Fotoband "Still here"

Spurensuche zum rätselhaften Tod der Schwester

09:19 Minuten
Ein Mädchen von hinten, das die Arme aussstreckt und die Hände gegen eine Fototapete presst.
In ihrem Bildband "Still here" erzählt Vivian Rutsch die Geschichte ihrer kleinen Schwester. © Vivian Rutsch
Vivian Rutsch im Gespräch mit Andrea Gerk · 25.06.2020
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Kindesmissbrauchsfälle zeigen, wie viele Kinder jahrelang leiden müssen, ohne Hilfe. Vivian Rutsch erzählt in ihrem Fotoband "Still here" die Geschichte ihrer Schwester: sexueller Missbrauch, ein Transgenderprozess, und am Ende ihr Tod – für sie ungeklärt.
Erst vor wenigen Wochen hat ein monströser Fall von Kindesmissbrauch in Münster das Thema wieder massiv in die öffentliche Diskussion gebracht. Es werden höhere Strafen gefordert und schnelleres Eingreifen. Doch zugleich wird deutlich, wie hoch die Dunkelziffer ist, wie viele Kinder jahrelang gequält werden – ohne dass jemand zu Hilfe kommt.
Von einem solchen Fall erzählt die Fotografin Vivian Rutsch in einem ungewöhnlichen Buch: Ihr Bildband "Still here" erzählt mit Fotos, Notizen und amtlichen Dokumenten die Geschichte ihrer eigenen Schwester. Diese Geschichte ist eine traurige, denn Vivian Rutschs Schwester lebt nicht mehr.
Bereits mit 14 Jahren, acht Jahre vor dem Tod ihrer Schwester, habe sie angefangen zu fotografieren – und auch, ihre Schwester fotografisch zu begleiten, erzählt Vivian Rutsch. Sie hat Fotojournalismus und Dokumentarfotografie in Hannover studiert und macht nun ihren Master in Dortmund. Sie und die sechs Jahre Jüngere hätten ein "superenges Verhältnis" gehabt. Sie selbst sei das älteste von insgesamt vier Kindern und einer Halbschwester.

Sexueller Missbrauch als Auslöser für die Veränderung?

Der Bildband zeigt auch den Transgenderprozess, den die später verstorbene Schwester erlebt. "Das hat sich über die Zeit ergeben", sagt Vivian Rutsch. "Irgendwann hat sich ganz langsam herauskristallisiert, dass sie sich in ihrem Körper nicht mehr wohl gefühlt hat und lieber ein Junge sein wollte."
Erst später stellte sich heraus, dass Auslöser für diese "Verwandlung" wohl ein sexueller Missbrauch war.
Der Transgenderprozess sei offenes Diskussionsthema in ihrer Familie gewesen, erklärt Rutsch. Ihre Mutter habe das am kritischsten hinterfragt. Sie habe immer gesagt, "dass meine Schwester früher so viel offener und fröhlicher und selbstbewusster war". Für sie und ihre andere Schwester sei hingegen klar gewesen, dass sie ihre Schwester unterstützen. Sie seien nicht auf die Idee gekommen, dass so ein Auslöser dahinter stecken könnte.

Ungeklärte Fragen zum Tod der Schwester

Mit 17 Jahren ist Vivian Rutschs Schwester ums Leben gekommen. Die Aussage der Behörden, es sei Selbstmord gewesen, hält Vivian Rutsch jedoch für zweifelhaft.
Ein bunt bemalter Sarg in einer Art Gartenlaube mit kleinen weißen Lampions geschmückt. 
In ihrem Buch stellt Vivian Rutsch auch die These der Behörden in Frage, ihre Schwester habe Selbstmord begangen.© Vivian Rutsch
"Meine Schwester ist Anfang März 2018 nicht in der Schule angekommen morgens. Dann gab es relativ schnell eine große Fahndungsaktion." Sie sei dann anderthalb Tage später tot aufgefunden worden. "Da war die Auffindesituation erst mal die, dass sie am Fuß eines Aussichtsturms gefunden wurde. Und für die Polizei relativ schnell klar war, dass sie da heruntergesprungen sein muss." Es habe aber keine Obduktion gegeben. "Das heißt, medizinische Fragen wurden nicht geklärt, die sich uns erst im Nachhinein gestellt haben, als ihr Körper aber schon verbrannt war."

Erinnerungsbuch und Spurensuche

Vivian Rutsch versammelt in dem Buch amtliche Dokumente, ihre persönlichen Reflexionen und sehr suggestive Fotografien. Es sei sowohl ein Erinnerungsbuch als auch eine Spurensuche.
Auf zwei Kinderhänden liegt ein Regenwurm. 
Ihr Buch ist für Vivian Rutsch auch ein Zusammenführen von Puzzleteilen.© Vivian Rutsch
"Es ist zum einen für mich auch das Festhalten der Ereignisse, die für mich so unfassbar waren, dass ich sie für mich selbst dokumentieren musste, um mir im Nachhinein glauben zu können, dass das wirklich gerade passiert ist." Es sei aber auch ein Zusammenführen von verschiedenen Puzzleteilen, um sich einen Überblick zu verschaffen. "Und das auch in einem gesellschaftlichem Kontext zu verorten, wie so etwas in Deutschland überhaupt passieren kann."
(abr)
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