Francesca Melandri über "Alle, außer mir"

Die Migranten sind unsere Wahlverwandten

Porträt der italienischen Autorin Francesca Melandri, aufgenommen 2016
In Francesca Melandris Roman steht plötzlich ein Flüchtling aus Äthiopien vor der Tür einer italienischen Lehrerin, der behauptet, ein Verwandter zu sein. © imago/Leemage
Francesca Melandri im Gespräch mit Andrea Gerk · 02.10.2018
Francesca Melandris Roman "Alle außer mir" ist gerade Italiens Exportschlager. Die Autorin dringt darin tief in die koloniale Geschichte des Landes ein und sagt, sie habe etwas Grundlegendes verstanden − den Unterschied zwischen Xenophobie und Rassismus.
Andrea Gerk: Francesca Melandris Roman "Alle, außer mir" ist ein großartiges Familienepos über drei Generationen. Darin entwirft die italienische Bestsellerautorin und Dokumentarfilmerin nicht nur wunderbare Figuren, sie dringt auch tief in die Geschichte Italiens ein, erzählt vom Kolonialismus und Faschismus, von Schuld und Verdrängung, nicht nur, was die Legenden eines Landes betrifft, sondern auch die Legenden innerhalb der Familien. Das Buch ist in Italien, aber auch in anderen Ländern wie hier in Deutschland, ein großer Erfolg, und Francesca Melandri ist hierzulande auf Lesereise, und ich hatte Gelegenheit, mit ihr zu sprechen. Guten Tag, Frau Melandri, schön, dass Sie hier sind!
Francesca Melandri: Guten Morgen, danke für die Einladung!
Gerk: Im italienischen Original heißt Ihr Buch ja "Sangue giusto", das richtige Blut. Welche Ihrer Romanfiguren hat denn das richtige Blut?
Melandri: Richtiges Blut, das existiert eigentlich nicht. Gibt es richtiges oder falsches Blut? Nein, natürlich nicht. Es gibt Blut vielleicht in der Familie, das ist klar, das ist dann in Bezug auf die Familienangehörigen. Aber die Frage ist, wie sehr zählt eben das Blut in einer Beziehung und sogar in einer Liebesbeziehung. Natürlich gibt es da einen anderen Gesichtspunkt und das ist der des Rassismus. Und da, ja, natürlich, da gibt es für Rassisten ein Blut, das mehr oder weniger zählt.

Lesen und hören Sie hier unsere Buchrezension des Romans "Alle außer mir" der italienischen Autorin Francesca Melandri.

Buchcover Francesca Melandri: "Alle, außer mir"
© Klaus Wagenbach Verlag / picture-alliance / dpa / Ullstein
Gerk: Das ganze Buch kreist ja um Rassismus, ich versuche mal kurz zu erzählen, worum es geht. Es beginnt eigentlich damit, dass vor der Tür Ilarias, das ist eine der Hauptfiguren, eines Tages ein junger Äthiopier steht, er hat eigentlich den ganzen Leidensweg eines Flüchtlings hinter sich, er ist politisch verfolgt, über den Sudan, über ein lybisches Gefangenenlager, über das Mittelmeer nach Italien gekommen. Und er steht jetzt vor dieser Wohnung, er spricht fließend Italienisch und hat den Nachnamen dieser Familie in seinem Pass. Und damit wird eigentlich die ganze Geschichte der Familie Attilio Profetis aufgerollt, die viel enger mit der Kolonialgeschichte und dem Faschismus verbunden ist, als alle Figuren wussten. Wie aufgearbeitet ist denn dieses Kapitel der italienischen Geschichte in Italien?
Melandri: Ja, es ist eine Tatsache, dass wir Italiener über den Kolonialismus nicht oft sprechen und wir haben wenig Ideen darüber. Und auch diese Ideen, diese wenigen, sind falsch. Natürlich, wir waren Kolonialisten, aber im Grunde war es bei uns Italienern nicht so schlimm. Im Grunde sind wir liebe Leute, gute Leute – davon sind die Italiener einfach überzeugt. So übel war es nicht in Afrika, wir haben sogar Straßen gebaut. Und somit entziehen wir uns der Verantwortung, aber das sind historische Fakten, seit 40 Jahren wissen wir das. Wir wissen um die Massaker, wir wissen um Senfgas, es war Krieg und das sind ganz normale Dinge, die im Krieg passieren, wenn Besetzungskräfte ein Land besetzen. Also, wir sind nicht besser und nicht schlechter als andere, die kolonialisiert haben.

