheiten, die unsere Kinder heute als selbstverständlich hinnehmen, alle noch erkämpfen mussten. Vor allen Dingen im Bereich der sexuellen Selbstverwirklichung war ja damals alles noch verkrustet, und heute guckt kein Mensch mehr danach.
Als ich anfing zu studieren, war die Homosexualität unter erwachsenen Männern noch ein Verbrechen. Heute ist es ein Freiheitsrecht. In der Berliner Landesverfassung, im Grundgesetz und auch in der Europäischen Grundrechtecharta. Das geht nicht schnell in der Juristerei, aber es geht. Auch weil der soziale Druck da ist."
Wie ein roter Faden zieht sich der Datenschutz durch die Biografie Meinhard Starostiks. Dazu die Erkenntnis, wie wichtig es ist, dass die Bürger um ihre Rechte selbst kämpfen statt sich allein auf Parteiparolen zu verlassen, die vorgeben, liberale Positionen zu vertreten.
"Deswegen bin ich der Meinung: Es kommt eher darauf an, dass man liberale Fürsprecher in den einzelnen Parteien hat, als zu sagen, wir brauchen eine liberale Kraft als Partei. Mir wäre lieber: das ist ein Grundkonsens der Gesellschaft."
Zwischenrufe
Liberalismus als Grundkonsens der Gesellschaft? Ein hoher Anspruch. Liberal sein als Ausdruck von Mut, Dynamik, Fortschrittsgeist? Der liberale Bürger, der im Kampf für die Modernisierung der Gesellschaft und die Verteidigung von Minderheitenrechten notfalls auch gegen den Strom schwimmt, hat es in Zeiten wie diesen schwer. Die Politik der Großen Koalition wirkt auf die Menschen wie Weichspüler. Kontroverse Debatten darüber, was für unser Land gut oder schlecht ist, finden kaum mehr statt. Meint Thomas Kliche, Experte für Politische Psychologie von der Hochschule Magdeburg/Stendal.
"Die meisten Menschen betrachten Politik ja inzwischen als so eine Art Konsumgut. Wenn es Spaß macht, guckt man mal hin, und dann nimmt man so ein Paket Partei aus dem Schrank, und wenn es schmeckt, dann ist es okay, vielleicht geht man mal wieder hin, wenn es schön bunt verpackt wird, aber wenn es nicht schmeckt, schmeißt man es weg und bleibt zuhause.
Immer mehr Menschen bleiben zuhause, aber nicht aus Zufriedenheit oder Engagement oder Verantwortlichkeit, sondern aus Überdruss, Desorientierung und auch, weil es eigentlich eine angenehme Art ist, mit Politik klarzukommen. Man delegiert die Verantwortung an die politischen Spitzen. Das ist natürlich eine Haltung, die mit einem verantwortlichen demokratischen Prozess schwer vereinbar ist."
"Der Zeitgeist ist geprägt von neuer Staatsgläubigkeit und Entmündigung der Bürger." Der Satz stammt aus dem Mund von FDP-Parteichef Christian Lindner. Er bestätigt damit die etwas überspitzte These, Deutschland sei mehr und mehr von Angst-Bürgern besetzt, die lieber der Obrigkeit ein Stück ihrer Freiheit und damit ihrer Verantwortung übertragen, weil sie damit hoffen, unbeschadet aus den Krisen herauszukommen.
Boginski:
"Ja, stelle ich auch mit Erschrecken fest, finde ich, …"
meint Friedhelm Boginski, der Bürgermeister von Eberswalde mit FDP-Parteibuch,
"… gerade bei dieser mittleren Generation, die 30 bis 45 oder 25 bis 45, stelle ich fest, dass man sehr stark auf sich selbst fokussiert ist, dass man mit Politik eigentlich gar nichts zu tun haben will. Und was dieses Desinteresse macht, sehen wir mit der Pegida, wobei ich noch mal deutlich sage: Ich verurteile nicht alle Menschen, die da mitlaufen. Weil ich glaube, dass da viele Menschen Ängste haben, aber auch viele Menschen unwissend sind. Und das ist jetzt eine Aufgabe des Staates, und da reicht es nicht, wenn Mutti sagt, 'das brauchen wir nicht' oder so, sondern ich glaube, da ist 'ne ganz andere Grundsatzdiskussion gefordert."
