Gender und IT

    Wie Programmieren männlich wurde

    Margaret Hamilton, 1986 in ihrem Büro in Cambridge, Massachusetts, mit Unternehmensvizepräsiedent John Schickling.
    Margaret Hamilton, Pionierin der Programmierung. © picture alliance / AP Images / Carol Francavilla
    14.09.2023
    Programmieren - das war zu Beginn ein Job, den vor allem Frauen machten. Lisa ist heute 71 und war eine von ihnen. Bis der "Nerd" geboren wurde. Dies ist die Geschichte, wie Lisa und ihre Kolleginnen weltweit aus dem Beruf verdrängt wurden.
    Es ist das Jahr 1965. Lisa feiert ihren 15. Geburtstag. Es ist ein Jahr des Aufbegehrens: Als die SED im Oktober die Beatmusik verbietet, gehen die Menschen auf die Straße. In den USA protestieren derweil Aktivist*innen gegen weißen Rassismus und Polizeigewalt und Studierende gegen den Krieg in Vietnam. In Westberlin verwüsten Jugendliche nach einem Konzert der Rolling Stones die Waldbühne.

    „Ich wollte die Welt erobern. Ja, ich denke, ich war ein sehr nettes, hübsches, rotzfreches Mädel. So kann man das eigentlich sagen. Selbstbewusst ohne Ende: Mir gehört die Welt.“

    Programmiererin Lisa, heute über 70

    Lisa lebt in Uslar, einer kleinen Stadt in Westdeutschland. Im Bürgerlichen Gesetzbuch steht damals über Ehepaare: „Die Frau führt den Haushalt in eigener Verantwortung. Die Frau ist berechtigt, erwerbstätig zu sein, soweit dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar ist.“ Lisa wächst bei ihrer Mutter auf. Lisas Vater stirbt, als sie zwei Jahre alt ist. Deine Dreistigkeit, so sagt die Mutter immer, die hast du von ihm.
    1965 ist auch das Jahr, in dem Westdeutschland einen neuen Bundestag wählt. Lisa ist noch nicht wahlberechtigt. Trotzdem entgeht ihr nicht, dass bei dieser Wahl zum ersten Mal etwas anders ist. Denn in dieser Wahlnacht kommt ein völlig neues Gerät zum Einsatz: ein Computer. Den ganzen Abend über herrscht Anspannung im Wahlstudio. Kann man dem Computer trauen? Doch am Ende klappt alles. Die Wahlergebnisse stimmen weitgehend mit den Hochrechnungen des Computers überein.

    "Das macht ab jetzt der Computer"

    Im selben Jahr schließ Lisa die Schule ab. Mittlere Reife. Jetzt braucht Lisa einen Job. Sie blättert durch Zeitungen. Sie spricht mit Menschen aus ihrem Umfeld. Doch es gibt ein Hindernis: Fast alle Jobs haben ein Mindestalter von 18 Jahren.

    Für meine Mutter war nur ganz klar, dass ich diese Zeit von unter 16 bis zum Beruf nicht einfach verplempere. Und ihr war es total egal, was ich lerne. Hauptsache was Anständiges.“

    Programmiererin Lisa

    Die Lösung: eine Banklehre. Lisa lernt, wie man Kund*innen bedient. Was ein Wertpapiergeschäft ist. Was ein Kreditpapiergeschäft ist. Sie berechnet Vorschusszinsen. „Und ich fand es absolut langweilig. Das war nicht das, was ich wollte.“
    Eines Tages – Lisa setzt sich gerade hin, um den Vorschusszins zu errechnen – da sagt ihr Chef: „Das brauchst du nicht zu machen. Das macht ab jetzt der Computer.“ Der steht in einer anderen Stadt im Rechenzentrum. Lisa hat ihn noch nie gesehen. Was sie gesehen hat, sind Ausdrucke. Zum Beispiel von Datensätzen. Doch dass der Computer nun aktiv und selbstständig Dinge ausrechnet, das ist für Lisa ein völlig neues Konzept.