"In den Familien hat man nie darüber geredet"

Gerk: Wie reagieren denn die Italiener dann auf dieses Buch, wenn Sie ihnen da so einen Spiegel vorhalten?
Melandri: Das Interessante bei allen meinen Lesungen war, da ist immer jemand aufgestanden und hat einfach mitgeteilt, ja, bei mir ist das auch passiert, das war mein Vater oder mein Großvater oder mein Onkel. Und man weiß darüber, natürlich waren wir am afrikanischen Horn, Somalia, Eritrea, Äthiopien. Wir wissen darüber, aber in den Familien hat man nie geredet darüber.
Gerk: Aber das ist ja eigentlich auch ein Buch, "Alle, außer mir", das darum geht, dass eigentlich alle irgendwie ein Doppelleben führen. Also alle leben mit einer Lüge, der Vater hat eine zweite Frau und davor hat er auch schon ein Kind in Äthiopien gezeugt, Ilaria, die Hauptfigur, liebt einen Berlusconi-Politiker und ist aber selbst so ein ganz liberaler, eher linker Mensch. Was macht das mit Menschen und mit Familien, dass sie in so einem Netz von Lügen leben?
Melandri: Also, ich glaube nicht, dass jetzt jede Familie und Familiengeschichte aus Lügen besteht. Aber die meisten Menschen, sagen wir mal so, jede Person ist einzeln in ihrer Art. Das heißt, jeder ist ein Bündel von Ambivalenz, Unsicherheiten, ich beschreibe sie so, wie ich sie sehe, wie sie sind. Es gibt zum Beispiel Leute, die sich schämen, und dann sind sie wieder glücklich. Ich wüsste nicht, wie anders ich die Menschen erzählen könnte und will. Es gibt keinen einzigen Menschen, den ich kenne, der nur eins ist. Er ist immer doppelt.

Mangel an Neugier von westlichen Ländern

Gerk: Und diese Unwissenheit, die die Familienmitglieder untereinander voneinander haben, ist ja auch noch mal was anderes, als das, was wir zum Beispiel von den ehemalig Kolonisierten haben. Das sagt der junge Äthiopier in Ihrem Buch, er sagt, ihr wisst nichts von uns, nicht einmal, wenn ihr hier, also in den Kolonien, gewesen seid. Das ist ja noch mal eine ganz andere Art der Unkenntnis.
Melandri: Ja, es ist eine Unkenntnis, ich würde sogar sagen, ein Mangel an Neugier von uns westlichen Ländern und Völkern, was die anderen Länder betrifft. Und das ist eigentlich ein Produkt, ein Ergebnis aus 500 Jahren Geschichte über die Kolonisierung. Die italienische Kolonisation inskribiert sich im Grunde in diese Geschichte, die eben 500 Jahre alt war. Wir haben ihnen unsere Ökonomie, unsere Kultur aufoktroyiert. Der Kolonisierte muss sich erkundigen und muss mehr wissen über den Kolonisator, weil er das braucht als Überlebensstrategie. Der Kolonisator, der muss nicht alles kennen, und daher wissen wir auch viel weniger darüber. Also, es ist ein asymmetrischer Blick darauf.
Gerk: Dabei haben Sie ja so ein tolles Bild dafür gefunden in dem Roman. Ich fand das bestechend, dass der Äthiopier vor der Tür steht und einen Pass in der Hand hat und eigentlich der Verwandte ist, egal, ob das stimmt oder nicht. Die Afrikaner, sind das unsere Wahlverwandten, die wir ausgewählt haben, die wir da auf dem Mittelmeer ertrinken lassen?
Melandri: Ja, wir sind Wahlverwandte, auch wenn wir es natürlich nicht direkt sind wie dieser Junge. Aber unsere Geschichte sagt es, es gibt ganz klare Beziehungen zwischen den Kontinenten. Und, wie ich schon sagte, der Mangel an Neugier ist natürlich nicht gut. Wir gucken auf die Migranten, die vom Mittelmeer kommen, sie kommen an oder sie ertrinken. Das gucken wir uns an. Aber wir fragen uns nicht, wer waren sie vorher, warum sind sie auf diesem Schiff, warum kommen sie zu uns? Eben, der Blick ist asymmetrisch, und wir schaden uns selber auch, weil wir viel besser verstehen könnten und auch bessere und wirksamere Antworten geben könnten.

