Frank Blohm über sein Buch „Geh doch rüber!“

Wie Geschwister, die sich fremd sind

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Menschen auf der Glienicker Brücke am Grenzübergang Potsdam - West-Berlin, aufgenommen am 19.11.1989.
Die Fremdheit zwischen vielen Ost- und Westdeutschen sei auch einer jahrzehntelangen Ignoranz des Westens gegenüber dem Osten geschuldet, so Blohm. © picture alliance / dpa / AFP
Interview: Antje Stiebitz · 28.08.2019
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Schon 1986 hat der Psychoanalytiker Frank Blohm mit seinem Buch „Geh doch rüber!“ den Dialog zwischen Ost und West gesucht. Jetzt, 30 Jahre nach Wende, wird es neu herausgegeben. Noch immer seien sich die Menschen in Ost und West fremd, so Blohm.
Antje Stiebitz: Herr Blohm, Sie sind selbst in Westdeutschland aufgewachsen, doch der Osten hat Sie schon immer angezogen: Ihre Eltern sind aus der DDR in die BRD übergesiedelt, Sie sind dann selbst aber immer wieder in die DDR gefahren und haben dort über mehrere Jahrzehnte mit vielen Menschen gesprochen. Warum, meinen Sie, sollten sich die Menschen im Westen auch 30 Jahre nach dem Mauerfall noch mit der Geschichte und dem Gesellschaftssystem der DDR auseinandersetzen?
Frank Blohm: Das zeigt ja jetzt die Gegenwart. Das ist natürlich weitverbreitet, im Grunde die DDR und jetzt Ostdeutschland als eine lästige Angelegenheit zu betrachten. Da gibt es, glaube ich, schon Stimmen, die sich das am liebsten wieder weg wünschen würden. Wenn vielleicht nicht durch eine Mauer, aber irgendwie. Nach dem Motto: "Die sind ja auch so fremd, jetzt wählen die auch noch rechte Kräfte da". Und obwohl es einerseits Millionen gibt, die von West nach Ost gezogen sind und von Ost nach West – Ost-West ist trotzdem auf eine Weise mehr in den Köpfen denn je, habe ich den Eindruck. Das ist eben auch dieser jahrzehntelangen Ignoranz geschuldet gewissermaßen, des Westens, der den Osten, die DDR, vor allem auch als ein repressives Gebilde betrachtet hat, mit armen Bewohnern.
Stiebitz: Es war aber doch ein repressives Gebilde. Haben Sie das nicht selbst erlebt? Als Sie in den 1980ern die Anthologie "Geh doch rüber!" zusammenstellten und Autoren angefragt und besucht haben, sind Sie ins Visier der Stasi geraten. Sie haben dann ein Pseudonym angenommen und haben Wege gefunden, die Manuskripte zu schmuggeln. Wie haben Sie denn die Ost-West-Gespräche erlebt?
Blohm: Der Dialog war unfrei von vorne bis hinten im Miteinander. Was meine ich damit? Unfrei in einem psychologischen Sinne, nämlich dass es überschattet war, wie Irene Böhme es auch so schön geschrieben hat. Im Kern überschattet durch Schuld und Schamgefühle. Und Neid oder auch die Angst vor dem Neid.

"Die erste Begegnung bringt meist die erste Lüge. Beide tun so, als passiere das normalste der Welt, als sei dieser Besuch ganz selbstverständlich. Manchmal Bemerkungen nebenbei, wie einfach alles sei, wie dumm die Geschicke des Weltgeschehens, die das erschweren, behindern. Beteuerungen darüber, dass man dieses Getrenntsein nicht anerkenne, die Gemeinsamkeit suche, dass sich soeben erweise, wie problemlos das Zusammenfinden sei." – Irene Böhme, Die Mauersegler kommen, in: "Geh doch rüber"

Blohm: Aber das wurde ja auch alles nicht ausgesprochen, das ist ja auch schwierig, das im Dialog miteinander zu klären. Irene Böhme beschreibt, wie das im Grunde sofort mit einer Lüge beginnt, und dass die Wahrheit schwer ist.
Stiebitz: Warum war denn die Wahrheit so schwer auszusprechen? Und was ist das für eine Wahrheit? Oder anders: Worauf gründeten Neid, Schuld und Schamgefühle?

