Flucht vor der Liebe

06.06.2007
In Jean-Philippe Toussaints Roman "Fliehen" versucht die Hauptfigur genau das: Fliehen vor dem Scheitern einer Beziehung, und das möglichst weit weg. Im Zug von Peking nach Schanghai lernt der Franzose gerade eine schöne Chinesin kennen, als seine Exfreundin Marie ihn anruft und vom Tod ihres Vaters erzählt. Und schon ist er wieder gefangen in Liebe zu ihr.
Es gibt sie noch, die französischsprachigen Romane, die von der Liebe handeln und damit unsere Vorstellung von Frankreich als dem Land der Liebe und der Leidenschaft bestätigen. Freilich haben wir es im Falle von Jean-Philippe Toussaint mit einem Belgier zu tun, der auch noch die meiste Zeit des Jahres auf Korsika verbringt.

Aber er veröffentlicht doch in Frankreich in einem durch und durch klassisch französischen Verlag, nämlich in den Editions de Minuit, wo seit 1945 alle diejenigen publizieren, die Rang und Namen haben, und er ist auch in seiner Herkunft aus der Tradition des Nouveau Roman ein durch und durch französisches Gewächs.

Für eine immer größer werdende Gemeinde ist Toussaint, der dieses Jahr 50 wird, seit dem Erscheinen seiner beiden Romane "Das Badezimmer" und "Der Photoapparat" darüber hinaus eine Art Kultfigur, und die Einschränkung "eine Art" erklärt sich eigentlich auch nur dadurch, dass er sich im Pariser Literaturbetrieb rar macht und überhaupt die Öffentlichkeit eher meidet als sucht. Wäre dies anders, man könnte sich ihn durchaus als Sprachrohr seiner Generation vorstellen, als eine Art repräsentativen "78er", wie man in Deutschland sagen würde.

Zum Profil des 78ers gehört die Bevorzugung des Privaten, Intimen, ja Idiosynkratischen und damit, rundheraus gesagt, das Desinteresse an der politischen Sphäre, gehört auch eine gewisse Vorliebe für den "culte du moi", wie Maurice Barrès das zu Beginn des vorigen Jahrhunderts genannt hat. All dies findet man auch in dem neuen Roman "Fliehen" wieder, für den Toussaint vor zwei Jahren den Prix Médicis bekam. Er stellt gewissermaßen eine Fortsetzung des Vorgängertitels "Sich lieben" dar.

Der Held, ein namensloser Mann in den mittleren Jahren, der als Eigenbrötler um den Globus trottet und den es in "Fliehen" nach Shanghai verschlägt, ist in Gedanken und Träumen immer noch an eine gewisse Marie gekettet, die er in "Sich lieben" an sich zu binden versucht hatte, was aber auf die Dauer nicht zu machen war. Diese Marie nämlich ist als business woman in der Modebranche zu beschäftigt, zu tatendurstig, aber auch zu außengeleitet, um sich richtiggehend auf den namenlosen Ich-Erzähler einzulassen. Doch auf ihre Weise hängt sie durchaus noch an ihm.

Und als zum Beispiel ihr Vater stirbt, ruft sie als erstes ihren Verflossenen in Shanghai an, per Handy natürlich, wie sich das für eine vielbeschäftigte Frau von heute gehört, aber doch originellerweise aus dem Louvre, in den sie sich gerade zurückgezogen hat, um Trauerarbeit zu leisten - ein Zugeständnis an die Welt der Künste, der Gedanken, Phantasien, Träume, wie der Autor es interpretiert, und also auch ein Zugeständnis an ihn, was ihn freut und beglückt.

Andererseits platzt sie mit ihrem Telefonat mitten in seine Begegnung mit einer anderen Frau hinein, die sich in Shanghai gerade anbahnt, genauer gesagt in einer Zugfahrt von Shanghai nach Peking, und auf der der Ich-Erzähler und eine gewisse Li Qui sich nun näher kommen.

Der Roman, in dem übrigens nicht allzu viel passiert, besteht im Grunde darin, dass auf der einen Seite, wie in einer Reiseerzählung, die "äußere Welt" Chinas sehr präzis und mit vielen eher unerfreulichen Details beschrieben wird. Obwohl diese Details und überhaupt die Reiseeindrücke in ihrer chaotischen, oft unverständlichen Dramatik das ganze Denken und Handeln des Helden in Anspruch nehmen müssten, bricht sich der Gedanke an bzw. die Sehnsucht nach Marie doch immer wieder Bahn.

"Fliehen" handelt im Grunde davon, dass man nicht fliehen kann, nicht davonlaufen kann vor den großen Emotionen. Und die Liebe und Leidenschaft zu Marie ist die ganz große, alles beherrschende Emotion des Helden in diesem Roman. Wo er geht und steht, ob er in Drogengeschäfte verwickelt zu werden droht oder einfach nur touristisch Sehenswürdigkeiten besichtigt: alles grundiert der Gedanke an Marie. Eine Huldigung an die Liebe ist also dieser Roman, eine Huldigung an das große Irrationale im menschlichen Leben, gegen das letztlich nichts ankommt, mit dem letztlich nichts Schritt zu halten vermag. Ein sehr poetisches, subjektives und gefühlsintensives Buch ist dabei herausgekommen.

Rezensiert von Tilman Krause

Jean-Philippe Toussaint: Fliehen
Roman. Aus dem Französischen von Joachim Unseld
Frankfurter Verlagsanstalt 2007.
Gebunden, 168 Seiten. 19.80 Euro
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