Nach der Pandemie

Was von Corona bleibt

06:56 Minuten
Illustration: Männer mit Masken treffen sich und machen Elbow Bump
Der Elbow Bump könnte als neue Begrüßungsform die Coronakrise überdauern. © imago / Ikon Images / Gary Waters
Von Anastasija Roon · 27.05.2021
Audio herunterladen
Kein Händeschütteln und keine Umarmungen mehr zur Begrüßung, dafür Masken in Bus und U-Bahn: Manche Gepflogenheiten werden wir auch nach der Coronapandemie beibehalten, vermuten Psychologen und Soziologen. Erst einmal jedenfalls.
Eine Kugel mit vielen kleinen Zacken. Ein Bild, das uns seit 16 Monaten begleitet – als Foto, Karikatur, Zeichnung, Animation. "Corona – mit dieser kleinen Grafik hat es so etwas Materielles bekommen", sagt die 38-jährige Nora Niethammer. "Ich glaube schon, dass man dann oft denkt, wenn jemand hustet: Ich sehe förmlich diese kleinen Bällchen da auf mich zu fliegen. Es ist so darstellbar geworden."
Nora lebt gern allein, ist aber genauso gerne unter Leuten. Vor der Pandemie hat sie sich über Keime und deren Verbreitung wenig Gedanken gemacht. Corona hat ihren Blick auf Körper verändert. "Wir sind plötzlich alle zu Virenträgern geworden. Plötzlich habe ich ein Bewusstsein dafür: Ich bin auch vielleicht eine Gefahr für andere."
Dass wir uns durch die Pandemie künftig weniger als Personen und mehr als Überträger von Krankheiten wahrnehmen könnten, war vor allem im Zusammenhang mit den ersten Lockdowns und Hygienevorschriften eine oft gehörte Kritik. War das berechtigt?
"Ich sehe jetzt nicht, dass sich die Wahrnehmung von anderen – so im Sinne von: das sind alles jetzt potenzielle Gefährder – so krass im normal psychologischen Bereich verändert hätte", sagt Karl-Heinz Renner, Professor für Persönlichkeitspsychologie und Psychologische Diagnostik an der Universität der Bundeswehr in München.

Gewöhnung ans Maskentragen

Trotzdem tragen wir in öffentlichen Räumen inzwischen ganz selbstverständlich Masken, beobachtet der Soziologe Jan Wetzel vom Wissenschaftszentrum Berlin. "Am Anfang der Krise durfte man noch Artikel lesen: Mit diesen Masken, das wird bei uns niemals funktionieren. Die Leute in Asien haben eine ganz andere Kultur, da ist das mit den Masken üblich. Aber wir hier in Europa: Niemand wird diese Masken tragen!"
Anderthalb Jahre später, so Karl-Heinz Renner, können sich allerdings immer mehr Menschen vorstellen, "dass das Maskentragen in Zukunft – auch gerade in den Wintermonaten – in bestimmten öffentlichen Räumen, wie zum Beispiel in der U-Bahn, normaler werden wird. Dass wir das auch in den nächsten Jahren noch praktizieren werden. Einige Ärzte fordern das geradezu, nachdem jetzt auch die Grippeinfektionen stark zurückgegangen sind."
Es wäre nicht das erste Mal, dass sich die Etikette in Bus und Bahn auf Grund wachsenden Gesundheitsbewusstseins ändert. Jan Wetzel erinnert an das Rauchverbot in Zügen. "Das hat man heute schon völlig vergessen. Heute kommt einem Rauchen im Zug völlig irre vor. Das ist so ein Beispiel, wo man sich das vor Augen führen kann, wie sowas sich ändert."