     „Und das war die erste Begegnung. Ich hab nie irgendetwas vorher von Computern gehört und mich dafür interessiert. Es war einfach diese Faszination, dass eine Maschine etwas viel besser kann als ich.“

    Programmiererin Lisa

    Und, so denkt Lisa weiter: Irgendjemand muss dem Computer gesagt haben, was er machen soll. „Das war eigentlich für mich das Schlüsselerlebnis: Dass irgendjemand so etwas programmiert hat, dass ich faule Socke das nicht mehr rechnen muss. Das fand ich genial.“ Ab diesem Moment ist in Lisas Kopf ein Wunsch: Sie möchte Programmiererin werden. Zwar hatte sie keine Vorstellung, was genau man damit machen kann. Aber es schien ihr, als könne man alles damit machen.
    Lisa macht sich schlau: Eine Umschulung zur Programmiererin bezahlt das Arbeitsamt. Allerdings erst, wenn man mindestens drei Jahre gearbeitet hat. Sie muss also erst ihre Lehre beenden und dann noch drei Jahre arbeiten. Lisa beschließt durchzuziehen. Und tatsächlich: Irgendwann ist die langweilige Banklehre geschafft. Lisa feiert ihren 18. Geburtstag, sie zieht bei ihrer Mutter aus, sie geht in die nächstgrößere Stadt.

    Eine Frau programmierte den Mond-Computer

    Am 21. Juli 1969 sitzt Lisa vor dem Fernseher. Der WDR überträgt live die Mondlandung. An Bord der Apollo 11: drei Astronauten, ein Computer. Lisa ist begeistert. Aus heutiger Perspektive ist die Rechenleistung des Computers bescheiden. Heute kann jedes beliebige Handy mehr. Und zwar millionenfach.
    Was im Fernsehen damals nicht erwähnt wird: Programmiert wurde der Computer von Margaret Hamilton und ihrem Team. Margaret Hamilton ist Programmiererin, so wie Lisa eine werden will. Es gibt ein Foto von ihr neben einem Papierstapel, der so groß ist wie sie selbst. Es ist das ausgedruckte Computerprogramm der Mondlandung.
    Zum Zeitpunkt der Mondlandung hat Lisa noch immer keinen Computer gesehen. Doch ihr Ziel hat sie nicht aus den Augen verloren: Programmiererin werden. Als die drei Berufsjahre bei der Bank fast vorbei sind, stolpert Lisa über ein Inserat: Personen gesucht zur Ausbildung zum Programmierer. Lisa bewirbt sich und wird sofort genommen. Als sie der Mutter davon erzählt, kann die sich unter einem Computer nichts vorstellen und nicht verstehen, dass ihre Tochter als Bankkauffrau aufhören und so etwas anfangen möchte. „Aber als ich der dann gesagt habe, was ich da verdiene - da hat sie gesagt: Oh! Und dann war das Thema erledigt.“
    Das Angebot ist phänomenal: Schon während der Ausbildung bekommt Lisa mehr Geld als bei der Bank. Und nach bestandener Prüfung winkt eine garantierte Übernahme und noch mehr Gehalt. Ausgebildet werden sollen drei Frauen und vier Männer. Lisa fühlt sich sehr willkommen. Dass sie eine Frau ist, ist zu keinem Zeitpunkt Nachteil oder auch nur Thema.

    „Also für mich war das das große Los. Es war wirklich unglaublich. Das war wie sechs Richtige im Lotto, und das war es auch.“

    Lisa über ihre Anfangszeit als Programmiererin

    Zum ersten Mal in ihrem Leben, sieht Lisa einen Computer, in einer riesigen Halle voller Geräte. Vor ihr steht ein großer Kasten – mehrere Meter breit, mehrere Meter hoch. Der Lehrer nimmt einen Karteikasten. "Das ist das Computerprogramm." Darin stecken Hunderte von Karten. Eine hinter der anderen. Er nimmt eine Karte heraus, lässt sie herumgehen. In die Karte gestanzt sind lauter kleine Löcher. "Jede Karte ist ein Befehl."  Vorsichtig nimmt er den Kartenstapel und legt ihn auf den Lochkartenleser. Dann drückt er einen Knopf und die Karten werden eingesaugt.

