François Jullien: "Vom Sein zum Leben"

Was Europa von China lernen kann

Cover von Francois Jullien Buch "Vom Sein zum Leben". Im Hintergrudn ist ein chinesischer Kalligraph zu sehen.
François Jullien verfolgt mit seinem Lexikon ein sowohl philosophisches wie politisches Interesse. © Matthes & Seitz / Unsplash Anders Nord
Von Andrea Roedig · 18.10.2018
Nur wer auf Abstand geht, sieht klar. François Jullien wählt den Umweg über China, um Europa zu verstehen. Sein "euro-chinesisches Lexikon des Denkens" ist ein gutes Werkzeug gegen starres Identitätsdenken.
Jedes Denken hat seine blinden Flecken, und um zu erkennen, was sich "hinter seinem Rücken" abspielt, muss es sich umwenden oder, wie François Jullien es nennen würde, "auf Abstand" gehen. Eine ganze "Philosophie des Abstands" motiviert seinen Versuch, Konzepte europäischen und chinesischen Denkens in einer Art Lexikon einander gegenüber zu stellen; im Umweg über China könnte Europa einiges über sich erfahren.

Chinesische Pendants europäischer Philosophie-Begriffe

Die Gefahr ist groß, bei einer solchen Gegenüberstellung in Klischees zu verfallen oder bloße Faksimiles des je schon Bekannten zu erstellen; Jullien, der Sinologe und auch Fachmann für antike europäische Philosophie ist, geht daher sehr behutsam vor. Er stellt 20 großen Konzepten der europäischen Tradition – etwa Kausalität, Wahrheit, Sein – jeweils ein östliches Pendant an die Seite und erfindet damit alternative Begriffe, die die europäische Philosophie hätte entwickeln können, wenn sie östlicher gedacht hätte.
Der "Kausalität" etwa stellt Jullien das Wort "Neigung" gegenüber, denn nicht wodurch etwas verursacht sei, sondern wie eine Situation sich wendet, sei im chinesischen Denken von Bedeutung. Dieser eher strategische Zugang interessiert sich dafür, einen Prozess so zu beeinflussen, zu "neigen", dass – in Kriegstermini gesprochen – die Schlacht schon vor dem Kampf gewonnen ist. Dem europäischen Konzept des "Willens" entspräche nach Jullien ein chinesisches der "Beharrlichkeit", der Suche nach der "Wahrheit" eher ein Entdecken der "Ressourcen", dem europäischen "Sinn" die chinesisch gedachte "Kohärenz". Manche dieser Konzepte wirken erfrischend, manche sind – aus europäischer Sicht – geradezu empörend. Denn dass etwa die von uns so hoch gehaltene Authentizität/Aufrichtigkeit im chinesischen Denken keinen Platz haben soll, oder dass die "Beeinflussung" einer Person dem "Überreden" oder Überzeugen durch Argumente vorgezogen wird, ist für den westlich-demokratisch geschulten Geist erst einmal schwer zu schlucken.

Anders denken lernen

François Jullien verfolgt mit seinem Lexikon ein sowohl philosophisches wie politisches Interesse. Ein Denken mit anderen, weicheren Begriffen könnte aus gewissen Dilemmata der abendländischen Philosophie herausführen und aus einem durch diese Philosophie stark geprägten Identitätsdenken, das sich auf Unterscheidungen, Oppositionen und Ausschlüsse stützt. Chinesisch denken hieße, sich weniger auf Gegensätze als auf Komplementäres zu konzentrieren, nicht Unterschiede zu sehen, sondern: Abstände. "Unterschiede muss man definieren, Abstände erkunden", schreibt Jullien. Politisch gewendet bedeutet das einen anderen Umgang mit kultureller Vielfalt. Es wäre ein Umgang, der Abstand zulässt, ihn aber nicht als Differenz festschreibt, sondern Zwischenräume fruchtbar macht – so wie Jullien es in diesem nicht immer einfachen, aber sehr lesenswerten chinesisch-europäischen Lexikon versucht.

François Jullien: Vom Sein zum Leben. Euro-chinesisches Lexikon des Denkens
Aus dem Französischen von Erwin Landrichter
Berlin, Matthes und Seitz, 2018
340 Seiten, 32,00 Euro

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