Rad statt Bus und Bahn

Manch einer hat während der Pandemie ganz auf Bahn und Bus verzichtet und ist auf das Rad umgestiegen. Auch solche neuen Routinen könnten bestehen bleiben. "Und zwar nicht, weil ich immer noch Angst habe vor dem Virus, sondern weil ich jetzt einen guten Radweg habe – und keine Angst mehr vor den Autos haben muss. Wenn man sagt, wir haben einen positiven Nutzen auch über den Seuchenschutz hinaus."
Anderes Beispiel: Umgangsformen im Alltag. "Ich merke, das Händeschütteln fehlt mir überhaupt nicht mehr. Das ist für mich wie so eine Kulturtechnik geworden, die jetzt einfach verschwunden ist." Besonders stark, vermutet Karl-Heinz Renner, könnte die Coronakrise beeinflussen, wie viel Nähe oder Distanz wir im öffentlichen Raum für angemessen halten.
"Da sind eigentlich Missverständnisse und Irritationen programmiert. Gerade, wenn man sich jetzt so einen extrovertierten Menschen vorstellt, der spontan ist und gesellig und dann auf so einen introvertierten oder emotional instabilen zugeht, der aber noch ängstlich und zurückhaltend ist, dann kann es zu einem ‚persönlichkeitsbedingten Missmatch‘ kommen."
In der Soziologie werden solche Situationen in sogenannten Krisenexperimenten untersucht. Wer zum Beispiel von Menschen, mit denen er oder sie normalerweise per Du ist, plötzlich gesiezt wird, reagiert in der Regel verstört.
"Das haben wir bei Corona an ganz vielen Stellen gesehen", sagt Soziologe Wetzel. "Sich einfach nah beieinander zu setzen in der U-Bahn oder sich einfach zu umarmen, wenn man sich trifft – die normalsten Dinge der Welt –, sind plötzlich in eine Krise geraten, weil sie hinterfragt wurden und man das nicht mehr so genau wusste. Plötzlich hat man über Interaktion, über diese ganzen Details nachgedacht."
Solchen "Krisen" könnten durchaus eine Weile zum Post-Corona-Alltag gehören – zwischen Introvertierten und Extrovertierten, mehr oder weniger besorgten oder gefährdeten Menschen oder zwischen Generationen. Je nachdem, wer in welchem Ausmaß von den notwendigen Verhaltensänderungen profitiert oder eben unter ihnen gelitten hat.

Mehr Aufmerksamkeit füreinander

Um die Krisen zu überwinden, hilft: Aufmerksamkeit füreinander. "Wenn man gerade extrovertiert ist, sich auch schon bewusst zu machen: Es ist nicht jeder so offen für Umarmungen, wie man selbst, und da dann vielleicht etwas vorsichtiger zu sein", so der Psychologe Karl-Heinz Renner. "Generell würde ich aber eher aus psychologischer Sicht die Empfehlung geben, dass man nachsichtig miteinander umgeht – und dass man auch nicht gleich beleidigt ist, wenn mal jemand die Hand nicht nimmt. Und irgendwann wird sich das dann sicherlich alles wieder auf ein normales Maß einpendeln."
Zudem rät Karl-Heinz Renner, in der nächsten Pandemie nicht mehr auf "Social Distancing" zu setzen, "weil es eigentlich in einer Pandemie nicht um soziale Distanzierung geht. Im Gegenteil, es geht um physische Distanzierung. Also, wir müssen physisch Abstand halten, nicht sozial. Ich würde es eher so sehen, dass im günstigen Fall natürlich physisch Abstand gehalten wird, aber man alles versucht, um sozial in Kontakt zu bleiben, gerade mit Freunden und Familienmitgliedern."
Nora Niethammer ist das bereits gelungen. "Ich war vor Corona kein besonders großer Fan des Telefonierens zum Beispiel", erzählt sie. "Das ist auch was, was ich jetzt einfach spüre, dass ich dazu ein ganz anderes Verhältnis bekomme. Also ich habe eine gute Freundin, die habe ich immer in so unregelmäßigen Abständen getroffen. Und irgendwie sind wir so Pandemie-Buddys geworden. Inzwischen ist es so, dass wir oft zweimal die Woche, mehrere Stunden am Abend miteinander sprechen."
Mehr zum Thema