Folgen von Tschernobyl

Die Mutter aller Ausnahmezustände

07:38 Minuten
Das zerstörte Atomkraftwerk in Tschernobyl in der damaligen Sowjetunion, eine Luftaufnahme wenige Tage nach dem Reaktorunglück am 26. April 1986.
Das zerstörte Atomkraftwerk in Tschernobyl in der damaligen Sowjetunion, eine Aufnahme wenige Tage nach dem Unglück am 26. April 1986. © picture alliance / AP Photo / Volodymir Repik
Melanie Arndt im Gespräch mit Dieter Kassel  · 02.04.2020
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Gesundheitsgefahren, Unsicherheit, Angst – viele fühlen sich in der Coronakrise an die Situation nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl erinnert. Wie man damals damit umging, hat die Historikerin Melanie Arndt untersucht.
Dieter Kassel: Die Welt war noch aufgeteilt in Ost und West, und beide deutschen Staaten hielten die sogenannte friedliche Nutzung der Kernenergie für vertretbar und die Risiken für kalkulierbar, als sich im April 1986 in Tschernobyl der GAU, der größte anzunehmende Unfall, ereignete. Melanie Arndt hat im vergangenen Jahr über diese Reaktorkatastrophe ihre Habilitationsschrift geschrieben. Die wird bald in veränderter Form auch als Buch erscheinen unter dem Titel "Tschernobyl-Kinder". Sie ist Professorin für Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte an der Universität Freiburg. Schönen guten Morgen, Frau Arndt!
Melanie Arndt Guten Morgen!
Kassel: Unsere Serie heißt "Ausnahmezustand", Leben im Ausnahmezustand. Wenn man sich überlegt, damals waren die beiden deutschen Staaten, je nachdem, wo man war, so zwischen 1500 und 2000 Kilometer weit weg von Tschernobyl. In welchem Ausnahmezustand hat denn diese Katastrophe damals die Menschen versetzt?
Arndt: Offiziell in der DDR hat es gar keinen Ausnahmezustand gegeben. Dort hat es die Katastrophe gar nicht gegeben. Anders sah es natürlich in der Bundesrepublik aus, wo man sehr schnell alarmiert war und sehr schnell das Gefühl hatte, es herrscht ein Ausnahmezustand, weil es von Seiten der Politik ein großes Chaos gab, die Kompetenzen ungleich verteilt waren oder gar nicht gut verteilt waren und es sehr unterschiedliche Reaktionen gab, die man auch heute sehen kann. Bestimmte Länder haben unterschiedliche Bestimmungen erlassen. In manchen Bundesländern durfte man auf den Spielplatz, in anderen Bundesländern hat es (...) die Bevölkerung tatsächlich verschärft.

Diskussionen, aber keine Handlungsanweisungen

Kassel: Wo Sie jetzt gerade schon über dieses Chaos oder die großen Unterschiede, nicht nur zwischen Ost und West, sondern im Westen, auch zwischen den Bundesländern gesprochen haben – welche Rolle spielten damals eigentlich die Experten?
Arndt: Sie spielten damals eine sehr ambivalente Rolle, zum Teil, weil sie selbst überfordert waren. Die Wirkung von Radioaktivität auf den menschlichen Organismus ist umstritten, auch heute noch. Das betrifft besonders die Einschätzung, ab wann radioaktive Strahlung tatsächlich schädlich ist, wann sie Schaden anrichtet. Mit diesen komplexen Diskussionen der Experten war die Bevölkerung aber völlig überfordert. Sie wollte gar keine konträren Diskussionen, ab wann jetzt Strahlung schädlich ist und die unterschiedlichen Meinungen dazu hören, sondern sie wollten ganz klare Handlungsanweisungen. Die gab es aber nicht.
Auf politischer Ebene war die Verknüpfung von Expertentum und Politik vielleicht weniger sichtbar für die Öffentlichkeit, als das heute der Fall ist, wo der Gesundheitsminister ja zusammen mit einem Virologen eine Pressekonferenz abhält. Doch natürlich gab es diese Verknüpfung auch, zum Beispiel durch Empfehlungen der Strahlenschutzkommission.

Kassel: Ich erinnere mich auch an Bilder, ich glaube, aus Westberlin damals. Ich war damals noch relativ jung, wo Politiker auf einem Marktplatz Salatköpfe gegessen haben, um zu beweisen, dass die nicht verstrahlt sind. Es gab da auch das, was man heute so ein bisschen Symbolpolitik nennen würde.
Arndt: Solche Demonstrationen der Ungefährlichkeit gab es auch in anderen Ländern, zum Beispiel in der Türkei, wo der Premierminister sich hinstellte und ein Glas Tee genoss, der Tee, der besonders verstrahlt war, und sagte, hier, das ist alles sehr gut, und es steigert sogar die Potenz. Man hat wirklich versucht, nach außen zu demonstrieren, das ist alles gar keine Gefahr.