    Geschichte des Internets: Wo sind all die Frauen hin?

    USA, 1994. Janet Abbate sitzt in Philadelphia, Pennsylvania an ihrem Schreibtisch und recherchiert. Mit Anfang Zwanzig hat sie einen ähnlichen Weg beschritten wie Lisa und als Programmiererin gearbeitet. Mitte der Achtziger steigt sie aus, geht an die Uni und schreibt einige Jahre später ihre Doktorarbeit. Es geht um die Erfindung des Internets. Das Internet ist Anfang der Neunziger noch neu. Weltweit sind gerade mal 20 Millionen Menschen online. Das ist weniger als ein Prozent.
    Janet Abbate schreibt die Geschichte von der Erfindung des Internets. Sie fragt sich: Wer hat dazu beigetragen? Doch nun sitzt sie da und ist verwirrt. Sie hat zahlreiche Bücher gelesen, sie hat Bild-Archive durchstöbert, sie hat in alten Zeitungsbeiträgen recherchiert, um herauszufinden wie das mit dem Internet losgegangen ist.
    Sie stolpert über keine einzige Programmiererin. Nirgendwo. Das wundert Janet Abbate. Sie hat ja selbst in der Programmierung gearbeitet und erinnert sich an viele Kolleginnen. Irgendetwas passt da nicht, denkt sie sich. Und sie beschließt herumzufragen und die Frauen zu suchen.

    “Ich wurde sehr neugierig, als meine persönlichen Erfahrungen nicht mit der Geschichte übereinstimmten. Als ich mit dem Projekt begann, dachte ich irgendwie naiv, dass ich nur ein paar Frauen finden müsste. Und als ich dann anfing, waren es Hunderte von Frauen. Ich war irgendwie überfordert.”

    Jane Abbate, Autorin von "Decoding Gender"

    So viele ehemalige Programmiererinnen. Warum, fragt sich Jante Abbate, kommen sie in der Geschichte nicht vor? Sie packt ihre Sachen und fährt quer durch die USA auf der Suche nach den Geschichten der Programmiererinnen.
    Von den Gesprächen, die Janet Abbate geführt hat, gibt es online Transkripte. Sie sind mit der Unterstützung des IEEE History Center entstanden. Darunter sind auch Interviews mit Frauen, die ganz am Anfang in der Programmierung gearbeitet haben. Also in einer Zeit noch vor Janet Abbate und Lisa. In den Vierzigern und Fünfzigern.
    Eine der interviewten Frauen, Fran Allen, zeigt Janet Abbate eine Broschüre der IBM aus dem Jahr 1957. Auf der Broschüre sind Blumen abgebildet. Darüber steht in dicken Lettern: „My fair ladies“. Die Broschüre zeigt wie gezielt damals Frauen als Programmiererinnen angeworben wurden. Und 1967 steht in der Cosmopolitan: „Programmieren ist wie Kochen. Man muss sorgfältig sein und vorausplanen, damit alles rechtzeitig fertig wird. Frauen sind Naturtalente.“

     „Ich hatte in der Zeitung geschaut. Und da hab ich eine Anzeige für einen Computerjob gesehen. Und ich wusste überhaupt nicht was ein Computer ist. Also bin ich in die Bücherei gegangen und hab erst mal recherchiert und geschaut, was ist ein Computer? Ich hab zwei Tage dafür gebraucht um das zu verstehen.“

    Mary Berners-Lee, war Mitglied des Programmierteams für den Computer, der 1951 als erster der Welt in den Handel kam: der Ferranti Mark I.

    Die ehemaligen Programmiererinnen zeigen sich in den Interviews überrascht davon, dass vier Jahrzehnte später Programmieren als angesehene Tätigkeit gilt, die überwiegend von Männern ausgeführt wird. „Niemals hätten wir gedacht, dass die Computerprogrammierung mal ein Männerjob wird. Niemals“, sagt etwa Paula Hawthron, US-amerikanische Computerwissenschaftlerin. Sie gilt als Expertin und Pionierin auf dem Gebiet der Datenbanksysteme.