Blohm: DDR, Ost und West, das hatte ein bisschen was wie Geschwister-Konstellation. Man hat gewissermaßen gemeinsame Wurzeln, gemeinsame Vorfahren zumindest. Sieht sich nun aber sehr ungleich behandelt. Von den Eltern sozusagen. Oft war in Ostdeutschland ja auch die Rede davon: Ja, ihr habt es gut gehabt. Ihr habt ja gleich den Marshall-Plan gehabt. Ihr seid gefüttert worden von den Amerikanern, wir dagegen hatten die Sowjets hier und wurden erstmal demontiert und haben erst einmal alles weggeschafft. Wir hatten erstmal viel schlechtere Startbedingungen. Also wie Geschwister, die sich zurückgesetzt fühlen oder privilegiert sind, als die von den Eltern Geliebteren, Bevorzugten.

Der Osten versprach soziale Absicherung

Stiebitz: Aber die Menschen in der DDR haben viele Elemente ihrer Gesellschaftsordnung auch geschätzt, oder?

Blohm: Sie bringen mich jetzt natürlich in Verlegenheit. Ich bin nun mal im Westen geboren – und sich sozusagen über den Osten zu äußern, das ist schon wieder das Problem im Problem. Weil das sofort wieder Gegenkräfte auf den Plan ruft.
Stiebitz: Versuchen Sie es trotzdem einmal?
Blohm: Ich kann nur vermuten. Das hat sich ja oft bezogen auf die sozialen Errungenschaften. Sprich: keine Arbeitslosigkeit, wenig soziale und ökonomische Unterschiede in der Gesellschaft, eine sicheres soziales Leben von der Wiege bis zur Bahre.

Stiebitz: Dinge, die auch im Westen nicht unbemerkt geblieben sind und teilweise durchaus positiv gesehen wurden. Warum bröckelte die DDR dann in dem Moment in ihrem Inneren, als sie im Westen zunehmend Akzeptanz fand?
Blohm: Die DDR musste viele Zugeständnisse machen, um international Anerkennung zu bekommen, dazu gehörte auch mehr Reisefreiheit, mehr Menschenrechte zu beachten und das Ganze hat natürlich auch wiederum dazu geführt, dass sich mehr Unwille artikulieren konnte, mehr Opposition in gewisser Hinsicht, dass es mehr Ausreise-Anträge gab, die vorher gar nicht möglich waren. Es bröckelte tatsächlich auf eine gewisse Weise.
Stiebitz: Trotzdem hat die Neugier West auf Ost – und umgekehrt die Tatsache, dass sich auch viele Ostdeutsche mehr in Richtung Westen orientiert haben, ja nicht dazu geführt, dass sich Stereotype aufgelöst haben, wie zum Beispiel: "der egoistische Westdeutsche", "der soziale Ostdeutsche". Haben Sie die denn bei ihren Reisen in die DDR bestätigt gefunden und würden Sie sagen: Die gelten bis heute?
Blohm: Das nivellierte sich wieder in vielen Begegnungen und das war auch ein Anliegen, das in meinem Buch zu zeigen, dass sich das in der individuellen Begegnung auch sehr bricht und sehr individuell gestaltet. Gerade den Stereotypen auch etwas entgegenzutreten, war damals meine Hauptabsicht und ist es auch heute mit dem Neuerscheinen des Buches.

"Tatsächlich fand er sich nach drei Monaten in Westberlin besser zurecht als ich mich nach drei Jahren. Er hatte kaum eine Wohnung bezogen, da hatte er schon die Kneipe ausfindig gemacht, in der er anschreiben lassen konnte. (…) Wenig später nahm er mich zu einem Buchhändler mit, der ihm Rabatt einräumte; einige Monate danach vermittelte er mir seinen Steuerberater. – Peter Schneider, Robert, in: "Geh doch rüber"

Stiebitz: Das war jetzt eine Geschichte von 1986 – und wenn nicht "Westberlin" darin aufgetaucht wäre: Sie hätte auch von "nach der Wende" stammen können – einschließlich des durchklingenden Erstaunens des Westdeutschen darüber, das "der Ossi" sich im Westen ja ganz gut zurechtfindet. Das wurde letzterem offenbar nicht zugetraut. Seit Ihrem Buch bis heute: Hat sich diese Wahrnehmung verändert?

Blohm: Da gibt es jetzt teilweise die Jüngeren, die in Ostdeutschland geboren sind, nach der Wende. Dadurch, dass sie, wenn sie in den Westen gegangen sind, dass sie darauf gestoßen werden, vielmehr als sie vorher dachten, dass sie als Ostdeutsche behandelt werden - daraus entsteht natürlich wieder ein Abgrenzungsbedürfnis.

"Das alles beweist nur, dass wir befangen sind: ich mit meiner Neigung, Robert auf seine Herkunft aus der DDR festzulegen, er mit der gereizten Abwehr jeder Anspielung auf diese Herkunft." – Peter Schneider, Robert, in: "Geh doch rüber"

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