Flüchtlinge in Niedersachsen

Barnstedter zeigen Zivilcourage

Gemütliches Barnstedt: Junge Frau sitzt auf einem Fensterbrett mit Wolldecke und Kaffeetasse in der Hand
Gemütliches Barnstedt: Junge Frau sitzt auf einem Fensterbrett mit Wolldecke und Kaffeetasse in der Hand © Imago / Imagebroker
Das niedersächsiche Barnstedt beheimatet 700 Bürger, einige haben eine Bürgerinitiative gegründet. Die Dorfbewohner helfen Flüchtlingen - Gastfreundschaft ist in Barnstedt Konsens.
Vera Geldmacher und ihr Mann Egbert Bolmerg sind zu Besuch bei ihren Nachbarn. Kinderstimmen dringen aus dem ehemaligen Gasthof aus rotem Backstein, der den Afrikanern als Unterkunft dient.
Egbert Bolmerg: "Hallo Sami!"
Vera Geldmacher: "Und hier versteckt sich eine kleine Maus, die heißt Rawa! Rawa hat hier eine kleine Schwester bekommen, die heißt Fatma. Bei der Geburt war ich mit dabei!"
Die kleine Küche ist so vollgestellt mit Tischen, Stühlen, Getränkeflaschen und Konserven, dass man sich kaum darin umdrehen kann. An der Anrichte steht Ibrahima. Sie heißt eigentlich anders, will ihren richtigen Namen wegen des laufenden Asylverfahrens jedoch nicht im Radio hören. Ibrahima braut Tee mit reichlich Zucker und Kardamon.
Bolmerg schaut zu, wie seine Frau durch Ibrahima´s Schleier hindurch Wangenküsse im runden Gesicht der Sudanesin verteilt. Der drahtige Endfünfziger erinnert sich noch gut, was ihm durch den Kopf ging, damals, im November 2013, als die Flüchtlinge kamen.
Egbert Bolmerg: "Bei mir war zunächst ´ne große Verunsicherung, weil ich gar nicht einschätzen konnte, was sind das für Menschen? Was erwarten die? Was können wir denen bieten? Wie soll ich denen gegenübertreten? Muss man gleich mit Hilfeleistungen kommen? Kulturelle Unterschiede? Ich habe eigentlich nur Fragezeichen gehabt."
Auch Vera Geldmacher dachte damals an die Bilder elend ertrunkener Bootsflüchtlinge, an die gezeichneten Gesichter der Überlebenden. Wie viele Menschen haben die Schlepper wohl hinaus auf das Meer gefahren und dort ihrem Schicksal ausgeliefert?
Vera Geldmacher: "Wir waren betroffen von der Situation der Flüchtlinge weltweit und hatten uns fest vorgenommen, zu helfen. Das war für uns selbstverständlich. Was würde das denn für uns bedeuten, wenn wir jetzt mit Abwehr diesen Menschen begegnen würden? Für mich wäre es unerträglich!"
In der Dorfgemeinschaft ist die Gastfreundschaft Konsens, sagt Geldmacher wie beiläufig – und versenkt einen weiteren Zuckerwürfel in ihrer Teetasse. Gerade die Älteren seien für ihre zupackenden Initiativen bekannt. Nach dem Krieg waren hier schon einmal Flüchtlinge auf engstem Raum mit Kind und Kegel einquartiert.
Vera Geldmacher: "Die Überlegung war dann, erst mal einfach hinzugehen und zu fragen, wie es ihnen dort geht, ob sie Hilfe benötigen. Und das war dann höchst einfach! Als wir dann wirklich losgegangen sind, haben wir einfach geklingelt - und sofort wurde die Tür geöffnet, wir wurden hineingewunken."
Lehrer geben den Flüchtlingen Deutschunterricht
Auch Jens Thomsen gesellt sich jetzt dazu. Er macht mit bei der Bürgerinitiative. Vor elf Jahren ist der Werber aus Hamburg in das von allem weit abgelegene Barnstedt mit seinen kaum mehr als 700 Einwohnern gezogen. Im Einsatz für die Flüchtlinge seien sie alle zusammengerückt, meint er.
