Flucht aus Ostpreußen

"Wir waren auch nicht willkommen"

07:31 Minuten
Fuhrwerke und Gespanne ziehen an einem auf dem zugefrorenen Frischen Haff verendetem Pferd vorbei. Mit Schlitten, Pferdefuhrwerken oder zu Fuß traten die Flüchtenden die beschwerliche Reise in der Hoffnung an, von Danzig aus eine sichere Transportmöglichkeit Richtung Westen zu bekommen. Die oft als "Leidensweg der Ostpreussen" bezeichneten Trecks forderten wegen des strengen Winters sowie Tiefflieger- und Luftangriffen unzählige Opfer.
Vor den herannahenden Truppen der Roten Armee flohen im Winter 1944/45 große Teile der ostpreussischen Bevölkerung aus dem Samland und um die Stadt Königsberg über das zugefrorene Frische Haff in Richtung Danzig. © picture alliance / dpa / Krause
Von Linda Gerner · 13.05.2019
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Jahrzehntelang war ihre Flucht 1944 aus Ostpreußen für die 79-jährige Elfriede Schneider kein Thema. Erst als 2015/16 die vielen Flüchtlinge nach Deutschland kamen, wurde die Erinnerung wieder geweckt. "Jetzt kommt das alles wieder hoch."
Ein Wintergarten mit vielen Pflanzen in Heiligenhaus, Nordrhein-Westfalen. Die 79-jährige Elfriede Schneider sitzt in ihrem blauen Sessel und hält Schwarzweiß-Fotos in den Händen. Die Bilder zeigen sie und ihre Schwester als kleine Mädchen auf einem Feld. Auf anderen sieht man Kühe und ein Bauernhaus.
Seit über 70 Jahren lebt Elfriede Schneider in der Kleinstadt Heiligenhaus. Sie geht hier zur Schule, macht eine Ausbildung zur Kauffrau und lernt ihren Mann Hans kennen. Vier Töchter zieht sie hier groß, zwei von ihnen leben auch heute noch in dem kleinen Ort.
In den Weihnachtstagen ist das Haus der Familie Schneider gefüllt mit Besuchern, ihre acht Enkelkinder schauen vorbei. Seit zwei Jahren ist Elfriede Schneider auch Uroma. Sie ist in Nordrhein-Westfalen verwurzelt. Doch als sie als Kind nach Heiligenhaus kam, war sie unerwünscht. Ein Flüchtling aus Ostpreußen.
"Da standen Leute aufm Bahnsteig. Und als dann eine Tür aufging von dem Zug, als er angehalten hatte, schrie gleich jemand: 'Türen zu. So'n Pack wie ihr, dat wollen wir hier nicht.' Und das waren deutsche Flüchtlinge, die da drinnen saßen."

"Dann hatten wir zwei Papis"

Ihre ersten sechs Lebensjahre verbringt Elfriede Schneider nicht im Niederbergischen Land, sondern in dem ehemaligen Bauerndorf Sodehnen. Heute ist das der russische Ort Krasnojarskoje. Mit ihren Großeltern, ihrer Mutter und ihrer jüngeren Schwester Ulla lebt sie auf einem Selbstversorgerhof.
"Wir sind aus dem Teil, der jetzt Russland ist. Muss man ja sagen. Aus Sohdehnen. Aber über Land. Wir hatten da einen kleinen Bauernhof."
Ihren Vater kennen die Schwestern damals kaum. Er ist im Krieg in Russland.
"Der war fremd für uns. Die kamen dann, wenn sie mal Heimaturlaub hatten, in Uniform. Wir kriegten dann gesagt: Das ist eurer Papi. Aber was ist Papi? Konnten wir uns überhaupt nichts drunter vorstellen. Und Ulla war ja anderthalb Jahre jünger als ich, und auf einmal kam sie reingerannt: Mutti, Mutti, es ist noch ein Papi gekommen. Da kam ein Nachbar, der auch Heimaturlaub hatte, bei uns auf den Hof und, ja, dann hatten wir zwei Papis."