Zum Beispiel zu der Frage: Wie viel Bildung, wie viel Aufklärung braucht das Land? Wer freiheitliches Denken fördern will, müsste sich für eine zukunftsweisende Bildungspolitik einsetzen. "Gute öffentliche Institutionen sind die Infrastruktur der Freiheit der Einzelnen." Der Satz stammt aus der Feder von Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter. Freiheit kostet, möchte man da ergänzen.
"Na ja, was heißt da: Freiheit kostet. Natürlich ist es so, dass gute Schulen Geld kosten und dass gute Polizei Geld kostet, gute Institutionen der öffentlichen Hand, des Staates kosten selbstverständlich Geld, aber sie sind nicht deshalb teurer, weil sie gute Institutionen eines freiheitlichen Staates sind."
Die Gefahr allerdings, dass diese Institutionen den freien Bürger bevormunden, ihn zu einem vermeintlich besseren Menschen machen wollen, ist groß. Findet der Verfassungsrichter Meinhard Starostik:
"Sei es, dass unser Gesundheitsverhalten vernünftiger werden soll, indem man zum Beispiel die Krankenkassenbeiträge erhöht für Leute, die sich nicht risikobewusst verhalten und rauchen, sei es, dass man die Spielsucht bekämpft, indem man alle Spielhöllen abschafft. Und da gibt es zig kleine Beispiele dafür, wo der Staat so auftritt als jemand, der uns als Bürger bessern will. In dem Zusammenhang habe ich ein Zitat des Hochschullehrers und FDP-Politikers Maihofer gefunden, der schrieb – und dieses Zitat habe ich mir wirklich auf die Fahne geschrieben - 'der Staat ist nicht da, uns zu bessern'.
Das ist wirklich der Punkt, an dem ich sage: 'Da fängt der Freiheitsraum an, und da hört der Raum, wo der Staat in mein Leben eingreifen darf, auf', wenn der Staat anfangen will, mich zu bessern, damit ich endlich ein vernünftiger Mensch werde, nein: Ich will das Recht haben, auch unvernünftig zu sein."
Ausblick
Der Liberalismus hat ein Problem: Ihm fehlt das endgültige Ziel, der Punkt am ideologischen Horizont, an dem er sich orientieren kann. Der Liberalismus meint irgendwie alles und nichts. Loriot erfand dafür schon in den 70er-Jahren in einem seiner Sketche eine passende Figur: den FDP-Abgeordneten Claus-Hinrich Wöllner, der mit dem stereotyp vorgetragenen Satz zu vernehmen ist: "Im liberalen Sinne heißt liberal nicht nur liberal."
Und was ist mit den realen Nachfolgern der Kunstfigur Wöllner? Bei der klassischen Sonntagsfrage liegen sie zurzeit bei drei Prozent. Ein neues Logo soll zur Renaissance der Liberalen beitragen. Ohne dass sie sich als solche noch bezeichnen. Den Schriftzug "Die Liberalen" hat die Parteispitze durch "Freie Demokraten" ersetzen lassen. Ein Hoffnungsschimmer. Findet Dieter Schnaas, Chefreporter der WirtschaftsWoche:
"Der Kern dieses neuen Logos, was die FDP auf dem Drei-Königs-Treffen vorgestellt hat, ist ja das Wort 'Freie Demokraten'. Und das Wort 'Demokraten' ist ein Begriff, mit dem die Liberalen eigentlich überhaupt nichts anfangen können. Denn es drückt ja etwas aus: den Rousseauschen Strang unserer Demokratieentwicklung, nämlich den Strang der Volkssouveränität. Es drückt etwas aus, was man im weitesten Sinn den demokratischen Staat nennen könnte. Gegen den wurde ja immer das Individuum in Stellung gebracht – der klassischen liberalen Partei. Wenn es jetzt also so aussieht, dass wir eine FDP erleben, die das Individuum in einem Spannungsverhältnis zum Staat sieht, dann wäre sie aus meiner Sicht schon einen entscheidenden Schritt weiter."
Dennoch ist es momentan schwer vorstellbar, wie die Partei ihren Untergang verhindern kann. Sie ist nicht mehr im Bundestag, sie ist in keiner Landesregierung mehr vertreten, und sie verfügt bundesweit nur noch über 66 Landtagsmandate. Der institutionelle Liberalismus steckt in der größten Krise seiner Geschichte.
Sich für Bürger- und Freiheitsrechte einzusetzen, für Rechtsstaat und Toleranz, bleibt jedoch auch in Zukunft notwendig, gehört weiterhin zu den gesellschaftspolitischen Triebkräften. Liberale Ideen und Werte finden ihren Ort. Eine eigene Partei braucht es dafür vielleicht nicht mehr.
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