Folgen der Pandemie

Ein Leben um die Couch herum

04:47 Minuten
Eine goldenes Sofa in einem Raum.
Während wir heldenhaft zu Hause gegen das Virus kämpften, baute Silicon Valley die Gesellschaft um, beschreibt Roberto Simanowski die Lage. © unsplash / Julien Tondu
Beobachtungen von Roberto Simanowski · 10.06.2021
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Wie war das, als Covid-19 uns überfiel? Viele, die nie einen Krieg erlebt hatten, darunter Politiker, benutzten nun militärisches Vokabular. Kehren wir nach "Kriegsende" zum alten Leben zurück? Wohl kaum, meint der Kulturphilosoph Roberto Simanowski.
Die Regierung versprach das Gedenken der Opfer, ohne das kein Krieg funktioniert. Sie lancierte Videos, in denen sich Kriegsveteranen an ihre Heldentaten erinnern, damals, in den Zeiten der Pandemie: "Tage- und nächtelang blieben wir auf unserem Arsch zu Hause und kämpften gegen die Ausbreitung des Coronavirus. Unsere Couch war die Front, und unsere Geduld war die Waffe."

Ranker David oder verfetteter Covid

Das war romantisierend und lebensfremd zugleich. Denn die eigentliche Heldentat bestand ja nicht darin, dass man Couch-Potato ist, sondern dass man es ohne Folgen gewesen war.
Schon während des ersten Lockdowns im April 2020 kursierte im Netz ein Mem, das links Michelangelos berühmte Figur David zeigte und rechts eine Skulptur in gleicher Pose, aber völlig verfettet, mit dem Namen Covid.
Was auch immer diesen Covid so verunstaltet hatte, das geschlossene Fitnessstudio, die Chips vorm Fernseher oder das einsame Trinken, klar war: Am Ende des Lockdowns, wenn man sich in der Wirklichkeit wiedersah, wollte man nicht Covid sein, sondern David.

Hat die Entschleunigung zur Selbstfindung geführt?

Die Frage, wie man aus der Pandemie herauskommt, ist nun, da ihr Ende naht, doppelt interessant. Hat die Entschleunigungserfahrung wirklich zur Selbstfindung geführt?
Die Stubenhockerei jedenfalls, die in den Regierungsvideos verklärt wird, erinnert an das Lob des Sofas von Siegfried Kracauer vor 100 Jahren in der "Frankfurter Zeitung", nach der Spanischen Grippe, inmitten der Goldenen Zwanziger: Die Welt ist so geschäftig, schrieb Kracauer, dass man gar nicht mehr zu sich gelange, weswegen es am besten ist, an sonnigen Nachmittagen nicht auszugehen, sondern auf dem Sofa sich der Langeweile auszuliefern.
Denn die Langeweile, so Kracauers Pointe, ist "die einzige Beschäftigung, die eine Gewähr dafür bietet, dass man noch über sein Dasein verfügt."

Corona hat die Digitalisierung beschleunigt

Eine solche Weltverachtung ist freilich keine akzeptable Alternative zur Heldenrhetorik der Regierungsvideos. Immerhin soll das Volk nach dem Lockdown nicht freiwillig daheimbleiben, sondern wieder "geschäftig" sein: in den Einkaufscentern, in den Restaurants, in den Vergnügungsstätten und gern auch in den Kulturveranstaltungen.
Es soll schon alles wieder so sein, wie es vorher war. Dabei ahnen wir bereits, dass vieles keineswegs mehr so sein wird wie früher, nicht einmal das Einkaufen oder Kino-Gehen.
Bei aller Entschleunigung des Lebens, Corona war zugleich ein vehementer Beschleuniger der Digitalisierung. Wir alle spüren das: Homeoffice, Homeschooling, Bildschirmmeetings, Onlineshopping, Netflix-Kino.

Silicon Valley baute inzwischen die Gesellschaft um

Um es mit einer berühmten kulturpessimistischen Metapher zu sagen: Bisher glichen wir dem Frosch im Wasserglas, der nicht springt, weil es immer nur ein bisschen wärmer wird, bis es so heiß ist, dass er nicht mehr springen kann.
Corona aber erhitzt das Wasser mit einem Schlag um 20 Grad – und legt zugleich einen Deckel aufs Glas. Denn wie wollte man sich gerade jetzt gegen das Digitale wenden, jetzt, da die physische Distanz, die es versprach, so nötig war zum Überleben!
Anders gesagt, und das ist der blinde Fleck der regierungsamtlichen Durchhaltevideos: Während wir heldenhaft zu Hause gegen das Virus kämpften, baute Silicon Valley die Gesellschaft um. Als wir unsere Wohnungen wieder verlassen konnten, pfiffen es schon die Spatzen vom Dach: Digital ist das neue Normal.

Warum noch die Couch verlassen?

Ohne Frage: Die Nachkriegszeit gehört der Digitalisierung. Diese wird, durch Corona beschleunigt, unser Leben mehr und mehr bestimmen. Ob das gut ist oder schlecht, wird man später wissen.
Vorerst aber gilt gegen Kracauers Sofa-Exil: Die Welt braucht unser Interesse, wenn wir sie nicht verlieren wollen. Wir sollten hinausgehen, so oft wie möglich, in die Cafés und Läden und Restaurant um die Ecke, um diese so geschäftig zu halten, dass sie ihrem digitalen Konkurrenten widerstehen können.
Andernfalls stellt sich die Frage der Couch vollkommen neu: Warum sollte man diese verlassen, wenn die Welt sich mit der Umtriebigkeit eines Start-ups immer stärker um die Couch herum ereignet.

Roberto Simanowski ist Kultur- und Medienwissenschaftler und lebt nach Professuren an der Brown University in Providence, der Universität Basel und der City University of Hong Kong als Medienberater und Buchautor in Berlin und Rio de Janeiro. Zu seinen Veröffentlichungen zum Digitalisierungsprozess gehören "Facebook-Gesellschaft" (Matthes & Seitz 2016) und "The Death Algorithm and Other Digital Dilemmas" (MIT Press 2018).

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