    Programmieren: Kein Job für weiße Männer

    In der Programmierung arbeiten am Anfang vor allem Menschen, die auf dem Arbeitsmarkt weniger Chancen haben, weil sie von Diskriminierung betroffen sind. Wer nicht in der Programmierung arbeitet? All jene, die auf dem Arbeitsmarkt als wertvoll gelten. Als angesehen. Als professionell. Also: Weiße Männer aus der Mittelschicht.
    Warum sind also heute genau diese Männer an der Spitze der Tech-Unternehmen? Wie wurde die Programmierung von einer feminisierten und nicht sehr angesehenen Tätigkeit zu einer Profession, die hochangesehen ist und überwiegend von Männer ausgeführt wird?
    In den Sechzigern können die Computer noch nicht viel. Sie sind klobig und groß, haben wenig Rechenleistung und es gibt noch kein Internet. Aber dass in ihnen viel Potenzial steckt, lässt sich bereits erahnen. So prophezeit 1964 der Science-Fiction Autor Arthur C. Clarke in einer Sendung der BBC die Zukunft der Computer. Mit Zukunft meint er das Jahr 2000.

    „Diese Dinge werden eine Welt ermöglichen, in der wir sofort miteinander in Kontakt treten können - wo auch immer wir uns befinden mögen. In der wir mit unseren Freunden überall auf der Erde Kontakt aufnehmen können - auch wenn wir ihren tatsächlichen Aufenthaltsort nicht kennen. In diesem Zeitalter - vielleicht erst in 50 Jahren - wird es möglich sein, dass ein Mann seine Geschäfte von Haiti oder Bali aus führt, genauso wie von London aus. Wenn diese Zeit gekommen ist, wird die ganze Welt auf einen Punkt geschrumpft sein, denn die Menschen werden nicht mehr pendeln, sondern kommunizieren. Sie werden nicht mehr geschäftlich reisen müssen, sondern nur noch zum Vergnügen.“

    Science-Fiction-Autor Arthur C. Clarke, 1964

    Arthur C. Clarke imaginiert hier Social Media, Homeoffice, Roboterchirurgie und digitale Nomaden. Und auch wenn das damals noch ferne Zukunft ist, ist bereits klar: Es gibt kein Zurück. Die Computer werden bleiben. Immer mehr Unternehmen haben nun einen eigenen. Und Programmierer*innen werden plötzlich händeringend gesucht.

    Programmieren: Ein Berufsfeld für alle

    Die Programmierung entwickelt sich zu einem Berufsfeld, das weder weiblich ist, noch männlich. Weder abgewertet, noch hochangesehen. Weder für Ungelernte, noch für Profis. Das Berufsfeld Programmierung steht weit offen - für alle. Das ehemalige Model arbeitet neben dem Ingenieur oder der umgeschulten Sekretärin. Unabhängig von Geschlecht und Vorwissen. Eine davon ist Lisa.
    In Westdeutschland gibt es noch kein Informatikstudium. Die Programmierer*innen lernen durch Umschulung und on the job. Es gibt noch kein Studium, keine einheitlichen Standards. Die Programmierung ist noch nicht professionalisiert. Viele privilegierte Männer in der Programmierung fürchten sich vor Statusverlust. Da ist die Angst ersetzbar zu sein, die Angst, dass die eigene Arbeitskraft als einfach und billig angesehen wird. Dass sie abgewertet wird. Aus dieser Angst heraus, schreibt Computerhistoriker Nathan Ensmenger, wird jemand geboren. Er trägt eine Hornbrille, ist schmächtig und schlau. Es ist: der Nerd.