In der Reihe "Leben in Ausnahmesituationen" führen wir in dieser Woche Gespräche über den Ausbruch des Vulkans Tambora auf der indonesischen Insel Sumbawadie 1815, die Spanische Grippe 1918, die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, den Finanzcrash von 2008, den Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull 2010 und wir blicken nach Mogadischu, wo islamistische Milizen seit Jahrzehnten die einheimische Bevölkerung terrorisieren.

Was die Salatköpfe anbetrifft, da haben Sie völlig recht, ein großer Teil davon landete übrigens im Osten. Der Salat, den die Westberlinerinnen und Westberliner nicht mehr essen wollten, der ist in die DDR gegangen, und grüner Salat und grüne Gurken im April noch dazu in staatliche Einrichtungen, wie Kindergärten oder Kantinen. Das war sehr ungewöhnlich für die Mangelwirtschaft. Das hat viele im Osten natürlich stutzig gemacht, zumal sie im Westradio von dem Unfall gehört hatten, und es gab in der DDR Menschen, die dachten, der Westen übertreibe maßlos. Solche Tendenzen kann man ja auch heute durchaus beobachten.

Wenig Information durch die Sowjetunion

Kassel: Wenn wir das mit dem Heute mal vergleichen – es war ja auch damals für beide deutschen Staaten ein großes Problem, dass die Informationspolitik der Sowjetunion nicht so ganz offen war, gerade am Anfang der Katastrophe. Heute haben wir zum Beispiel Zweifel daran, ob die Zahlen und die Meldungen, die uns aus China erreichen, alle vollkommen korrekt sind. Da gibt es eine Vergleichbarkeit. Das, was aus Moskau kam – damals war die Ukraine ja Teil der UdSSR –, das, was aus Moskau kam, hat sicherlich eher zur Verunsicherung beigetragen.


Arndt: Ganz definitiv, und auch in den Staaten des sogenannten Ostblocks, auch in der DDR hat man im Grunde über den Umweg aus dem Westen zuerst über die Katastrophe erfahren, da hat nicht die Sowjetunion informiert, und das hat natürlich tatsächlich zu einer sehr großen Verunsicherung geführt, dass die Sowjetunion sehr langsam Informationen rausgelassen hat, dass man versucht hat, tatsächlich das Ganze sehr stark herunterzuspielen.
Ein Kinderbett in Prypjat, einer Geisterstadt in der Ukraine, die 1970 im Zusammenhang mit dem Bau des Kernkraftwerks Tschernobyl gegründet und infolge des Reaktorunglücks von 1986 geräumt wurde. Zum Zeitpunkt der Katastrophe am 26. April 1986 wohnten dort fast 50.000 Menschen.
Ein Kinderbett in der Stadt Prypjat, die infolge des Reaktorunglücks geräumt wurde.© picture alliance / Geisler-Fotopress
Darauf natürlich haben die Gesellschaften, sowohl in Ost als auch in West, reagiert, haben versucht, sich auf ihre Art und Weise Informationen zu beschaffen, was im Westen natürlich sehr viel einfacher war als im Osten, aber im Osten wiederum war das dann tatsächlich ein Schub für die Umwelt und für die Bürgerrechtsbewegung, die dann versucht hat, Literatur zu schmuggeln, an Informationen ranzukommen und die innerhalb der Grenzen der DDR auch zu verbreiten.

Reaktorunfall? Kann im Westen nicht passieren!

Kassel: Viele, viele Jahre später hat eine Reaktorkatastrophe, die ungefähr zehnmal so weit weg war, Fukushima natürlich, in der Bundesrepublik tatsächlich zum endgültigen Atomausstieg geführt. Diese Katastrophe damals hat nicht nur die DDR, die das Ganze ja so auch gar nicht wahrhaben wollte, sondern auch in der Bundesrepublik nicht solche Folgen nicht gehabt – aber sie wird doch die Einstellung zur Kernenergie trotzdem verändert haben damals, oder?
Arndt: Die Einstellung hat sie tatsächlich verändert, weil die Katastrophe tatsächlich dieses sogenannte Restrisiko zur Realität hat werden lassen, und damit, dass die Wahrscheinlichkeit eines GAUs, eines größten anzunehmenden Unfalls, verschwindend gering sei, konnte man jetzt bei sehr vielen Menschen nicht mehr punkten. In vielen Ländern des Westens sackte die Unterstützung für die Atomenergienutzung wirklich in den Keller, Pläne zum Bau von neuen Reaktoren verschwanden in Schubläden, Italien verabschiedete sich schon damals ganz von der Atomenergie. Die warteten nicht auf Fukushima.
Aber wie so oft in der Geschichte von Katastrophen, die Wirkung war nur von begrenzter Dauer, und schon bald gewann so eine verdrängende Normalität wieder die Oberhand, zumal man sich damals darauf berufen konnte, was westliche Regierungen auch sehr gern taten, dass der Unfall in der Sowjetunion passiert war, dass so etwas in einer Demokratie im hoch technologisierten Westen einfach nicht passieren könnte, weil die Reaktoren dort sicher seien. Das änderte sich dann tatsächlich erst nach Fukushima.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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