Francesca Melandri war zwei Mal in Äthiopien

Gerk: Sie haben ja, wenn ich richtig informiert bin, auch selbst in Äthiopien recherchiert und waren dort. Wie war das, was hatten Sie da für Begegnungen?
Melandri: Ich war zwei Mal in Äthiopien, vor zehn Jahren, 2008, und vor vier Jahren. Und das erste Mal, da habe ich mich mit alten Herren getroffen, alte Partisanen, die gegen Italien gekämpft haben. Das war eine sehr schöne, eine sehr besondere Begegnung, ich bedanke mich bei ihnen sogar in den Danksagungen. Ich war einen ganzen Tag mit einem Herren zusammen und wir haben Kaffee zusammen getrunken und er sagte, wie schön, vor 70 Jahren habe ich gegen deine Leute gekämpft und jetzt bist du bei mir und willst dir meinen Gesichtspunkt anhören. Ja, nach der Messe werde ich das allen erzählen. Also, ich wurde sehr, sehr schön empfangen.
Gerk: Ein Kritiker hier in Deutschland hat über Ihr Buch geschrieben, wer das heutige Italien verstehen will, muss dieses Buch lesen. Haben Sie denn selbst nach der langen Arbeit daran und wo Sie so tief auch in die Geschichte eingedrungen sind das Gefühl, Sie verstehen besser, was jetzt in Italien passiert?
Melandri: Mit Sicherheit habe ich etwas verstanden, was mir vorher nicht klar war. Der Unterschied zwischen Xenophobie und Rassismus. Ich glaube, Xenophobie ist etwas Organisches, kommt von der Natur des Menschen, ist vorprogrammiert, um zu überleben. Das sind instinktive Maßnahmen, die man trifft, das ist ein instinktives Misstrauen gegen das Andersartige. Man muss sich schützen, ich urteile nicht darüber. Das ist eine biologische Strategie zum Überleben, die kann man verändern, durch Kultur zum Beispiel.

"Die Populisten kristallisieren einfach einen Feind heraus"

Rassismus ist etwas ganz anderes. Das ist sozialer Hass und es kommt nicht von der Biologie. Da muss man unterscheiden. Der Rassismus ist die Basis für Propaganda der Populisten, sie kristallisieren einfach einen Feind heraus, es können die Juden sein, es können die Immigrierten sein, das ist eindeutige Propaganda und politische Manipulation. Und wie diese Mentalität entsteht, das erzähle ich auch, und das ist genauso, das ist dasselbe wie damals Mussolini, der die Italiener zum Rassismus erzogen hat, richtig erzogen hat.
Gerk: Wir haben ja in Deutschland auch wieder stark mit rassistischen Ideologien zu tun. In ganz Europa, in der ganzen Welt – macht Ihnen das Angst oder lähmt Sie das oder sind Sie noch optimistisch, dass Europa die Kurve kriegt?
Melandri: Mir persönlich? Ja, ich habe Angst, das beunruhigt mich sehr. Wer sich informiert, der kann nicht die Ruhe bewahren. Der Kampf der Populisten ist natürlich rückwirkend, stellt schwierige Bedingungen, es gibt Kriege durch sie. Aber auf lange Sicht kann man in diesem Sinne die Geschichte nicht aufhalten. Also die Kämpfe der Populisten sind regressiv, aber man kann nicht die Bedingungen der Vergangenheit wiederherstellen, die Geschichte geht woanders hin, in eine andere Richtung. Es gibt einfach eine Überwindung der Nationalstaaten, da geht es hin. Natürlich kann die Schwierigkeiten bekommen, diese Richtung, nämlich durch Kriege oder durch soziale Katastrophen, aber das ist die Richtung, und nicht die regressive der Populisten.
Gerk: Francesca Melandri, vielen Dank, dass Sie hier bei uns waren!
Melandri: Danke für die Einladung!
Gerk: Und danke auch an unsere Übersetzerin, Elettra de Salvo.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Francesca Melandri: "Alle, außer mir"
Aus dem Italienischen von Esther Hansen
Wagenbach Verlag, Berlin 2018
608 Seiten, 26 Euro

Mehr zum Thema