    IT: Der Nerd verdrängt die Frauen

    Der Nerd ist eine Sozialfigur, sagt die Medienwissenschaftlerin Annekathrin Kohout. Typischerweise treten Sozialfiguren in Momenten der Krise auf. Wenn es brennende soziale Fragen gibt, aber noch keine Antworten.
    Mit der Konstruktion des Nerds wird die Geschichte der Programmierung neu erzählt: Der Nerd löscht die bisherige Geschichte von der Programmierung als einfache Routine-Tätigkeit, für die es kein besonderes Können braucht. Er erzählt stattdessen eine andere Geschichte. Eine von Einzigartigkeit, Begabung, Kreativität und Komplexität.
    Der Nerd ist überdurchschnittlich intelligent, sein Gehirn ist einzigartig. Nerdigkeit lässt sich nicht erlernen, entweder man ist ein Nerd oder man ist es nicht. Seit den Achtzigern wurde das Nerd-Narrativ unzählige Male in Popkultur und Medien reproduziert.
    In dem Artikel von Nathan Ensmenger gibt es zwei Infografiken. Eine zeigt die Verbreitung der Nerdfigur in Popkultur und Medien. Eine andere zeigt, wie viele Frauen in der Programmierung eingeschrieben waren. Ensmenger legt nun diese beiden Kurven übereinander. Sie sind gegenläufig. In den Achtzigern erobert der Nerd Popkultur und Medien - und die Frauen steigen plötzlich aus der Programmierung aus.

    „Ich will damit nicht sagen, dass es eine Art männliche Verschwörung gibt, um Frauen aus dem Bereich zu verdrängen. (…) Wenn Männer eine Agenda verfolgen - sei es eine akademische Agenda: Ich will, dass die Informatik als echte Disziplin anerkannt wird, oder ob es eine berufliche Agenda ist: Ich möchte, dass ein Computerprogrammierer genauso respektiert wird wie ein Ingenieur (…) übernehmen sie Strukturen, Einstellungsstrukturen, Berufsstrukturen, Technologien oder Praktiken, die Frauen ausschließen.“

    Computerhistoriker Nathan Ensmenger

    Im Laufe der Professionalisierung schaffen Männer Strukturen, die Frauen ausschließen und marginalisieren. Unbewusst, sagt Nathan Ensmenger.

    Das Stereotyp, von der Frau, die mit Computern nichts anfangen kann

    In dieser Zeit entsteht das Bild des Bro-grammers. Eine Kultur voller Brüder, in der alles Weibliche außen vor ist. Es entsteht das Stereotyp von der Frau, die mit Computern nichts anfangen kann. Die ganz anders denkt, fühlt und handelt als der Nerd. Diese Bild des Andersseins transportiert sich in die Popkultur. Nerd und Frau als Gegensatzpaar. Das wird bis heute so erzählt. Zum Beispiel in der Datingshow "Beauty & The Nerd", produziert von Endemol Shine Germany. Diese Show gibt es inzwischen in 24 Ländern weltweit. Das Prinzip: Schöne Frauen daten schlaue Nerds.
    Währenddessen professionalisiert die Branche. In den USA, in Westdeutschland und in der DDR entsteht der Studiengang Informatik, es entstehen Fachgesellschaften, Berufsverbände. Sie setzten Standards, vereinheitlichen und legitimieren Wissen. Und an den Unis in den USA entsteht eine rege Subkultur. Auch sie prägt das Bild vom Nerd.
    Um Anfang der Siebziger Zugang zu einem Computer zu haben, muss man entweder arbeiten oder studieren. Denn Computer gibt es ausschließlich in den Labs der Uni oder in den Rechenzentren der Unternehmen. An der Uni wird der Computer tagsüber für die Wissenschaft gebraucht. Doch nachts ist er frei. Dann treffen sich die "Midnightprogrammer": Studierende, die sich für Computer interessieren.
    Abends um 21 Uhr betreten sie das Lab und bleiben, bis am nächsten Morgen um 9 die Physikstudierenden kommen. Die Midnightprogrammer sind eine ziemlich homogene Gruppe. Sie sind männlich und weiß. Um wach zu bleiben trinken sie Cola, essen kalte Pizza. Wenn einer am Computer ist, gucken die anderen zu. Immer bereit einzuspringen, sollte jemand mal nicht kommen, denn Computerzeit ist kostbar.