Die Familie muss alles zurücklassen

Trotz des Vorrückens der Roten Armee war es von den Nazis verboten, aus Ostpreußen zu fliehen. Als die Familie es dann im Winter 1944 darf, muss es schnell gehen. Der Pferdewagen wird erst mit dem Nötigsten bepackt, als die sowjetischen Truppen schon zu hören sind. Berichte über Massenvergewaltigungen von Frauen und Mädchen und Ermordungen bei Ortseinnahmen der Roten Armee hat Elfriede erst viel später gelesen. Sie glaubt jedoch, dass ihre Mutter darüber Bescheid wusste. Heute wird häufig vom "Massaker von Nemmersdorf" gesprochen – ein Nachbarort des früheren Sodehnen. Die Familie flieht und lässt alles zurück.
"Ich weiß, dass der Wagen gepackt wurde. Meine Oma und meine Mutter, die rannten nur hin und her und haben Sachen geschleppt, rauf auf den Wagen. Pferde davor. Wir haben alle drei Pferde mitgenommen, falls mal eins ausfällt. Und irgendwann waren wir dann im Treck. Ich weiß nicht, wir hatten natürlich kein Telefon damals, einige Großbauern hatten sowas, wie sich das dann über Land wie ein Lauffeuer rumgesprochen hat, wir müssen weg, weil man ja schon die Schüsse hörte. Und dann musste das ganz, ganz schnell gehen. Und ab."
Elfriedes Mutter ist damals schon klar: Der Abschied von ihrem Bauernhof, ihrem Zuhause in Sohdenen ist nicht einer auf Zeit.
"Das war natürlich schrecklich. Die weinten, die beiden. Meine Mutter hat nie von Zuhause gesprochen. Aber die Oma ganz viel: 'Ja, aber wir können sicher bald wieder nach Hause, zuhause haben wir das und das.'."

Die Alten wollten die Pferde nicht alleinlassen

Der Flüchtlingstreck erreicht schließlich nach kalten Tagen und Nächten auf den Pferdewagen den heute polnischen Ort Quittainen.
"Irgendwann hieß es dann, es fährt endlich ein Zug nach Westen. Und die jungen Frauen haben dann gesagt: 'Kinder nehmen, das Wichtigste nehmen für unterwegs. Jedes Kind einen dicken Pullover an und einen Pullover in Reserve und in einem kleinen Koffer, das Wichtigste: Erstmal zu essen.' Ja, die alten Leute haben gesagt: 'Wir können die Pferde nicht alleine lassen und sind da geblieben.' Mein Opa hat das dann nicht überlebt. Und die Russen, als die dann da waren, die waren nicht gerade zimperlich mit den Leuten."
Nach 14 Tagen und Fahrten in teils offenen Lieferwagen kommt die Familie nach Naila. Der Ort liegt direkt hinter der Grenze zur Ostzone. Dort werden die ankommenden Flüchtlinge auf die Bevölkerung verteilt. Einen Sommer lang lebt Elfriede mit Ulla und ihrer Mutter im Herrenzimmer der fünfköpfigen Familie Spoerl. Dann steht plötzlich Otto, der Bruder von Elfriedes Vater, vor der Tür. Er holt sie nach Heiligenhaus. Sie kommen an.

Manche Flüchtlinge von früher lehnen die von heute ab

Lange Zeit war die Flucht aus Ostpreußen für Elfriede kein Thema mehr. Ihre Eltern sprachen mit den Kindern nicht darüber. Sie wollten nach vorne blicken, sich ein neues Leben aufbauen. Doch aktuell wird sie fast täglich daran erinnert:
"Durch die Flüchtlinge, die jetzt hier herkommen, kommt das alles wieder hoch. Im Laufe der Jahre war das alles in den Hintergrund getreten. Wir waren auch nicht willkommen, genau wie jetzt die Flüchtlinge. Bombenflüchtlinge. Ich bin der Meinung, dass man die nicht zurückschicken kann, um sich zerbomben zu lassen. Die haben ja gezeigt, wie die Orte aussehen, wo die herkommen. Die werden abgeschoben. Das fand ich von Anfang an unmenschlich.
Ich fürchte, das sind sogar welche, die selber Flüchtlinge waren, die jetzt sagen: 'Ich will keine.' Ich kenne einige, die sagen: 'Ausländer, egal welcher Sorte, will ich nicht.' Das kann ich nicht nachvollziehen. Ich bin Bewohner dieses Planeten, und mich interessiert, wie andere Menschen leben. Das ist so mehr meine Richtung."
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