Jens Thomsen: "Dieser Prozess, der jetzt gerade stattgefunden hat, hat mich persönlich sehr viel mehr ins Dorf reingebracht als ich vorher drin war. Es hat Zweierlei stattgefunden: Es hat einmal die Verbindung mit Leuten, die aus der Welt hier hergekommen sind, stattgefunden und innerhalb der dörflichen Gemeinschaft hat auch nochmal ein Prozess zu mehr Nähe und Nachbarschaftlichkeit stattgefunden."
Thomsen erzählt vom Lehrer-Ehepaar, das den Afrikanern zweimal die Woche Deutschunterricht gibt, während andere Dorfbewohner die Kinder hüten. Und von seinen sonst so schweigsamen Nachbarn. Die aus ihrem Bett gesprungen sind, als eine verzweifelte Mutter aus dem Flüchtlingsheim eines Nachts an der Tür klingelte, ihr fieberndes Kind auf dem Arm.
Jens Thomsen: "Wo es überhaupt kein Vertun gab. Und man fuhr dann nachts mit denen ins Krankenhaus. Das sind etwas zurückhaltende Menschen, so im normalen Alltag. Und das fand ich großartig!"
Er fühle sich willkommen in Barnstedt, sagt Omar. Dennoch würden die Flüchtlinge lieber in der nächstgelegenen Stadt Lüneburg wohnen. Der Sudanese ist Jahrgang 1977. Auch er hat eigentlich einen anderen Namen.
Omar: "Das Problem ist, dass wir hier in Barnstedt keinen Supermarkt zum Einkaufen haben. Es gibt auch keinen Arzt. Wenn es akut wird, müssen wir bei den Nachbarn klopfen und die damit belästigen. Wir haben kein Internet. Und wenn wir mit unseren Angehörigen telefonieren wollen, dann hilft es, auf einen Hügel zu steigen."
Zum Nichtstun verurteilt
Auch Ibrahima erzählt von Streitereien und drangvoller Enge im Haus. Dazu kommt die Ungewissheit der vorerst nur Geduldeten, die Sorge um ihren Mann, von dem sie keine Nachricht hat, seit die Familie in Libyen getrennt wurde. Da waren der Strand, die Boote, die Milizen ...
Ibrahima: "Wir sind in einem Boot gelandet. Ich war damals im vierten Monat schwanger. An meinen Armen rechts und links klammerten sich meine beiden älteren Kinder fest. Das Wasser drang von unten durch die Planken empor, die Wellen brandeten heran, Schüsse fielen aus allen Richtungen. Ich wünsche keinem Menschen, dass er solches erlebt!"
Dass sie an ihrem Fluchtpunkt Deutschland zum Nichtstun verurteilt sind, belastet die Menschen besonders. Auch hier versucht die Bürgerinitiative zu helfen. Die verlassene Tischlerwerkstatt will man beleben, um den jüngst Zugezogenen eine Berufsausbildung zu ermöglichen. Ein Bauer hat den Afrikanern ein Stück seines Ackers überlassen, damit sie zur Selbstversorgung Kartoffeln und anderes Gemüse anbauen können. Und drei ältere Flüchtlingskinder helfen schon mit bei der Freiwilligen Feuerwehr von Barnstedt.
Egbert Bolmerg: "Ich glaube, dass die Staaten, die im Moment die Asylbewerber oder Flüchtlinge, ne nach Status, aufnehmen, also Italien und Griechenland und so, wesentlich größere Probleme zu bewältigen haben, als wir, die wir mitten in Europa sind. Ich glaube schon, dass wir in der Bundesrepublik mit ein bisschen Phantasie und mit einer anders ausgerichteten Politik dann auch einiges bieten könnten."
Egbert Bolmerg sitzt im Rat der kleinen Samtgemeide Ilmenau, zu der auch Barnstedt gehört. 55 Flüchtlinge haben sie insgesamt aufgenommen. Beachtlich sei das, sagt der Kommunalpolitiker zum Abschied. Die deutsche Diskussion um Flüchtlingskontingente und die Grenzen der Belastbarkeit beschämt ihn gleichwohl.
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