    Midnightprogrammer: Die Netzwerke der Männer

    Als Studenten sind sie frei von ökonomischen Zwängen. Die Midnightprogrammer experimentieren mit Code, sie schreiben lustige Spaßprogramme, sie lernen von und miteinander. Aus dieser Kultur entstehen Netzwerke. Und als später die Personal Computer auf den Markt kommen, haben die Midnightprogrammer bereits einen Wissensvorsprung.
    Der Nerd ist eine Gegenfigur. Sein Gegenüber sind die Unsichtbaren, sind die, die in der Computergeschichte vergessen worden sind, die Frauen vom Anfang der Programmierung. Sie sind alle, er ist der Eine. Ihre Arbeit ist einfach, seine Arbeit ist komplex. Ihr Arbeit ist eine Arbeit „für die man nichts können muss“. Seine Arbeit erfordert Kreativität, mehr noch: Genialität.
    Im Jahr 1980 arbeitet Apple an dem ersten Personal Computer mit Maus und grafischer Benutzeroberfläche. Der Computer heißt: Lisa.
    Die Lisa aus Fleisch und Blut hat inzwischen viel erlebt. Seit dem Tag, an dem sie zum ersten Mal einen Computer gesehen hat, sind 8 Jahre vergangen. Durchprogrammierte Nächte, ambitionierte Projekte: Lisa liebt ihren Job. Doch Anfang der Achtziger spürt sie, wie sich die Branche verändert. Angestellte kommen jetzt mehr und mehr von der Uni und haben Informatik studiert. Mit den Großrechnern kennen sie sich nicht aus. Lisa zeigt ihnen also, wie man einen Dump liest, wo der Locher für die Lochkarten steht, sie zeigt ihnen, wie man in Assembler tricksen kann. „Es gab nie ein Kompetenzproblem. Überhaupt nicht. Kompetenzprobleme gab es erst später.“

    Programmieren: Nur noch mit Studium

    Eines Tages – Lisa trägt gerade ihre Lochkarten ins Rechenzentrum hinüber – kommt sie am Schwarzen Brett vorbei. Dort sieht sie einen Zettel hängen: Darauf steht „Strategie der Zukunft“ und darunter: "Fortan werden Nicht-Akademiker nicht mehr befördert." Lisa kann es erst gar nicht glauben. Doch das ist tatsächlich die neue Firmenpolitik.

    „Es hat mich einfach gekränkt. Ich fühlte mich zurückgesetzt. Ich fühlte mich wirklich diskriminiert. Ich glaube, das ist das einzige Mal, dass ich mich so gefühlt habe. Ich fand das einfach eine Frechheit. Das war die Empörung pur.“

    Programmiererin Lisa

    Eine Zeitlang versucht Lisa einfach weniger zu arbeiten.Von da an hab ich nach acht Stunden meinen Griffel fallen lassen. Und wenn es ein Problem gab, habe ich gesagt: Ich gehe jetzt nach Hause. Also ich habe einfach Dienst nach Vorschrift gemacht und habe überall kundgetan, dass ich diese Geschäftspolitik als unmöglich empfinde.“
    Doch auf Dauer ist das keine Lösung. Die Ungerechtigkeit hinter dieser neuen Politik lässt Lisa einfach nicht los. „Von wegen Nicht-Akademiker keinen Aufstieg zu gewährleisten. Auf die, die sie ihr Leben lang sozusagen gebaut haben und auch hofiert haben und auf einmal sollen die nicht mehr gut genug sein? Also, das hat mich empört bis zum Gehtnichtmehr. Und es war klar: Ich kündige. Ich habe dann ganz, ganz schnell gekündigt.“

    Frauen in der IT: Der Anfang vom Ende

    Noch am selben Tag hat Lisa einen neuen Job. Doch all das ist erst der Anfang. Der Anfang von einem Ende. Denn in den kommenden Jahren steigt Lisa aus der Programmierung aus. Langsam. Schritt für Schritt. Ohne dass sie das jemals bewusst entschieden hätte. Der Ausstieg aus der Programmierung: Er ist ihr passiert, sagt sie.

    „Die Jungs haben ja mit 16 schon programmiert zu Hause. Als es dann die PCs gab. Ich habe meinen ersten PC, glaube ich, irgendwie '81 mir gekauft. Aber da haben die schon lange damit gearbeitet. Und da gab es schon Konflikte. Die fühlten sich auch natürlich mir überlegen. Und sie haben auch eine andere Basiskenntnis über die Technik gehabt.“

    Programmiererin Lisa

    Das ist genau das, was Nathan Ensmenger meint, wenn er sagt: Im Laufe der Professionalisierung wurden Strukturen geschaffen, die Frauen marginalisieren und ausschließen.

    Wie divers ist die Zukunft der IT?

    2023. Die Künstliche Intelligenz GPT 4 generiert selbstständig Code. Auf YouTube ist zu sehen, wie jemand eine Skizze für eine Website auf ein Blatt Papier zeichnet. GPT 4 interpretiert die Skizze und übersetzt sie in Code.Nur ein paar Sekunden später spuckt es eine funktionierende Webseite aus. Könnte es sein, dass in Zukunft künstliche Intelligenzen programmieren? Wie wird sich der Beruf der Programmierung weiter verändern?
    Und überhaupt: Wie ist es heute bestellt um die Branche? Wie steht es um die Frauen, die Unsichtbaren - also um die, die oft vergessen werden? Wie steht es um die Nerds und die Privilegierten? 
    Heute sind für Unternehmen Vielfalt und Diversität wichtig. Denn sie sind sozial erwünscht. Das hat mit den erfolgreichen Kämpfen sozialer Bewegungen zu tun. Darunter MeToo und Black Lives Matter. Heute gibt niemand gerne zu, dass die eigene Belegschaft ein homogenes Grüppchen ist.

    IT-Branche: Bedroht Diversität Status?

    Aber die großen Tech-Unternehmen sind weiterhin voll mit weißen Menschen, wenig divers. Könnte es sein, dass Vielfalt beruflichen Status auch weiterhin bedroht? Weil sie Exklusivität in Frage stellt? Denn wenn alle gleich sind, kann niemand besonders sein.
    Dass Vielfalt sozial gewollt ist, beobachtet auch die Medienwissenschaftlerin Annekathrin Kohout. Sie sagt: Die Figur des Nerds verliert an Relevanz. Das Bild von dem Einen, der schlauer ist, als die anderen, der es Geld und Status bringt, scheint heute unattraktiv und überholt. Dem stimmt der Soziologe Robert Dorschel zu. Er hat hochbezahlte Techworker interviewt. In Berlin und im Silicon Valley. Auch ihnen sind soziale Werte wichtig. Sie sind gegen Diskriminierung, sehnen sich nach Gemeinschaft, Empathie, Gerechtigkeit. Als Frage bleibt: Werden sie für diese Werte einstehen? Auch dann, wenn das bedeutet den exklusiven Status aufzugeben?
    Und die Unsichtbaren? Auch heute ist nicht alle Arbeit in Tech hochangesehene Arbeit. Auch heute gibt es Menschen, die vermeintlich einfache Routinearbeiten machen. Die Unsichtbaren heute: Das sind die vielen Clickworker im globalen Süden. Ausgelagert und ausgebeutet.

    Lisa programmiert wieder

    Und was ist mit Lisa? Heute ist sie 73 Jahre alt. Sie lebt in Kroatien. Seit der Rente wird in Lisas Leben wieder programmiert. Erst waren es die Blumen. Die mussten im Urlaub gegossen werden. Nun gibt es ein System, dass die Regenstunden zählt und je nachdem bewässert. Später kamen die Rollos dazu. Wenn diese Tage die Sonne knallt, gehen sie automatisch runter. Und dann dachte sich Lisa - was soll's - und hat die Heizung auch noch gemacht.
    (luc)

    Quelle: Deutschlandradio, Esther Schelander